Die Spur der Quader 9
Der Diamantkörper Teil 3 Werner Zurfluh |
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7. Was ein Kind finden kann
Es
scheint, daß es Menschen reinen Herzens problemlos möglich ist, die
große und geheimnisvolle Kostbarkeit zu finden. Unser 9 Jahre alter Sohn
Beat erzählte mir jedenfalls am 15. Januar 1976 (natürlich in
Dialektform) folgendes:
Wir gingen einmal in den Ferien auf eine Wanderung. Ich mache unterwegs ein Mittagsschläfchen. Ihr tut dasselbe. Aber da ist etwas unter meinem Rücken nicht so bequem. Ich stehe auf und entferne die störenden Steinchen. Da sehe ich einen großen Kristall, der sehr schwer ist. Aber der Papi kann ihn zum Glück aufheben. Wir gehen wieder nach Hause (in die Ferienwohnung) und nehmen den Kristallstein mit.
Am nächsten Tag gehen wir wieder wandern. Als ich eine Pause mache, entdecke ich ein paar Diamanten. Diese trage ich selber zurück, denn sie sind nicht schwer. Dasselbe geschieht am nächsten Tag.
Am übernächsten Tag stolpere ich über einen Felsbrocken und schiebe ihn beiseite. Darunter sind viele Kristallsteine. Wir nehmen sie mit. Bei der nächsten Wanderung am folgenden Tag steht mitten auf dem Weg ein Baum. Ich schiebe ihn ein bißchen zur Seite. Und was sehe ich da! Schmucksachen aus Gold und Silber fürs Clodi (meine Schwester) und fürs Mami. Die beiden heben den Schmuck auf und probieren ihn. Wie ich den Baum noch etwas mehr beiseite schiebe, entdecke ich im gleichen Loch zwei Diamantringe.
Zu Hause bedankt ihr euch für die tollen Sachen, die ich gefunden habe - auch für den großen, großen Kristallstein. Es ist ein Zauberstein, aber das wissen wir noch nicht.
Dann sage ich:
«Wann gehen wir (endlich) nach Hause?» (Es regnet jetzt ohne Unterbruch.)
Und du (Papi) sagst: «Erst in zwei Wochen!»
Das freut mich, und ich sage: «Meinst du, dann wird das Wetter wieder schön?»
Kaum habe ich das gesagt, sind wir 'auf einen Blitz' (blitzartig) zu Hause - und es ist schönes Wetter.
«Also das geht doch nicht!» sagen alle.
Ich denke: «Wird das Wetter wieder schön, können wir wieder in die Ferien!» Und 'wie der Blitz' sind wir zurück am Ferienort.
Der Schmuck von Clodi und Mami zaubert ganz automatisch. Er bewirkt, daß das Mami verschwindet (unsichtbar wird) und kurze Zeit darauf wieder da ist.
Nun feiern wir, weil alle Dinge, die ich gefunden habe, zaubern können - auch der Kristallstein.
Am nächsten Tag ist das Wetter wirklich schön. Clodi spielt draußen, ich im Haus. Plötzlich taucht Gesindel auf. Es stiehlt die silbernen Sachen und schleppt meine Schwester weg. Aber da zaubert Clodi und ist nicht mehr da (sie wird unsichtbar).
Das Gesindel denkt: «Wo ist die denn jetzt?»
Da zaubert sich Clodi wieder herbei (wird sichtbar), verwandelt das Gesindel in Ameisen und zerdrückt diese. Nun sind alle tot!
Eines Tages haben wir nichts zu Essen, aber der Kristallstein kann uns etwas herbeizaubern. Dann machen wir uns auf den Heimweg und werden eine reiche Familie.
Wolfram von Eschenbach schreibt: «Daß
vor dem Grale jedesmal bereitlag, wonach ein jeder die Hand ausstreckte, und daß
er fertig vor sich fand warme Speisen, kalte Speisen, neue Speisen.» - Der
Gral wird auch 'lapis exillis' genannt und schafft nach Art des Füllhorns
Speise und Trank im Überfluß. Er wirkt auch als eine Art Jungbrunnen,
der Verletzungen heilt und die Toten ins Leben zurückruft, und er ist das
Lebenselixier schlechthin, das im weitesten Sinn das Mysterium von Leben und Tod
vergegenwärtigt (vgl. Zingsem 1995:228).
Tatsächlich
kommt es - wahrscheinlich sogar öfter - ganz spontan auch zu luziden Träumen
und außerkörperlichen Erfahrungen, denn diese Erfahrungsbereiche sind
dem Menschen eigen und müssen nicht unbedingt mittels spezieller Praktiken
erschlossen werden.
8. Die Entstehung des Diamantkörpers
Die Probleme, die sich bei der Entstehung des Diamantkörpers
ergeben, sind sehr komplex. Ich werde also weiterhin nur tastend vorgehen können
- und erzähle deswegen einfach mal das Geschehen vom 18. Juli 1979.
... Da sind ganz in meiner Nähe an einem mir völlig unbekannten Ort zwei Männer, die mir weit überlegen sind und hier eindeutig das 'Sagen' haben. Wir stehen knietief in einer Flüßigkeit, die den Boden des ganzen Raumes bedeckt - wahrscheinlich ist es Urin. Mir wird gesagt, ich müsse da hineinpinkeln! Ohne der Aufforderung zu widersprechen und den Sinn dieses Tuns zu begreifen, befolge ich die Anweisung und spreche - wie das offensichtlich von mir erwartet wird - während des Wasserabschlagens mit den Männern über das Problem des Urins in der Alchemie.
Urin hat mit dem "aqua permanens" zu tun und könnte eine andere Darstellung der Problematik der Bewußtseinskontinuität im Hinblick auf den "Kreislauf des Lichts" in den chinesichen Meditationspraktiken sein. Es besteht somit ein Zusammenhang mit dem "elixir vitae", dem "Essig" (acetum), dem "Mercurius als Quecksilber", der "Tinctura" und dem "Wasser des Hl. Geistes".
Die Reaktion der aufmerksam zuhörenden Männer läßt vermuten, daß sie der Meinung sind, ich hätte die Zusammenhänge recht gut erfaßt.
Aber erst während dieses Gespräches werde ich mir langsam mit aller Deutlichkeit meiner momentanen Situation bewußt und merke schließlich, daß ich 'träume' und in ein äußerst sonderbares Geschehen verwickelt bin.
Und definitiv wird mir meine Lage bewußt, als mir befohlen wird, mich hinzulegen. Ich soll gefoltert werden! Ein Wahnsinn! Einer der Männer hat eine Art Handschleifmaschine, mit der er mir die Haut vom Leibe wegreißen will. Scheiße! Ich fühle mich - gelinde gesagt - nicht besonders angenehm beim Gedanken, höllische Schmerzen ausstehen zu müssen. In einem Traum, aus dem ich mich ja jederzeit flüchten könnte!
Mir ist jedoch klar, daß gerade die Schmerzempfindung ganz allein von mir selber und damit von meiner Einstellung diesem Geschehen gegenüber abhängt. Ich erfasse die Situation sehr genau und weiß intuitiv, was exakt getan werden müßte, damit die Folterung nicht stattfindet. Falls ich mich korrekt verhalte, dürfte es unnötig sein, mich auf diese Weise zu quälen.
Das richtige Verhalten wird vor allem einmal darin bestehen, daß ich lerne, mich völlig zu entspannen und absolut passiv zu bleiben. Dies ist angesichts der drohenden Lage nicht besonders einfach zu bewerkstelligen, allerdings hilft mir dabei die Bewußtseinskontinuität. So entspanne ich mich ganz bewußt und lasse mich im wahrsten Sinne des Wortes im Urin auflösen, denn das ist es, was nunmehr geschieht - und für die Folterung nichts mehr übrig lassen wird.
Ich realisiere bei völliger Bewusstseinsklarheit, daß ich mich auf eine geheimnisvolle Art auflöse. Genauer gesagt ist es so, daß der Körper irgendwie 'expandiert'. Dabei entsteht ein intensiv starkes Gefühl der Einheit. Eine Einheit nicht nur mit der Flüßigkeit, sondern überhaupt mit allem - mit dem gesamten Universum! Dieses Erleben erinnert mich an die mystische Erfahrung der 'unio mystica'. Die Überraschung könnte nicht größer sein - in einem solchen Moment hätte ich das niemals erwartet. Aber das Gefühl ist zu deutlich, als daß es hätte missachtet werden können. Und es ist das eigentlich Wesentliche in diesem Moment, denn ansonsten hätten die beiden Männer mit der Folterung beginnen können.
Und mit dem Grad der Auflösung steigt meine Unabhängigkeit in bezug auf eine mögliche Folterung, denn je mehr ich mich auflöse, desto weniger biete ich in meiner Körperlichkeit eine Angriffsfläche. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, in einer expandierenden Einheit mit der Umgebung zu sein - und gleichzeitig die eigene Individualität in ihrem Kern eindeutig zu behalten. Dies bestätigt mir eindrücklich meine seit langem gehegte Vermutung, daß Einheit, Individualität und Vielheit keine Widersprüche sind, sondern gleichzeitig erfahren werden können.
Die Auflösung des Körpers schreitet nicht bis zum möglichen Maximum des 'atomaren' Zerfalls fort. Zum einen wohl deswegen, weil ich nicht so weit gehe und nicht so weit zu gehen habe, zum anderen, weil man mich nicht so weit gehen läßt. Die deutliche Empfindung, daß sich die Muskeln vom Skelett ablösen und im Urin auflösen, während das Skelett in seine einzelnen Bestandteile zerfällt, erinnert mich eindrücklich an das Motiv der Zerstückelung bei den Schamanen. Ich denke:
«Da habe ich nun meine ganz persönliche Zerstückelung! Und sie erfordert tatsächlich ein gehöriges Maß an Gelassenheit! Ohne Bewußtseinskontinuität wäre das nicht auszuhalten!»
Dann sehe ich, daß der eine Mann - er erinnert mich doch etwas an eine Christusfigur - sein Vorhaben aufgibt, mich zu 'schleifen'. Offensichtlich deswegen, weil ich bewußt den Auflösungsprozeß derart weit vorangetrieben habe. Nun gibt es bei der Körperlichkeit keine Ansatzpunkte zum Schleifen mehr! Selber bin ich außerordentlich glücklich darüber, daß die Auflösung gelungen ist. Außerdem scheint sie irgendwie als solche eine weitaus größere Prüfung zu sein als es die Folterung jemals hätte sein können.
Dann beginnen sich die einzelnen, im Urin aufgelösten Teile wieder zu gruppieren - und es entsteht ein neuer Körper. Mit größstem Erstaunen stelle ich fest, daß jetzt ein echter 'Diamantkörper' zusammenwächst. Darauf bin ich stolz! Es freut mich, eine derart tiefgreifende Erfahrung erleben zu dürfen. Sie scheint mir sehr wesentlich, denn ich erhalte einen 'unsterblichen' und 'unverweslichen' Leib und bekomme damit einen Körper, mit dem selbt die härtesten Gefängnismauern zu durchdringen sind.
Nach einer kurzen Zeit der Besinnung erhebe ich mich. Als erstes soll die Kraft und die Härte des neuen Körpers zur Anwendung kommen. Ich gehe zur 'Betonwand', welche diesen Raum begrent, und beginne die Mauer mit bloßen Händen zu bearbeiten und ganze Stücke herauszureißen. Zu meiner großen Überraschung stelle ich fest, daß das Innere der Mauer aus Tausenden von Kugeln unterschiedlichster Farbe besteht. Sehr hübsch! Während meines Tuns überlege ich mir, ob ich jetzt schon versuchen sollte, die Mauer zu durchbrechen.
«Eigentlich habe ich für heute genug erlebt! Ich sollte jetzt in den schlafenden physischen Körper zurückkehren und die Sache noch protokolieren!»
Auch habe ich keinen Mumm mehr, jetzt gerade weiterzumachen. Also überlasse ich mich der auftretenden Müdigkeit und erwache kurz darauf im Bett. Es ist 01:30.
«Meister Lü Dsu sprach: Es gibt
vielerlei Bestätigungserlebnisse. Man darf sich nicht mit kleinen Ansprüchen
begnügen, man muß sich zu dem Gedanken erheben, daß alle
Lebewesen erlöst werden müssen. Man darf nicht leichten und nachlässigen
Herzens sein, sondern man muß danach streben, daß die Worte durch
Taten bewiesen werden.» (Wilhelm (1929) 1965:102)
Es ist
natürlich folgendes zu berücksichtigen:
«Entsprechend der
Veranlagung der Menschen erscheinen jedem verschiedene Dinge» (Wilhelm
(1929) 1965:104). Dem wäre nur noch beizufügen, daß der
kulturelle Hintergrund die 'archetypischen' Erscheinungen maßgeblich in
ihrer Detailausbildung ideoplastisch mitbeeinflußt. Aber grundsätzlich
ist es egal, was erscheint, denn wichtig ist allein das Verhalten des Ich gegenüber
einem Erscheinungsbild. Im Märchen von der "Frau Holle" schnarrt
das Brot im Backofen:
«Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst
verbrenn ich: ich bin schon längst ausgebacken.»
Eine solche
Situation verlangt nach einer bewußten Entscheidung. Das Ich sollte sich
jetzt «zu dem Gedanken erheben, daß alle Lebewesen erlöst werden
müssen» (Wilhelm (1929) 1965:100).
Die Idee des "diamantnen
Leibes", des unverweslichen Hauchkörpers, scheint - wie die Behauptung
eines "Fortdauern des Lebens nach dem Tode des physischen Körpers"
- zunächst eine bloß metaphysische Behauptung zu sein, die eine
leicht durchschaubare Vermischung physischer und geistiger Dinge darstellt.
Kommt es jedoch zu einer Erfahrung wie der vom 18. Juli 1979 , d.h. zur "Entstehung
des Diamantkörpers", verliert sich die absolut scheinende Gegensätzlichkeit
von Leben und Tod, denn der Prozeß der totalen Auflösung, Umwandlung
und Neuzusammensetzung läßt sich offensichtlich "problemlos"
überstehen.
Wenn das Geschehen jedoch genauer betrachtet wird,
zeigt es sich, daß es von der allergrößten Bedeutung ist, die
Identität von Ich und Körper zu hinterfragen und als bloßen
Schein zu erkennen und zu entlarven. Würde dies nicht getan, müßte
es unweigerlich zur Folterung und damit zu massiver Schmerzbildung kommen. Die
eigentliche Schwierigkeit vieler Menschen dürfte darin bestehen, daß
sie andauernd Ich und Körper als identisch betrachten. Wenn der Körper
leidet, leidet das Ich. Wenn der Körper stirbt, stirbt das Ich.
Die
Identifikation von Körper und Ich ist fatal, denn sie zwingt das Ich, sich
von der Wiege bis zur Bahre mit einem ganz bestimmten Inhalt des Bewußtseins
gleichzusetzen. Dies geschieht erstmals auf der physischen und dann wieder auf
der hauchkörperlichen Ebene. Zuerst wird der materielle Leib als
wesentlicher Lebensträger bezeichnet. Auf dieser 'Stufe' verharrt
normalerweise der westliche Mensch, und er muß alles daran setzen, mit
Hilfe bestimmter Techniken jung und schön zu bleiben und möglichst alt
zu werden. Ein nächster Schritt besteht dann darin - wiederum mittels
bestimmter Techniken - einen "Hauchkörper" zu entwickeln, der
langes Leben verleiht.
Pien Tao-schi sagte: «Unsterblichkeit ...
bedeutet genau das, was ihr Name besagt - kein Tod, zumindest für die Dauer
vieler Äonen. Ich selbst habe die feste Absicht, meinen Körper in eine
schimmernde, diamantartige Substanz zu verwandeln, gewichtlos und doch hart wie
Jade. Das ist der einzig sichere Weg» (Blofeld 1974:51-52).
Ob
Jahre oder Äonen, am Ende wartet der Tod - und der ist geduldig. Aber er
kann immer nur einen Körper erfassen, niemals aber das Ich als bewußtseinskontinuierliches
Wesen. Wenn es gelingt, die "große Umkehr" von der Sicht auf den
Körper als 'feststehender' BK-Inhalt hin zur Sicht auf die BK 0/0 zu
vollziehen, relativiert sich jede Art von Körperlichkeit. Daß ein "diamantner
Leib" wie der "physische Körper" eines Tages zerfallen wird,
scheinen auch einige östliche Meister übersehen oder vergessen zu
haben.
Nun geht es allerdings in einem ersten Schritt darum, den "Erdgeist"
aus seiner Verhaftung an die Materie zu befreien. Bei diesem Prozeß wird
der physische Körper im Verlaufe des irdischen Lebens durch den "Hauchkörper"
ergänzt und beim Tode desselben durch ihn ersetzt. So ziemlich alle
Meditationstechniken und Yogaübungen bezwecken dies. Außerdem zeigen
sie, daß das "Psychische" sowohl 'physisch' wie auch 'geistig'
ist. Der Begriff einer psychischen Realitat wird in dem Moment 'greifbar', wenn
der Mensch beginnt, bewußt in die Welt der "nächtlichen
Erfahrungen" einzutauchen und dabei zu erkennen, daß physischer und
subtiler Körper nicht dasselbe sind und sich zudem als körperliche
Vehikel (und Formen des Geistleibes) wiederum von der Bewußtseinskontinuität
unterscheiden.
«Am besten ist es freilich, wenn das Licht sich
schon zu einem Geistleib verfestigt hat und allmählich seine Lebenskraft
die Triebe und Bewegungen durchdringt. Aber das ist ein Geheimnis, das seit
Jahrtausenden nicht verkündet worden ist» (Wilhelm (1929) 1965:80).
Nun denn, es braucht auch nicht verkündet zu werden, denn jeder Mensch kann
es erleben!
9. Das Monster aus den Tiefen des Gehirns
Am 13. September 1998 um 00:20 Uhr kommt es zu
einer Auseinandersetzung, bei der die Luzidität entscheidend gefordert
wird. Das Geschehen spiegelt mit aller Deutlichkeit die gedankliche
Auseinandersetzung mit der immer wieder geäußerten Auffassung, alles
würde sich NUR im Gehirn abspielen und sei deswegen bloß eine
Illusion. Diese immer wieder geäußerte Meinung beruht vor allem auf
einem kritiklos übernommenen rationalistisch-materialistischen Verständnis,
das meint, alle Probleme ließen sich mit naturwissenschaftlichen Mitteln lösen
und erklären - statt die Notwendigkeit einer Wandlung der bewußten
Einstellung gegenüber dem Irrationalen anzuerkennen und das "Bauchgehirn"
sprechen zu lassen, wie dies Remo F. Roth in
«Die
Visualisierung psychosomatischer Symptome oder Symptom-Symbol-Transformation»
beschrieben hat.
... Ich steige auf der linken Seite der Wohnstube eines Hauses in den Bergen eine Treppe hinunter in den Keller. Hier fällt mich plötzlich ein wutschnaubendes, geiferndes, grün-graues Monster an. Es gelingt mir nur äußerst knapp zu entkommen und die Steintreppe wieder hinaufzurennen. Nach einigen Minuten der Besinnung fasse ich all meinen Mut zusammen und gehe noch einmal in den Keller hinunter, nehme aber dieses Mal die Treppe rechts - in der Hoffnung, damit insofern eine etwas andere Ausgangslage zu erzwingen, als das Ungetüm nicht erwartet, daß der Eindringling von dieser Seite her sein Reich betritt. Mir scheint es wichtig, das Monster genauer anzusehen.
Auf der letzten Stufe bleibe ich sicherheitshalber stehen und schaue mich um. Links führt zwischen den beiden Treppen ein breiter Gang in die Dunkelheit hinein. Irgendwo dort hinten lauert ein gräßliches Monstrum, das sofort auf mich aufmerksam werden wird, wenn ich es wage, die letzte Stufe hinunterzusteigen. Eine beängstigende Vorstellung. Ich frage mich ernsthaft, was zu tun ist. Dabei steigen Erinnerungen an ähnliche Situationen auf. Es wird mir auch klar, daß sich eine Konfrontation nicht vermeiden läßt. Was ist also zu tun? Ein Zurückgehen wäre sinnlos. Es hätte bloß aufschiebende Wirkung. Ein Vorwärtsgehen wird das Monster, gegen das ich keinerlei Chance habe, unweigerlich lebendig werden lassen. Aber gibt es überhaupt eine andere Möglichkeit als das Entweder-Oder des Vorwärtsgehens oder des Zurückweichens?
Andererseits ... es gibt noch ein Drittes, nämlich die Bewußtwerdung. Wo bin ich denn? Was geschieht? Nach kurzem Überlegen wird mir klar, daß es sich hier eindeutig um ein Traumgeschehen handelt! Ich realisieren dies mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit. Meine momentane Lage ist die eines wachbewußten Träumers in einem luziden Traum! Also kann ich jetzt dank der Bewußtseinskontinuität und dem Wissen, daß mir nichts geschehen kann, problemlos weitergehen. Ok - das wäre also geklärt, und die Angst ist damit definitiv überwunden.
Ein letzter Schritt über die letzte Stufe hinunter, und dann wende ich mich furchtlos nach links und gehe den dunklen, breiten Gang hinunter. Das Monster wird bald merken, daß jemand kommt, aber es wird sich mit jemandem konfrontiert sehen, der sich der Tatsache, in einem Traum zu sein, bewußt ist.
Die Einsicht, in ein Traumgeschehen
verwickelt zu sein, ändert prinzipiell nichts an der Situation als solcher,
in die sich das Ich im Traum hineingestellt sieht. Sie ändert vor allem
auch nichts an der Frage, ob das Ich unter diesen Voraussetzungen situationsadäquat,
in eigener Verantwortung und unter Berücksichtigung der Gegebenheiten
handeln soll - oder ob es situationsvermeidend, d.h. rücksichtslos und
einzig den eigenen Wunschvorstellungen gemäß vorgehen will.
Aufgrund
des die Lage stark vereinfachenden Gedankens, alles spiele sich NUR im
Gehirn ab, ist eine total andere Haltung dem Geschehen gegenüber möglich.
Nicht mehr eine beinahe ausschließlich passiv erleidende, sondern eine
rigoros aktiv handelnde. Das NUR erlaubt es nämlich, völlig
willkürlich zu verfahren. So kann z.B. die vorgegebene Situation
augenblicklich verlassen und aus ihr ausgestiegen werden. Wer erfahren ist im
luziden Träumen kann z.B. die gesamte Umgebung nach eigenem Gutdünken
und gemäß den eigenen Wunschvorstellungen beinahe (!) beliebig verändern
und notfalls das Traumgeschehen durch ein Erwachen im Bett beenden. Derartige Möglichkeiten
ergeben sich aber ERST durch die Luzidität als solche. Sie sind
eine Folge der Bewusstheit! Da sie auf dem Gedanken beruhen, ALLES
spiele sich NUR im Gehirn ab, sollte dieser Gedanke unbedingt zu Ende
gedacht werden. Auch sollte das "beinahe" etwas genauer unter die Lupe
genommen. Das luzide Ich hat die Aufgabe, eine "Verdunkelung des Gehirns"
(nigredo), ein "abaissement du niveau mental" zuzulassen und die
Ichvorstellungen bewußt zurückzunehmen. Dies ist gerade WEGEN
der Bewußtheit des Ich in einem luziden Traum sehr schwierig, denn es
bedeutet, daß BEWUßT auf eine Beeinflussung und damit auf
Machtausübung verzichtet wird!
Als erstes ist allerdings
daran zu denken, daß das Gehirn als solches in seinen effektiven
Dimensionen und tatsächlichen Eigenschaften keineswegs vollumfänglich
bekannt bzw. erforscht ist. Es muß deshalb damit gerechnet werden, daß
die Erforschung des Gehirns noch einige Überraschungen bieten wird. Es ist
- abgesehen davon, daß noch nicht allzu viel bekannt ist - überhaupt
nicht möglich, das Gehirn vollständig zu "entschlüßeln"
und zwar aus Gründen, welche die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie
deutlich aufzeigt. Diese Tatsache muß allerdings für das "normale"
luzide Ich und seine Entscheidungen im Traum und im Alltag keine sonderlich große
Rolle spielen - es sei denn, es würde sich ernsthaft mit den "letzten
Dinge" an der Forschungsfront auseinandersetzen. Es ist zwar nicht
unbedingt notwendig, sich darüber Klarheit zu verschaffen, welches die tatsächlichen
Grenzen des Gehirns "in Raum und Zeit" sind und ob das "Kopfgehirn"
einen Zwilling hat, der "Bauchgehirn" genannt werden kann, das dem 3.
und dem 2. Chakra von unten, dem manipura und dem svadhisthana, entspricht -
aber es wäre für die spirituelle Entwicklung förderlich und zudem
heilsam für die Seele, wenn gewisse Fragen gestellt würden.
Und
ob nun die feinsten Verästelungen der sensiblen und motorischen Nerven in
den Zehen oder irgendwelche hormonbildenden Drüsenzellen zum Gehirn gehören
oder nicht, ist - schalkhaft gesagt - auch nicht nowendigerweise zu
hinterfragen. Niemand braucht sich ferner darum zu kümmern, ob
beispielsweise das soeben eingeatmete Sauerstoffmolekül vor einiger Zeit
Bestandteil eines Neurotransmitters im Stammhirn eines in der Savanne
verwesenden Elefanten in Afrika gewesen ist und nun bald einmal zu einem
Bestandteil einer eigenen Nervenzelle im Vorderlappen des Gehirns oder im
Solarplexus werden wird. Daß es gewisse Leute gibt, die meinen, Moleküle
seien fähig, sich zu erinnern, kann ebenfalls als ein bloß
hirnrissiger Gedanke bezeichnet werden, der nicht weiter beuruhigend ist. Und daß
Neutrinos, die das Gehirn unbemerkt durchqueren wie zuvor vielleicht einmal
einen Stern des Plejadensystems, muß bestimmt nicht unbedingt genauer
bedacht werden. Oder doch?
Wenn von der Annahme ausgegangen wird, ALLES
spiele sich NUR im Kopfgehirn ab, muß dieser Gedanken wirklich
konsequent zu Ende gedacht werden - und dann sind eben die oben erwähnten
Dinge etwas genauer zu bedenken. Einem ALLES unterliegt sowohl der
Alltag als auch die Welt des Traumes. Es stellt sich deshalb die Frage, was denn
alles zu dem ALLES gehören soll, und ob es nicht besser wäre,
sich auf einen überschaubaren Teil zu beschränken, auch wenn dieser
Teil andauernd im Verlauf des Forschungs- und Erkenntnisprozesses erweitert
wird. Außerdem stellt sich die Frage, ob es nicht klüger wäre,
das Ich zurückzunehmen und dem "Selbst" das unüberschaubare
Feld des ALLES zu überlassen, denn Größenwahn ist
kontraproduktiv, verunmöglicht ein harmonisches Zusammenleben und führt
zu einer egoistischen Rücksichtslosigkeit sondergleichen. Darüber ist
schon sehr viel gesagt worden - und zwar nicht nur seitens der Tiefenpsychologie
-, so daß an dieser Stelle bloß an die für die Menschenwürde
eher förderliche Unterscheidung von Ich und Selbst erinnert werden soll.
Eine
weitere mögliche Konsequenz derartiger Überlegungen ist, daß das
luzide Ich sich dem Traumgeschehen nicht zum vorneherein durch einen
Querausstieg verweigert, sondern die Situation als solche akzeptiert und
freiwillig in ihr als eine abwartend beobachtende und gleichzeitig jederzeit
aktiv handlungsfähige Person verbleibt. Dieses Verhalten bezeichnet Jayne
Gackenbach als "Witnessing Dreaming". Praktisch bedeutet dies, daß
das Ich auf eine Beeinflussung "um jeden Preis" zugunsten des "handelnden
Nichthandelns" und der "aktiven Passivität" verzichtet und
sich in aller Bescheidenheit zurücknimmt. Für eine derartige
Verhaltensweise muß sich das Ich allerdings erst einmal bewußt und
in eigener Verantwortung entscheiden. Ob diese Entscheidung die richtige ist,
wird sich im Verlaufe der Jahre zeigen, denn das Ich befindet sich in einer
andauernden Wechselwirkung mit seiner Umgebung, egal wie es diese benennen mag -
und es strebt unweigerlich dem Ableben des physischen Körpers zu. Glück
und Zufriedenheit, Lebenssinn und Erkenntnis mögen alles Hirnfunktionen
sein, aber letztes Endes bleibt dem Ich einzig und allein die Erfahrungsgewißheit
jenseits aller theoriekonformen Vorstellungen und Bestätigungen durch Außenstehende.
Und es bleibt das Wissen, das aus dem "Bauch" kommt.
Ich erwarte, daß in jedem Moment das bestialische Monster auftaucht. Aber nichts dergleichen geschieht. Nun denn, ich denke, der Gedanke, irgendwie spiele sich alles im Gehirn als dem Schauplatz des rein Subjektiven ab, ist nicht unbedingt von der Hand zu weisen. Zudem fasziniert er bis zu einem gewissen Grade zugegebenermaßen auch mich, denn er entlastet das Ich, indem er dem Ich die Bürde der Verantwortung abnimmt. Andererseits reizt es mich doch zu sehr, in Erfahrung zu bringen, was nun geschehen wird. Ein "Ausstieg" wäre zu einfach. Was macht das "Gehirn" mit einer völlig neuartigen Situation? Wenn ich das Szepter schon nicht selbst übernehme, was problemlos aufgrund der Luzidität möglich wäre, muß etwas anderes oder eben gar nichts passieren.
Langsam gehe ich Schritt für Schritt weiter. Es wird dunkler und dunkler. Wo ist das Monster? Plötzlich spüre ich etwas Weiches unter meinen Füssen. Was zum Teufel ist denn dieses? Ich bücke mich und greife mit blossen Händen in eine flauschige, wattige und knäuelartige Masse. Wahrscheinlich ist das Monster zerfallen und hat sich dabei in dieses Zeugs verwandelt. Merkwürdig! Ekelhaft! Aber wozu bin ich denn luzid!? Es wäre mir möglich, die Auseinandersetzung mit dem Wattezeugs zu umgehen, es ist aber auch möglich, den Ekel zu überwinden und die Berührung mit der Masse sozusagen zu vertiefen. Ich entschließe mich dazu, mich in das Unbekannte hineinzuwühlen und das undefinierbare Zeug trotz meiner Abscheu regelrecht durchzukneten.
Schon nach den ersten Bewegungen beginnen sich die lockeren, kokonartigen, fädigen Knäuelmassen zu meiner Verblüffung neu zu formieren. Nach einigen Minuten entsteht durch das unabläßige Kneten ein Gebilde unbekannter Form, das sich nach und nach als langer Mantel von pelzartiger Struktur entpuppt. Schließlich ziehe ich tatsächlich einen Mantel aus der verbleibenden Masse, hebe ihn hoch und laufe zurück an den Ort, wo es heller ist. Unten an der Treppe angelangt, halte ich das merkwürdige Gebilde ins Licht. Es ist blaßweiß und von Dutzenden von ockerfarbenen querliegenden kurzen Streifen durchzogen. Von irgendwoher weht ein Wissen heran, das mir sagt, dies sei ein Schutzmantel, den ich unbedingt überziehen solle, denn es werde bald zu einem Krieg bzw. zu einer kriegerischn Auseinandersetzung kommen.
Ich ziehe den Mantel an und steige die Treppe wieder hoch.
Es kann nicht bestritten werden, daß
der Mensch zum Denken das Gehirn braucht, doch das bedeutet nicht, daß
alle Gedanken und Ideen auch dort im Kopf oben entspringen. «Vielleicht
erhalten wir einen Teil von ihnen aus einer anderen Quelle, aus irgendeinem großen
Organ von Gedanken und Ideen, das irgendwo außerhalb ... seine eigene
unabhängige Existenz führt.» (Morton & Thomas 1998:77)
Es stellt sich demnach die Frage, ob es «auf einem unbewußten Niveau
ein universelles Kommunikationsnetz» (ibid.) gibt. Das Ich wäre
gut beraten, sich zu jeder Zeit so zu verhalten, ALS OB es etwas geben würde,
das seinen Horizont bei weitem übersteigt - bei weitem! - auch wenn es in
den unteren Regionen im Solarplexusbereich, im "Bauchgehirn"
angesiedelt sein sollte.
Wenn jemand tagsüber die Augen schließt,
mag für die betreffende Person der Eindruck entstehen, die Welt habe sich
aufgelöst und sei verschwunden. Exakt diesen Versuch kann ein luzides Ich
auch im Traumzustand machen - die Welt wird verschwinden. Nach einiger Zeit können
die Augen wieder geöffnet werden. Falls keine Ortsveränderungen
geschehen sind und die "Abwesenheit" nur kurze Zeit gedauert hat, wird
- wenigstens auf der physischen Ebene - mit größter
Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden können, daß keine oder nur
minimste Veränderungen stattgefunden haben. Dem Alltag kann zweifelsohne
und trotz der emotionalen Schwankungen eine gewisse Stabilität zugesprochen
werden. Dies erleichtert die Orientierung doch sehr. Die Ebenen der Traumwelten
sind nicht derart festgefügt und machen deswegen eher den - trügerischen
- Eindruck, sie seien einzig und allein abhängig von den "oberen"
Hirnfunktionen.
Fortsetzung 10. Welten des Lichts in:
Die Spur der Quader Teil 10
Konvertierung zu HTML Juni 1999
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