Schamanismus, Zaubermärchen und Eigenerfahrung
Werner Zurfluh
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Einschlafen und dabei wach bleiben

Es waren letztlich Mythen und Märchen, die es mir ermöglicht haben, gewisse meiner nächtliche Erfahrungen in ihrem Wirklichkeitssinn für mich verstandes- und herzensmässig in Einklang zu bringen - und sie auf diese Weise mit dem inneren Erleben zu vereinbaren. Insbesondere das Schamanentum eröffnete mir den Zugang zum Erlebnis der "Ausserkörperlichkeit" (Synonyme), denn Schamanen waren offensichtlich in der Lage, ohne den geringsten Bewusstseinsverlust "Jenseitsreisen" zu unternehmen.

Am 11. Juli 1974 versuche ich beim Einschlafen bewusst in den 'Traumzustand' hinüber zu gleiten und einen Austritt durchzuführen, d.h. den Zweitkörper vom physischen Körper sozusagen abzulösen. Nach mehreren, sehr mühsamen Anläufen strenge ich mich nicht mehr weiter an, sondern lasse meinen Körper in die "Bewusstlosigkeit" des Schlafes absinken - und stehe plötzlich mitten auf einer Strasse. Ich bin mir aber meines Zustandes total bewusst und weiss, dass in diesem Moment der physisch-materielle Körper zu Hause im Bett liegt und schläft. ...

Erlebt das Ich die Einschlafphase des physischen Körpers und den daran anschliessenden "nächtlichen Erfahrungsbereich" bewusst, so ergibt sich daraus nicht nur eine enorme Bereicherung des Erfahrungsspektrums, sondern auch eine Fülle von Bedeutungsveränderungen in Bezug auf das Weltbild, die Weltanschauung und das eigene Leben im Alltag. Ein bewusstseinskontinuierliches Ich hat aufgehört zu träumen. Es verfügt - während der physische Körper schläft - über einen anderen Körper. Und dieser hat oft erstaunliche Fähigkeiten und kann sich in zuvor verborgen gebliebenen Wirklichkeitsbereichen bewegen. Dem Ich wird es sogar möglich, Aussagen der Totenbücher selbst prüfend zu bestätigen und die Welt der Mythen und Märchen authentisch zu erleben.

Ausserkörperliche Erfahrungen werden meist als Abnormität angesehen und sogar von Tiefenpsychologen als Entgleisung bezeichnet. Die Tatsache jedoch, «dass sich der Schamane bewusst in einen ekstatischen Zustand» versetzt, diesen also beherrscht und kontrolliert, «ist ein wesentliches Argument gegen die Behauptung, er sei ein blosser Epileptiker oder Hysteriker» (A. Stolz, Schamanen, Ekstase und Jenseitssymbolik, 1988 S. 18 (Hinweis von Monika Hamlascher, die auch sonst manche kritische Einwände vorgebracht und zu bedenken gegeben hat)). Dass es sich bei der "Ablösung des Phantomkörpers" um ein wesensbestimmendes, typisch menschliches Erleben handelt, das auch in vielen Zaubermärchen angesprochen wird, scheint kaum jemanden zu bekümmern - obwohl die ausserkörperliche Erfahrung (AKE) sogar für die metaphysische Standortbestimmung von grösster Bedeutung sein kann. Denn spätestens in der Todesstunde wird sie zu einem unabdingbaren Ereignis.

Wesentlich weniger dramatisch als der Tod ist natürlich sein "kleiner Bruder", der Schlaf. Wenn in der Einschlafphase des physischen Körpers das Ich-Bewusstsein erhalten bleibt, kann beinahe immer eine "Ablösung des Zweitkörpers" erlebt werden - die Kontinuität des Ich-Bewusstseins ist dann vorhanden, es gibt keinen Unterbruch der Bewusstheit.

In vielen Märchen - z.B. in "Die zertanzten Schuhe" (KHM 133) - darf im kritischen Augenblick unter keinen Umständen eingeschlafen werden. Sogar in jenen Märchen, in denen das wache Bewusstsein nicht ausdrücklich betont wird, zeigt das überlegte, situationsgerechte Verhalten der weiblichen und männlichen Figuren, dass sie die zauberische Welt mit wachem und klarem Bewusstsein betreten. Es ist für die Erlösung stets von grösster Bedeutung, «dass diese Person imstande ist, die Erinnerung an das Durchlebte zu bewahren» (Heino Gehrts, Von der Wirklichkeit der Märchen (Regensburg: Röth, 1992 S. 117)). Denn nur dank einer Erinnerung, die beide Bereiche umfasst - sowohl das Diesseits wie auch das Jenseits - können andere zu einer Bestätigung dieser Erinnerungen befähigt oder eventuell gezwungen werden.

Die Fähigkeit, einem anderen bewusst in dessen "nächtlichen" Erlebnisse zu folgen, ist ein schamanisches. Märchen symbolisieren dies «durch den Unsichtbarkeitsmantel oder -stab». Das Erinnerungsvermögen wird durch den Ranzen (Rucksack) ausgedrückt, «in den die Jenseitssouvenire hineingesteckt werden». Die Möglichkeit, bestätigende Erinnerungen zu wecken, verschafft der Märchenheld sich z.B. dadurch, «dass er jedesmal, wenn er sich eines Erinnerungszeichens bemächtigt - also etwa des Zweiges aus dem metallenen Jenseitswalde - die Prinzessin so erschreckt, dass sie an die Grenze ihres Wachbewusstseins gerät». Dieser Kunstgriff ist geradezu eine posthypnotische Suggestion (vgl. ibid. S. 118).

Ein "wachbewusstes Schlafen" (Hellschlaf) ist sowohl für den luziden Traum (Klartraum) als auch für die "Ausserkörperlichkeit" und für die schamanische Trance charakteristisch. Ein "wie tot daliegender Schamane" ist bewusstseinsmässig hellwach. Nur der physische Körper ist starr. Diese (kataleptische) Starre wird als Trance bezeichnet. Aber der Schamane als Ichperson ist keineswegs bewusstlos. Vielmehr reist er in seinem Zweitkörper in nicht-irdischen Bereichen. Dabei ist er sich dieser Tatsache voll bewusst. Er kann auch jederzeit darüber Auskunft geben. Es ist aber auch zu beachten, dass die kataleptische Starre nur ein besonderer Körperzustand ist. Schamanen können nämlich im Zustand der "Trance" auch tanzen, singen und beispielsweise in Versform beschwören.

In der tatarischen Heldensage «Kan Mirgän, Komdei Mirgän und Kanna Kalas» (Castrén, M.A. (Hg. A. Schiefner). Ethnologische Vorlesungen über die altaischen Völker nebst samojedischen Märchen und tatarischen Heldensagen. St. Petersburg: 1857) wird von Schamanen erzählt, die über ihren "ausserkörperlichen" Zustand bestens Bescheid wissen und sich an ihre eigene Identität und die soziale Stellung im Alltag erinnern. Aber gerade dies ist das Charakteristische der Bewusstseins-Kontinuität. Das Ich ist jederzeit fähig, die Wirklichkeitsebene zu erkennen, in der es existiert. Und es kann sie von anderen unterscheiden, denn es verfügt über ein stabiles und koordinationsfähiges Bewusstsein. Die emotionalen und kognitiven Funktionen sind ebenso intakt wie das Wahrnehmungsvermögen, die Lernfähigkeit und der sprachliche Ausdruck. Die Dinge können durchaus beurteilt werden - und dabei spielen auch gefühlsmässige Bewertungskriterien und intuitive Einsichten eine wesentliche Rolle.

Die tatarische Heldensage zeigt unmissverständlich, dass es menschliche Wesen gibt, die gewissermassen von Berufes wegen fähig sind, wachbewusst in verschiedenen Zustandsebenen zu leben. Dabei handelt es sich um Schamanen. Sie sind sowohl im "Sonnenland", im Alltag, als auch in der "Unterwelt", in der Welt des "Klartraumes" und der "Ausserkörperlichkeit" zu Hause - und sie wissen um die verschiedenen Ebenen. Schamanen leben also hüben und drüben, denn «Gott hat bestimmt», sagt der Schamane ‚Kögel-Chan', «dass ich sowohl auf als unter der Erde wandern soll» (Vgl. auch Werner Zurfluh, "Märchen als Schlüssel zu den Quellen der Nacht" (Geesthacht: Wolkentor-Verlag, (1984) 2. Aufl. 1985 - zu bestellen bei: hans-j.drews@t-online.de)).

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Zaubermärchen

Die Welt der Märchen gehört ebenso wie das schamanische Erleben und die Ausserkörperlichkeit zum Erfahrungsbereich der Nacht - und gehorcht zum Teil ganz anderen Regeln als die Welt des Alltags. So ist es beispielsweise möglich zu fliegen, die Sprache der Tiere zu verstehen, die Gestalt zu wechseln, feste Gegenstände zu durchdringen und gewohnte Zeit- und Raumvorstellungen zu "durchbrechen". Die dafür verwendete Bezeichnung 'traumartig' unterschlägt die Tatsache, dass das Ich auch im sogenannten Schlafzustand oder in der "Trance" stabil und koordinationsfähig bleiben kann - und zwar ohne jegliche Abstriche. Es wird vielfach übersehen, dass schamanische und märchenhafte Seelenfahrten nicht nur bewusst erlebt werden können, sondern mit einem intakten, hellwachen Bewusstsein vollzogen werden müssen.

Die Berechtigung dieser Aussage lässt sich beispielsweise mit Hilfe eines Motivvergleichs feststellen. Doch bleiben die auf diese Weise gewonnenen Schlussfolgerungen immer noch vom persönlichen Erleben isoliert. Aus dem (wissenschaftlichen) Wissen allein ergibt sich nämlich nicht zwangsläufig eine Erweiterung des Erfahrungsbereiches, die den Menschen in seiner Ganzheit betrifft. Ein Wissen, das persönlich nicht mit- und nachvollzogen wird, verursacht nur eine Zerstückelung der personalen Existenz - und zurück bleibt ein in seine Einzelteile zerlegter, atomisierter Zauberlehrling, dessen Initiation mit der analytischen Zergliederung beendet wurde.

Das subjektive Erleben ist nicht nur eine Frage des Überlebens, sondern auch eine des Lernens, das den ganzen Menschen umfasst - mitsamt all den Konsequenzen für das Leben im Alltag. Deshalb muss das in manchen Märchen ausgesprochene Verbot, ein bestimmtes Zimmer zu betreten, seine Wirksamkeit unter allen Umständen verlieren.

Im Märchen "Fitchers Vogel" (KHM 46) wird von einem Hexenmeister erzählt, der in Gestalt eines armen Mannes hübsche Mädchen in einen finsteren Wald zu seinem Haus verschleppte. Und wenn er fortreisen musste, sagte er jeweils: «Du kannst überall hingehen und alles betrachten, nur nicht in eine Stube, die dieser kleine Schlüssel da aufschliesst, das verbiet ich dir bei Lebensstrafe.»

Auch hier geht es um eine Erschliessung der Anderwelt (Wald). Diese geschieht auf zauberische Art und ist an ein Verbot geknüpft. Dieses Verbot bezieht sich auf ein ganz bestimmtes Wissen und betrifft einen schamanischen Initiationsprozess. Dieser lässt sich allerdings nur indirekt erfassen, weil in den letzten Jahrhunderten die christliche Weltanschauung das Schamanentum beinahe vollständig verschwinden liess.

Wenn nun das Mädchen nach einer gewissen Zeit zur verbotenen Tür kam, liess ihr die Neugierde keine Ruhe und sie schloss die Tür auf. Im Raum stand ein grosses blutiges Becken und darin lagen tote zerhauene Menschen. Daneben stand ein Holzblock und ein blinkendes Beil lag darauf.

Derartige "Innenräume" können in dem Moment gesehen werden, wenn der Weg nach "innen" bewusst beschritten wird. Dieser Weg kann durchaus qualvoll und schmerzbelastet sein, denn eine Bewusstwerdung der persönlichen, familiären und kollektiven Schattenseiten des Menschseins gleicht dem Geschundenwerden und ist wie eine Folter.

Als dem Hexenmeister bekannt wurde, dass das Verbot missachtet worden war, schleifte er «das Mädchen an den Haaren in den Raum, schlug ihr das Haupt auf dem Blocke ab und zerhackte sie, dass ihr Blut auf dem Boden dahinfloss. Dann warf er sie zu den übrigen ins Becken.»

Die alten Vorstellungen werden spätestens in dem Moment abgeschliffen, zerhackt und zerteilt, wenn die verbotene Zone der Eigenerfahrung betreten wird.

Eines der Mädchen jedoch verhielt sich klug. Sie ging auch in die verbotene Kammer, aber sie blieb sozusagen gefasst, geriet nicht in Panik, suchte die Glieder der Ermordeten zusammen und legte sie zurecht - Kopf, Leib, Arme und Beine. Und als nichts mehr fehlte, da fingen die Glieder an, sich zu regen, und schlossen sich aneinander - und die Mädchen öffneten die Augen und waren wieder lebendig.

Wenn der Mensch "gehäutet und blossgelegt" ist, kann er in seiner eigentlichen Wesenhaftigkeit wieder neu ausgerichtet und fixiert werden. Dafür braucht es allerdings ein gehöriges Mass an "Geistesgegenwart", Mut und Klugheit. Ohne Ekelüberwindung und der Bereitschaft anzupacken und sogar "Leichenteile" korrekt zu ordnen, kann kein neuer Körper entstehen bzw. ist die "Bildung des Diamantkörpers" (Zweitkörper) nicht möglich - und es kann auch niemals zu einer mystischen Vereinigung kommen (vgl. Ekelüberwindung, Zerstückelung und Verschmelzung). Diese Fragen sind allesamt in diesem Märchen angedeutet, aber sie lassen sich ohne eigenes Erleben nicht einmal andeutungsweise beantworten. Allein schon eine Betrachtungsweise im Hinblick auf einen schamanischen Intiationsprozess erweitert die Bedeutung dieses Märchens weit über die Grenzen einer psychologischen Betrachtungsweise.

Nachdem die wiederbelebten Mädchen in Sicherheit waren, nahm das im Haus zurückgebliebene Mädchen «einen Totenkopf mit grinsenden Zähnen, setzte ihm einen Schmuck auf und einen Blumenkranz, trug ihn oben vors Bodenloch und liess ihn da hinausschauen.» Und der Hexenmeister liess sich täuschen als er den geputzten Totenkopf sah. Er meinte nämlich, es wäre seine Braut, ging ins Haus und konnte daselbst eingeschlossen und verbrannt werden.

Die Neuzusammensetzung und Wiederbelebung der zerstückelten Leichen (es sind oft die der Schwestern der Heldin) geschieht in einigen Varianten des Märchens mit Hilfe eines zauberkundigen Tiers. Dieses Geschehen weist auf eine gelungene schamanische Einweihung hin - wie etwa auch die Tatsache, dass die Heldin sich in einen Vogel verwandeln kann oder manchmal eine Puppe bzw. eben einen Totenkopf gewissermassen als "Scheinkörper" zurücklässt. Wenn der Sinn der Zerstückelung nicht mehr begriffen wird, weil die ausserkörperliche Erfahrung als solche und das damit verbundene Konzept des Zweitkörpers unbekannt ist, muss die Zerstückelung "rationalisiert" und der physisch-materiellen Ebene zugeordnet und letztlich als verbrecherische Tat eingestuft werden. (Hinweis zu Fitchers Vogel und dem Problem der Zerstückelung von Christoph Roos)

Es ist von ausschlaggebender Bedeutung, dass es ein verbotenes Zimmer gibt, denn die Auseinandersetzung mit einem Verbot ist prinzipiell "bewusstseinsschärfend". Wer allerdings aus blosser Neugierde in einen verschlossenen Raum hineingeht und dabei unvorsichtig ist und sich erschrecken lässt, wird im wahrsten Sinne des Wortes auseinanderfallen und in Stücke zerhackt. Denn Hadern, Grübeln und Zweifeln führen unweigerlich zu einem unbewusstes Zerstückeltsein.

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Das Wissen um den verbotenen Raum

Im Chandogya-Upanishad 6.1.2f wird von Svetaketu gesagt, er habe die gesamte, sehr umfangreiche alte Tradition der Brahmanen, d.h. den Veda, gekannt. Aber es gab einen Mann namens Uddalaka, der Svetaketu etwas beibringen konnte, was der Veda-Kenner vorher niemals gehört hatte (K.N. Jayatilleke, Early Buddhist Theory of Knowledge. London: Allan & Unwin, 1963 S. 417), obwohl der Veda als «die ewige Wahrheit selbst, unfehlbare Autorität, Richtschnur im Leben, Quelle aller Erkenntnis» (Jan Gonda, Die Religion Indiens I. Veda und älterer Hinduismus (Die Religionen der Menschheit Bd. 11). Stuttgart: Kohlhammer, 1960 S. 16) galt - und dennoch schien es ein "höheres Wissen" zu geben, das im Traditionellen nicht enthalten war.

Die gleiche Problematik wie bei Svetaketu und Uddalaka ist - trotz räumlicher und zeitlicher Distanz - im rätoromanischen Märchen "Die Prinzessin aus alter Zeit" (Märchen aus dem Bündnerland 1935:26-33 (die Kenntnis dieses Märchens verdanke ich einem freundlichen Hinweis von Marcel Frei) zu finden:

Prinz Gian - so heisst es in der Geschichte aus dem Bündnerland - , durfte so viel und so lange studieren, «dass kein Schulmeister ihm mehr etwas beibringen konnte». Sein Vater, der König liess dann «alles bekannt geben, was der Prinz wusste und bemerkte dazu, wenn irgend einer wäre, der mehr wüsste als sein Sohn, der Prinz Gian, so solle der sich bei ihm melden. Diese Mitteilung ist auch dem Prinzen Gundi unter die Augen gekommen» - und er schrieb dem König, «er wisse drei Worte mehr als der Prinz Gian. Sofort hat der König den Prinzen Gian zum Prinzen Gundi geschickt, damit er diese drei Worte lerne. Und es ist nicht lange gegangen, da hat er sie gewusst.»

Der alte König erlaubte seinem Sohn Gian und dessen Freund Gundi, das väterliche Schloss ganz anzusehen und in alle Zimmer zu gehen - bis auf eines. Doch eines Tages gingen die beiden trotz des Verbotes in den Raum. Aber da war «nichts zu sehen als ein Tisch und ein gewaltiges altes Buch, das aufgeschlagen darauf lag. Die Prinzen begannen die Blätter zu wenden - da stand plötzlich der König vor ihnen und fragte sie mit strenger Miene, warum sie ihm nicht gehorcht hätten. Sie versuchten allerlei Ausreden, aber der König hat gesagt: "Ich hätte die Prinzessin aus alter Zeit gefunden, wenn ihre eure Neugierde bezwungen hättet. Nun jage ich euch beide aus dem Schloss. Macht dass ihr fortkommt, und kehrt mir nicht zurück bevor ihr die Prinzessin aus alter Zeit gefunden habt!"»

Das letzte und wohl sperrigste Hindernis vor dem Eintritt in den "verbotenen" Raum der persönlichen Erfahrung ist die Meinung, das erlebende Ich müsste beim Übergang in die Märchen-, Traum- und Anderwelt unter allen Umständen einen Bewusstseinsverlust oder zumindest ein "abaissement du niveau mental" erleiden. Es heisst, das wache und wollende Bewusstsein würde während des Erlebnisses völlig abwesend sein. Diesbezüglich gibt es eine unerschöpfliche Fülle von Aussagen, die in irgendeiner Form von der Auflösung der Stabilität und Koordinationsfähigkeit des Ichs sprechen. Mit dem Versinken der äusseren Welt aus dem Wahrnehmungsbereich des Ichs, - z.B. bei der intensiven Beschäftigung mit einer Sache oder beim Einschlafen - muss aber das Bewusstsein um die eigene Situation und die persönliche Identität nicht notwendigerweise verloren gehen. Eine Verlagerung und Veränderung des Erlebnisbereiches des Ichs ist nämlich nicht gleichbedeutend mit einer totalen suggestiven Absorption in eine nichtalltägliche Welt, mit einem plötzlichen Bewusstseinsverlust oder einem Versinken in einen (unbewussten) "Trancezustand".

Die beiden Prinzen ritten also gezwungenermassen fort - aber sie wussten nicht wohin. «Abends spät kamen sie an eine Hütte, und sie sind hineingegangen um nach Unterkunft zu fragen. Im Zimmer brannte auf dem Tisch ein Talglicht, aber es war fast kein Talg mehr auf der Pfanne. So haben sie gewartet, in der Meinung, es werde wohl jemand kommen und Talg nachfüllen Es ist aber niemand gekommen. Da haben sie sich entschlossen, sich in das Bett zu legen, das dort in einer Ecke stand. Prinz Gian hat sehr bald angefangen tapfer zu schnarchen. Prinz Gundi aber ist wach geblieben.»

Tatsächlich wird in vielen Märchen die Bedeutung des Wachseins und Wachbleibens besonders hervorgehoben. So heisst es im Grimmschen Märchen "Der goldene Vogel" (KHM 57): «Der Jüngling legte sich also unter den Baum, wachte und liess den Schlaf nicht Herr werden.» Nur im "Hellschlaf" können Geheimnisse erlauscht und kann Verborgenes gesehen werden. Das gilt auch für dieses Märchen. Prinz Gundi kann aufgrund seines Wachseins erfahren, wo die Prinzessin aus alter Zeit lebt und wann und wie sie zu finden und zu erlösen ist.

Bald kamen drei Schwestern ins Haus. Prinz Gundi lauschte und merkte sich alles. Nur aufgrund der Hinweise der drei Frauen konnten Gundi und Gian später in einem alten Schloss die dort lebende "Prinzessin aus alter Zeit" aus ihrem Bett holen und rechtzeitig entkommen. «Dann sind sie zurück geritten und am späten Abend wieder zu der Hütte gekommen, wo sie übernachtet hatten.»

«Die Prinzessin und Prinz Gian sind bald eingeschlafen. Prinz Gundi aber ist wach geblieben, um zu horchen, was die Schwestern wohl sagen würden.» Am nächsten Morgen sind die Prinzessin und die beiden Prinzen dann zum väterlichen Schloss zurück geritten. Gundi befolgte den Rat der Schwestern und verhielt sich richtig als der König versuchte, die beiden zu vergiften. - Und es erhob sich ein heftiger Wind mit entsetzlichem Gestank. «Im gleichen Augenblick ist der König, der ein böser Hexenmeister war, für alle Zeit vom Erdboden verschwunden. ...»

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Die Urform der Dinge

Meine nächtliche Erfahrung vom 13. Februar 1976 zeigt, dass es sehr schwierig sein kann, das Erinnerungsvermögen nach dem Erwachen im Bett lückenlos auf die "Protokollebene" bzw. den Alltag hinüberzubringen. Das Geschehen hat - wenn auch "nur" gemäss meinem subjektivem Zeitempfinden - Jahre und vielleicht sogar Jahrzehnte gedauert. Es braucht bei solchen Erfahrungen manchmal schon herausragende "schockartige" Momente, die stark beeindrucken und deshalb gut erinnert werden können - oder unter Umständen sogar die Erlebnissequenz insofern beenden, als ein Ebenenwechsel bzw. die Rückkehr in den Alltag in der Art eines "Tritts in den Hintern" unterstützt wird.

... Ich bin in einem mir vom Alltag her bestens bekannten Raum, weiss genau um meinen momentanen Traumzustand und verfüge aufgrund der Kontinuität des Ich-Bewusstseins über sämtliche Erinnerungen. Bei genauerem Umsehen fällt mir auf, dass hier eine jener Durchgangsstellen ist, die es problemlos erlauben, von der alltäglichen Ebene des "Traumes" auf eine andere hinüber zu wechseln.

Bei einem Wechsel in den ausserkörperlichen Zustand kommt es zu einem Erlebnis, das sich als "Ablösung der Seele" vom physisch-materiellen Körper beschreiben lässt. Das Geschehen wird als "Abtrennung eines zweiten Körpers vom schlafend zurückbleibenden Rest des Körpers" empfunden. Es dürfte deshalb nicht weiter erstaunen, dass seit urvordenklichen Zeiten das Sterben als ein "Austritts-Vorgang" betrachtet wird. Auch die Verbrennung des Leichnams erleichtert das "Lösen der Seele" - und die "Seelenlöcher" und andere Eingänge bei manchen Megalithgräbern sollten es wohl der "Seele" problemlos ermöglichen, den sterblichen Rest des Körpers und das Grab zu verlassen.

Derartige Durchgangsstellen sind bei Grabstätten - aus religionsphänomenologischer Sicht gesehen - Orte, an denen der «Verstorbene ... die diesseitige Welt verlassen und in das Jenseits eingehen» muss. «Dazu bedarf es eines Ortes, an dem dieser Übergang möglich ist. Dieser Ort, an dem die Grenze zwischen den Welten als durchlässig angesehen wird, ist die Grabanlage selbst. Hier, an diesem Ort, und zwar nur hier, ist der Übergang möglich. Die Durchlässigkeit der Grenzen im Grab stellt hingegen für die Lebenden eine nicht zu unterschätzende Quelle der Gefahren dar. Zum einen kann der unbedachte Sterbliche, der sich hier aufhält, in das Totenreich gelangen (die Toten stören) und zum anderen können von hier aus Tote in die Welt der Sterblichen geraten. Um dies zu verhindern, muss um den Bereich des Übergangs eine spirituelle Grenze gezogen werden, die sowohl für die Lebenden als auch für die Toten undurchdringlich ist.» (Markus Vosteen, Der Graben zwischen Diesseits und Jenseits) - Ähnliches gilt - wie die Erfahrung zeigt - auch im Zusammenhang mit der Ausserkörperlichkeit.

Ich gehe auf die andere Seite und erklettere nach einer kurzen Wanderung eine sehr steile Felswand, um auf ein Hochplateau zu gelangen. Von dort wird sich wohl die "untere Traumebene" des Alltags bestens überblicken lassen. Oben ist die Wand jedoch stark überhängend. Da sich in der menschlichen Körpergestalt das Hindernis nicht bewältigen lässt, verwandle ich mich in ein Faultier. Es wird mit seinen langen, starken und gebogenen Klauen die Stelle problemlos überwinden können. Und da sich ein Faultier sehr langsam bewegt, besteht kaum Absturzgefahr.

Schon nach kurzer Zeit intensivster Konzentration verwandelt sich mein linker Arm in ein Faultierbein mit starken braunen Klauen. Mit deren Hilfe lasse ich mich am Fels so lange baumeln, bis der ganze Körper transformiert ist. Dann kraxle ich als Faultier gemächlich höher.

Die Verwandlung lasse ich aufgrund eines Impulses - ohne in das Geschehen irgendwie einzugreifen - regelrecht geschehen. Derartige Impulse entsteigen der "Innenwelt" wie eine Intuition. Sie müssen allerdings sofort und in Demut und Hingabe umgesetzt werden. Dies sollte mit Respekt vor dem "inneren Wissen" und in einer religiösen ("rückbezüglichen") Einstellung geschehen. Dabei wird prinzipiell auf das gehört, was aus der Wissensquelle der Tiefe an die Ufer der Bewusstheit heranbrandet und das Ich mit Gischttröpfchen übersprüht. Ohne eine solche Haltung hätte ich weder diese noch andere "Reisen" unternehmen und bestehen können.

Die "andere Seite" ist und war mir stets wohlgesonnen und hat mich sagenhaft unterstützt - und mir stets und insbesondere in kritischen Situationen blitzartig ein inneres Wissen zufliessen lassen und auch kostbare "Gegenstände" geschenkt. Das aus den nächtlichen Quellen aufsteigende Wissen brauchte ich "nur noch" umzusetzen. Aber das war manchmal überaus schwierig. Die "Anderwelt" half mir auch deswegen, weil ich die Erfahrungen - auch die unscheinbarsten - stets sorgfältig protokolliert, bedacht, beherzigt und umzusetzen versucht habe.

Oben auf dem Plateau mache ich der Verwandlung rückgängig und führe andere menschliche, "nicht-luzid träumende" Wesen, welche z.T. dank meiner Hilfe aus der normalen Traumebene herauskommen konnten, Schritt für Schritt in ihre neue Existenzform ein. Ich erläutere die Ideoplastie, die Transformation und weitere Besonderheiten. Vor allem werden die Zuhörer auf die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen der Alltagsebene und der Anderwelt aufmerksam gemacht. Ausserdem ermahne ich die Leute, angesichts des Unerwarteten nicht die Fassung zu verlieren und weise sie darauf hin, dass meine Kenntnisse in bezug auf diesen Zustand nur beschränkt seien. Deshalb wäre es ratsam, die Information sorgfältig und kritisch zu verarbeiten, verantwortungsvoll mit dem Wissen umgehen und sich auf Überraschungen gefasst zu machen.

Von unten her - d.h. von der Traumebene des Alltags - brandet Lärm zu uns hinauf. Wir gehen an den Rand des Plateaus und legen uns flach hin, um von unten herauf nicht gesehen werden zu können. Auf der tieferen Ebene in ein paar hundert Metern Entfernung tritt eine Kompanie Soldaten zum Gefecht an. Etwa zwanzig Rakrohre werden am Rande eines Hügels, von dem aus das ganze Tal überblickt werden kann, in Stellung gebracht. Es soll mit scharfer Munition geschossen werden - mit dem Ziel, die "obere" Ebene zu zerstören!

Der sich anbahnende Kampf zwischen der "unteren" und der "oberer Traumwelt" könnte auch eine Warnung sein. Ein Wert- und Sinnzuwachs kann nämlich aufgrund von mehr oder weniger überblickbaren Zusammenhängen nur jenen einigermassen klar werden, die eine gewisse Distanz gewonnen haben. Ohne Erfahrung und ohne den damit verbundenen Wissenszuwachs und die Bereitschaft, aus all dem "Zugefallenen" und den Erzählungen anderer zu lernen, werden Handlungen egoistisch und machtbetont. Wenn beispielsweise ein Schamane im Rahmen einer rituellen Handlung Pilze raucht, dann geschieht dies nicht aufgrund von Neugierde, Sensationshascherei und Geltungssucht wie etwa bei einem Drogenkonsum, der sich weder um die Verantwortlichkeit noch um das Lernen und das Mitgefühl kümmert. Wenn die Sichtweise durch Nichtwissen getrübt ist, wird das Lernen durch rohe Gewalt ersetzt.

Der Wind weht die Stimme des Befehlshabers bis zu uns herauf: "Feuer!" - Mündungsblitze zucken aus den Rakrohren und orangefarbene Panzergranaten zischen heraus.

Um zu demonstrieren, welche Möglichkeiten es hier gibt, und um den Militärs zu zeigen, wie sinnlos ihr Gehabe ist, konstruiere ich magisch eine geistige Sperre, an der alle Granaten abrupt stoppen. Die Anwesenden hier oben sind begeistert, die Militärs dort unten total überrascht und konsterniert!

Ich lasse die Granaten kurze Zeit in der Luft stehen und gebe dann den Impuls zur Umkehr. Nach einer Wendung um 180 Grad fliegen die Explosivgeschosse langsam zurück. Einige Soldaten brechen in Panik aus und laufen mit den Rohren davon, so dass die Granaten aufprallen und explodieren, statt in die Rohre zu fliegen. Die fliehenden Soldaten werden getötet. Die meisten jedoch bleiben angesichts der neuen Situation ruhig und schauen einfach zu. - Für mich besteht kein Grund einzugreifen. Ich denke, dass jene, die ein Geschoss abfeuern, auch darauf gefasst sein müssen, selbst von einem solchen getroffen zu werden.

Wir gehen auseinander. Es vergeht einige Zeit, in der ein grosses Haus gebaut und eingerichtet wird. Es hat gewisse Ähnlichkeiten mit einer Burg. Auch ein Weg hinunter zum Dorf auf der gewöhnlichen Traumebene ist erstellt worden. Zwischen den Leuten im Dorf und den Bewohnern der oberen Ebene besteht ein ziemlich grosser Unterschied, denn "oben" wird die Dimension der Luzidität miteinbezogen, "unten" nicht.

Eines Tages steht in der Nähe der luziden Ebene auf dem Weg eine Gruppe von Leuten. Unter ihnen ist auch jemand, der eine kleine Silberkanne in Händen hält, die mit einer dicken Kruste von Haschischresten überzogen und teilweise verklebt ist. Diese Kanne sollte gereinigt und von den Drogenlasten befreit werden.

Da sich mit der Reinigung demonstrieren lässt, auf welche Weise die geistigen Kräfte der oberen Ebene angewandt werden können, nehme ich dem Manne das Gefäss ab. Das Putzen der Kanne soll nicht einfach durch Abreiben von Hand geschehen, sondern durch eine magische Operation. Ich lasse also zunächst das verschmutzte Gefäss frei in der Luft schweben und dann um die eigene Achse rotieren. Nach und nach verstärke ich die Rotation, wodurch sich der Reibungseffekt erhöht. Schliesslich erhitzt sich die Kruste und löst sich auf. Immer mehr Teile werden weggeschleudert und zu guter Letzt erstrahlt die Kanne wieder in ihrem silbernen Glanz.

Sowohl die Anwesenden wie auch ich selber wissen um die symbolische Bedeutung des Geschehens. Bevor ich die Kanne zurückgebe, kommt mir der Gedanke, mit ihr einen Versuch zu machen, denn es stellt sich für mich die Frage, wie das Namenlose wirkt. Das Unbekannte kann nämlich auch hier auf dieser Ebene nicht direkt erkannt werden.

So frage ich denn laut: "Welches ist die Urform dieser Kanne?" Total verblüfft sehen wir zu, wie das Gefäss für kurze Zeit verschwindet und dann in gewandelter Form wieder schwebend in der Luft sichtbar wird. Die Grösse ist unverändert, aber die Gestalt ist anders als erwartet und besteht aus drei Teilen. Der Sockel ist ein hochgestellter Quader, der im oberen Drittel gut zur Hälfte durchgehend ausgefräst scheint. In der dadurch entstandenen viertelkreisförmigen Bucht liegt eine kleine Halbkugel mit dem flachen Teil nach unten. Auf dieser ist ein dickwandiger, schalenförmiger Becher aufgesetzt, dessen oberer Teil etwas über dem Rand des Quaders vorsteht.

Wir sind nicht nur wegen der ungewohnten Transformation überrascht, sondern auch wegen der ausserordentlichen Wertzunahme des Gegenstandes, denn er besteht jetzt aus kostbarer Jade. Aufgrund des Alters und der Einmaligkeit muss er von unschätzbarem Wert sein.

Die Sache ist derart einmalig, dass es mir angebracht scheint, das Ganze nochmals mit einem anderen Gegenstand zu versuchen. Auf einem kleinen Tisch steht eine ziemlich schäbige Waage. Ich frage laut und deutlich nach der "Urform", und die Waage wird wie die Kanne zuvor für einen Augenblick unsichtbar und verschwindet in ein anderes Raum-Zeit-Kontinuum. Dann erscheint sie wieder auf dem kleinen Tisch in ungewöhnlicher Form. Jede der Fragen ist ungeheuer spannungsgeladen, weil niemand wissen kann, was erscheinen wird, und wie die wahre Urform aussieht.

Die neu erschienene Waage steht auf einem sehr kostbaren, quaderförmigen Sockel aus mit feinsten Schnitzereien versehener Jade. Auf dem grossen Quader liegen neben der eigentlichen Waage, deren eine Hälfte über den Sockelrand hinaus schaut, diverse kleine Jade- und andere Edelsteinfiguren, u.a. ein kleiner Löffel mit kurzem Stiel und eine grössere 'Kelle'. Alles ist so gruppiert, dass der kosmische Sinn des Ganzen sichtbar wird. Die Waage bringt das Gleichgewicht des Kosmos im Kleinen wie im Grossen zum Ausdruck.

Auch dieser Gegenstand stammt aus dem alten China und ist von unschätzbarem Wert. Es ist also zu vermuten, dass die unscheinbaren Dinge, die auf der tieferen Ebene wertlos scheinen und deshalb billig zu bekommen sind, hier oben in ihre ursprüngliche Form verwandelt werden können und damit einen enormen Wert- und Sinnzuwachs erhalten.

Die Frage nach der Urform führt zu überaus grossem Reichtum und zu einer unvorstellbaren Machtfülle. Dies erfordert eine einwandfreie Ethik, die zu keinem Zeitpunkt und von keinem Mitglied unserer Gemeinschaft in Abrede gestellt werden darf. Mir ist auch bewusst, dass sowohl der Reichtum wie auch die Machtfülle auf der Alltagsebene niemals zur Anwendung kommen dürfen, weil beide Ausdruck einer anderen Dimension und eines anderen Lebensgefühles sind. Gegenstände, die "jenseits des Alltäglichen" voller Kraft und Macht sind, dürfen nicht in den Alltag der unteren Traumebene hinein getragen werden. Sie passen da nicht hinein und würden total pervertiert und ihres Sinnes beraubt!

Ich versuche dann, die Frage nach der Urform einer kleinen geschnitzten Laterne zu stellen. Zu meinem Erstaunen fängt sie sofort an zu brennen, was ich zunächst nicht begreife, weil ich nicht daran denke, dass die Urform der Laterne das Feuer ist.

Die Jahre gehen dahin und die Zeit verrinnt. Unsere kleine Gemeinschaft entwickelt sich zu einer grösseren Gruppe von "Eingeweihten", denn wir führen viele magische Experimente durch und erweitern langsam unser Wissen.

Eines Tages gehe ich alleine und unauffällig gekleidet ins Dorf hinunter. Dies geschieht sehr selten, denn die Stimmung der Dorfbewohner hat sich gewandelt - sie ist uns Bergbewohnern gegenüber sehr ungünstig geworden. Aus diesem Grunde scheint es unklug, die "Unterländer" daran zu erinnern, dass wir existieren. Wir werden von ihnen als "Templer" bezeichnet, und die Dörfler neiden uns den Reichtum und das Wissen. Sie haben auch eine unbestimmte Angst vor uns, obwohl wir immer sehr vorsichtig und zurückhaltend gewesen sind. Aber da aus unserer anfänglich eher kleinen Gruppe mittlerweile doch eine grössere geworden ist, hat sich unsere Art zu leben und zu denken natürlich nicht mehr - wie zu Beginn - absolut verbergen lassen. Zudem war ein häufigerer Kontakt mit der Alltags-Traumebene nicht zu vermeiden.

Ich betrete inkognito eine düstere Spelunke. Kurze Zeit später kommt - sehr zu meinem Erstaunen - ein mir unbekannter Templer herein. Er trägt sehr kostbare, mit Edelsteinen bestickte und mit Goldfäden durchwirkte Gewänder.

Es ist zu fragen, weshalb ein Templer bzw. ein "Eingeweihter" mit "Edelsteinen bestickte und mit Goldfäden durchwirkte Gewänder" braucht. Vielleicht ist die wohl grösste Gefahr des "Wissens" die Institutionalisierung und Hierarchisierung bzw. die Tendenz, Suchende als "zahlende Schüler" in Schulungssysteme einzubinden und Wege vorzugeben, die "Stufe um Stufe" zu begehen sind. In diese tückische Falle sind mehr oder weniger sowohl Rudolf Steiner als auch C.G. Jung reingetappt. Es gibt unzählige Beispiele: Gurdjeff, Twitchell usw. Es ist natürlich unbedingt zu beachten, dass der Wissenszuwachs, den die betreffenden Personen sozusagen gefunden und vermittelt haben deswegen nicht geschmälert wird. Die Kollektivierung ist das Problem!

"Was soll denn dieses?" frage ich mich und beobachte ihn genau. Er öffnet ein Chambre Séparé und legt sich zu einigen bis aufs Skelett abgemagerten Prostituierten. Auf seiner linken und rechten Seite liegen Frauen, bei denen die Fleischteile des Gesichtes weggefault sind, so dass die weisslichen Schädelknochen hervorlugen. Der Templer wälzt sich nun zunächst auf die eine und dann auf die andere Frau.

Mich wundert dieses Tun sehr, und ich habe den Verdacht, dass die Ethik in den letzten paar Jahren doch irgendwie gelitten haben muss. Doch dann werde ich eines Besseren belehrt, denn der Templer steht auf und ruft die zum Teil schon neugierig hinschauenden Leute zu sich. - Und dann nagelt er die Leute fest und konfrontiert sie mit ihrer eigenen Dummheit und Lüsternheit, denn das, was der Templer soeben tat, war nur ein Vorwand, um den Leuten ihre Verderbtheit vor Augen zu führen.

Der Templer scheint auf der unteren Ebene in einem "verbotenen Raum" etwas nachvollziehen und demonstrieren zu wollen. Denn das Tun in dieser Zone scheint von den Bewohnern der "unteren" Ebene total profanisiert worden zu sein und ist nunmehr ohne erkennbaren Sinngehalt. Es wäre deshalb notwendig, die Urform dieses Tuns zu begreifen, indem aufgezeigt wird, dass es um eine erotische Beziehung geht.

Mir selber war die Handlungsweise des Templers vielleicht auch deshalb unbegreiflich sein, weil mir nicht klar gewesen ist, dass der verschlechterte Kontakt zu den Bewohnern der unteren Ebene auf ein ungelöstes Problem hindeutet, auf die Frage nämlich, wie esoterisches Wissen ohne Profanierung und Institutionalisierung vermittelt werden kann.

Beispielsweise darf das mit der gereinigten Kanne erworbene Wissen nicht naiv und sorglos in den Alltag der unteren Traumebene getragen werden, weil sonst diese und andere Urformen nur wieder pervertiert und ihres Sinnes beraubt werden. So erinnert die gereinigte Kanne an den schwebenden Kelch, den Gral bzw. an den makellos reinen Stein, den "lapis exillis". Das damit verbundene Wissen ist nicht unbedingt harmlos und kann effektiv nicht leicht vermittelt werden.

Ob also die Strafpredigt des Templers etwas nutzt? - Gerade dem historisch realen Templerorden wird ja in der späteren Zeit der unermessliche Reichtum genieden. Ihm wird Arroganz nachgesagt sowie innere Korruption, Vermischung von weltlicher Macht und geistigen Zielen. Es soll auch eine Verbindung zu den Assassinen (den Haschischessern - Reinigung der Kanne), den fanatischen Dienern des "Alten vom Berg" und "blasphemische" Rituale gegeben haben (Ordo templis orientalis und Crowleyaner) (Hinweis von Christoph Roos).

Erst jetzt erkenne ich, dass im Chambre Séparé abstruse Dinge geschehen sind, die jeder partnerschaftlich liebevollen Sexualität spotten. Sie wurden nun vom Templer ans Tageslicht gebracht. Völlig unerwartet werden die Leute spiegelbildlich mit ihrer eigenen Verruchtheit konfrontiert. Auf diese Weise wird die flammende Rede des Templers zu einer schonungslosen Kritik der Destruktivität dieser Ebene, die eine Folge der Unbewusstheit ihrer Bewohner ist.

Beim Lesen dieses letzten Abschnittes dürfte der Charme eines Zaubermärchen definitiv verloren gegangen sein. Nun ist die Bewusstwerdung und der Versuch, nächtliche "Zaubermärchen" verstandes- und herzensmässig in Einklang zu bringen meist nicht eine Frage der Gefälligkeit. Und zwar deswegen nicht, weil derartige Erfahrungen aktuell sind und sowohl individuelle wie auch kollektive Fragen betreffen. Es sind Probleme, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt anstehen und im Alltagsbereich gelöst werden müssen. Das Wissen eines Schamanen als Hüter und Übermittler traditioneller Überlieferungen mag durch das Vermitteln von Geschichten und mythischen Ereignissen Eingang in ein Märchen findet. Aber bei den eigenen nächtlichen Erfahrungen geht es in erster Linie darum, aus diesen Erlebnissen zu lernen und diese irgendwie ins Leben und damit auch in den Alltag umzusetzen.

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