Quellen der Nacht
2. Kapitel / Teil 5
Werner Zurfluh
(1983) 3. erw. Aufl. 1996 im HTML-Format
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2.6. Die Angst vor dem Fremden, Hindernis auf dem Weg zu einem neuen Traumverständnis

Ein Träumer, der sich im Traum seines Zustandes und seiner Ich-Identität nicht voll bewußt bleibt, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, seinen ethischen Verpflichtungen nicht nachzukommen. Diese Anschuldigung bedarf der Begründung. Da es sich bei diesem Versäumnis um eine unbewußt begangene Schuld handelt, ist zu fragen, welche Sachverhalte zu dieser Anklage führen. Zunächst ist einmal zu beachten, daß Träume nicht einfach objektiv gegebene Naturprodukte sind, sondern in erheblichem Maße von den Wünschen und Vorstellungen der Träumer abhängen. Das Traumgeschehen wird von egoistischen Impulsen, Verdrängungsmechanismen und starken Widerständen in vorgebahnte bildliche Ausdrucksformen hineingepreßt, die den gewohnten Auffassungen nicht widersprechen. Es ereignet sich nichts (bzw. nichts Vordergründiges), was die Priorität der Alltagswirklichkeit und der gesellschaftlichen Bedürfnisse in Frage stellt. Damit auch wirklich nichts Widersprüchliches geschehen kann, träumt man sicherheitshalber mit einem Traum-Ich, denn das Vorhandensein eines wachbewußten Ichs würde ja bedeuten, daß man sofort kritische Fragen stellen kann - an die Umgebung und an die eigenen Verhaltensweisen.

Gegenüber der Akzeptierung anderer Realitäten besteht eine unüberwindlich scheinende Abscheu. Deshalb lehnt man es ab, sich tagsüber und während des Traumgeschehens darum zu bemühen, auch bei schlafendem physischen Körper in einem anderen Seinsbereich wachbewußt zu werden oder zu bleiben. Der Kelch der Mitverantwortlichkeit für das Geschehen auf allen Wirklichkeitsebenen geht Nacht für Nacht am Schläfer vorüber, wenn er sich nicht um die Aufrechterhaltung der vollbewußten Ich-Identität kümmert. Mit dem Vorhandensein eines wachbewußten Ichs müßte die Erkenntnis bis zur bitteren Neige ausgekostet werden. Und je mehr man um die Zusammenhänge weiß, desto schwerer wiegt die moralische Belastung. Alle bewußt mitvollzogenen Wechselwirkungen beanspruchen die Integrität der Beteiligten in erhöhtem Maße und machen eine Harmonisierung der verschiedenen Realitätsebenen in horizontaler und vertikaler Richtung zur ethischen Verpflichtung. (Anm.1) Im Alltag geht es deshalb darum, Not und Leiden zu lindern und deren Ursachen aufzulösen, während die nächtlichen Erfahrungen das Ich lehren, sich so weit zurückzunehmen, daß das Ganz-Andere geschehen und in alle Wirklichkeitsebenen einfließen kann. (Inhalt)

Weil es mir schon oft möglich war, beim Einschlafen meine Ich-Stabilität bzw. die Bewußtheit beizubehalten, weiß ich, daß Ausdrücke wie 'wach' und 'wachbewußt' nicht auf den Wachzustand des physischen Körpers eingeschränkt sind. (Anm.2) Aufgrund der Kontinuität des Ich-Bewußtseins im außerkörperlichen Zustand gehe ich von der Arbeitshypothese aus, bei den Welten, die ich außerkörperlich erlebe, handle es sich um Wirklichkeitsbereiche wie den Alltag. Jenseits und Diesseits sind einander ebenbürtige Realitäten!

Durch die Offenheit für das Andere, die Ausweitung der Ich-Bewußtseins-Kontinuität auf 24 Stunden täglich und die Akzeptierung einer multidimensionalen Wirklichkeit wird die bisherige Sicht der Dinge wesentlich verändert. Es entstehen Risse im festgefügten Weltbild. Der Absolutheitsanspruch der Alltagsrealität bricht zusammen. Aus diesem Grunde mag es beruhigender sein, weiterhin mit dem alten Traum-Ich so zu träumen wie bisher. Auf diese Weise beruhigt man seine eigenen Unsicherheiten, denn durch Anwendung (altbewährter) Methoden gibt man sich die Gewähr, fachlich korrekte Pfade gegangen zu sein und offizielle Wegweiser als Orientierungshilfen benutzt zu haben. (Inhalt)

Vielen behagt die volltechnisierte Methodik der modernen Psychologie gefühlsmäßig nicht. Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, unüberwindbare Widerstände zu haben. Ein kaum zu entkräftender Einwand! Ist man dann unfähig, die ablehnenden Gefühle mit wissenschaftlichen und von der Psychologie anerkannten Argumenten auszudrücken, bleibt nur Resignation oder ohnmächtige Wut. Um nicht stillhalten zu müssen und sich formulieren und in die Diskussion eingreifen zu können, ist man gezwungen, Psychologie zu studieren. Man hat sich die entsprechende Terminologie anzueignen und sich einer langjährigen Analyse zu unterziehen. Die Psychologen wissen natürlich, daß die 'Rebellen' sich auf diese Weise in die theoretischen Netze verstricken und zahm werden - das Monopol bleibt bestehen.

Fachspezialisten verlangen stets die Benutzung (und Bezahlung!) der ausgeschilderten methodischen Wege und behaupten, das eigentliche Ziel zu kennen. Ihrer Meinung nach geht es bloß darum, die persönlichen Widerstände zu überwinden und von der entsprechenden negativen Übertragung abzusehen. Deshalb solle man sich darum bemühen, das bereits Vorhandene und von der Psychologie Erforschte genauestens zu studieren und auf diesem Gerüst höher hinaufzusteigen. Der Bau müsse durch zusätzliche Kenntnisse vervollständigt und durch persönliche Beiträge stilvoll bereichert werden. Die axiomatischen Grundlagen der Psychologie werden nicht in Frage gestellt. Tut man dies trotzdem, so wird man in wahre Abgründe blicken, die intersubjektiven Übereinkünfte erschüttern und den Ausschluß aus der Geborgenheit sorgfältig errichteter (rationaler) Weltbilder erzwingen. Es ist nichts weniger denn der soziale Tod (Anm.3), der im Hintergrund mit all seinen Ängsten droht. Diesbezüglich läßt der folgende Traum an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: (Inhalt)

6. Januar 1974 III
In einem Haus, das wie das komplizierte Gerüst eines unvollendeten Turmes aussieht, sehe ich unten auf dem Boden eine undefinierbare, lebende Masse, die langsam aus der Tiefe heraufgekrochen kommt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, um was es sich bei diesem schleimigen Ding handelt. Deshalb bin ich verunsichert und verängstigt und versuche krampfhaft, höher hinaufzuklettern. Ich will mit dem pulsierenden Etwas unter keinen Umständen in Berührung kommen.

Unten auf der Höhe des gestaltlosen und sich ständig in seiner Form verändernden Dinges halten sich außerhalb des Turmgerüstes Geister auf, die bestimmt eine enge Beziehung zu diesem grauenhaften Wesen haben.

Dieser dritte Traum vom 6. Januar 1974 nahm die Problematik des zweiten wieder auf. Beim Autofahren ging es um eine horizontale Erschließung, während hier die Vertikale dargestellt wurde. Als Träger des Rationalen glaubte ich oben zu sein, weit weg von jenem Urgrund, in dem das Unstrukturierte und Unberechenbare schlummerte. Aber nun hatte ich es durch meine Beschäftigung mit dem Problem der Außerkörperlichkeit geweckt und in jenen Potenzen herumgewühlt, die im irdischen Leib verborgen waren und normalerweise mit einem festen Überbau abgedeckt werden. Mit dem Lebendigwerden dieser Fähigkeiten kam es zu Erschütterungen, zu einem Erdbeben, welches das rationale Gerüst bedrohte, auf dem ich mich bisher einigermaßen sicher gefühlt hatte. Ich versuchte immer höher in das Gedankengebäude der wissenschaftlichen Erkenntnis hinaufzusteigen, um nicht in Berührung mit dem Unfaßbaren und den Geisterwesen zu kommen. Das Verhalten des Traum-Ichs war ganz von diesem Bestreben besessen. Nur im luziden Zustand hätte ich etwas gegen diesen 'Reflex' tun können. Vielleicht hatte ich mir das Turmgerüst sogar selbst geschaffen, um irgend etwas Festes unter die Füße zu bekommen - in der Hoffnung, diese Masse, die aus dem 'Materiellen' hervorbrechen konnte, zu verstehen. Bei mir spukte das Rational-Begriffliche nicht mehr im Kopf, das Geistige spukte an der Basis - eine eindrückliche Darstellung der bedrohlichen erkenntnistheoretischen Konsequenzen meines Tuns. (Inhalt)

Über den gräßlichen Traum durfte ich mich nicht wundern. Ich erlebte ihn, weil ich ständig versucht hatte, die nächtlichen Erlebnismöglichkeiten mit den aus dem Alltag mit hinübergenommenen Anpassungsleistungen und den erlernten Methoden zu bewältigen. Ich hatte zu viele vorgefaßte Meinungen über die Welt der Träume und war deshalb unfähig, die nächtlichen Erfahrungswelten als eigenständige, nichtreduzierbare Wirklichkeit gelten zu lassen - Welten, die ihren eigenen Gesetzen gehorchten und von mir völlig andere, nicht-alltägliche Anpassungsleistungen verlangten. Außerdem hatte ich Angst. Ich fühlte mich ohne Deutungstechniken und Orientierungshilfen verloren und dem drohenden Unbekannten ausgesetzt. Ich spürte genau, daß die nach mir greifende seelische Realität mit den mir bisher zur Verfügung stehenden Mitteln nicht zu packen und mit Dingen verbunden war, die ich am liebsten draußen gelassen hätte, da sie nicht in das bestehende System eingebaut werden konnten.

Da gab es etwas, was meinen mühsam errichteten wissenschaftlichen und psychologischen Turmbau erschütterte und in Frage stellte - und mich zwang, meinen Sozialstatus zu verändern! Und ich hatte zu diesem Etwas kein Vertrauen, sondern blieb mißtrauisch und argwöhnisch, bedacht auf die Erhaltung meiner Privilegien. Ich weigerte mich, auf die Stimme meines Herzens zu hören, obwohl sie mir deutlich zu verstehen gab, daß es im Himmel und auf Erden viel mehr gab, als ich es mit dem Kopf und meiner Schulweisheit je zu erträumen vermochte. Also mußte ich den ersten 'Traum' in dieser Nacht auf den 6. Januar 1974 genauer beachten - um herauszufinden, in welcher Richtung ich weitergehen mußte und welche Verzichtleistungen zu erbringen waren. Im ersten 'Traum' war ich nämlich - im Gegensatz zu den anderen beiden, die ich schon erzählt habe - luzid gewesen. Dadurch wurde es mir möglich, mich situationsadäquat zu verhalten - und dies wiederum wies mich auf Mittel hin, die für eine gütliche Einigung mit dem monströsen Etwas neben der Luzidität notwendig waren: das Wissen der Ekstatiker, Mystiker und Schamanen. Auch die Märchen hatte ich noch zu wenig im Hinblick darauf gewürdigt, daß sie Geschichten von Wirklichkeitsebenen sind, in denen andere Gesetze gelten und mythische Wesen existieren, mit denen das Ich eine Beziehung aufnehmen und wechselwirken kann wie bei einem Wesen im materiellen Bereich. Nun aber kam der Pegasus und erteilte mir eine Lektion. (Inhalt)


2.7. Dämmerung eines neuen Zeitalters - mitten in der Nacht kommt der Pegasus

6. Januar 1974 - I
Mitten in der Stadt Basel laufe ich von der Steinentorstraße her kommend Richtung Heuwaage. Ich weiß ganz genau, daß ich mich im Traumzustand befinde und auf einer nichtalltäglichen Wirklichkeitsebene bei voll intaktem Ich-Bewußtsein existiere. Da ich dies schon mehrere Male erlebt habe, wundere ich mich nicht darüber. Es wird natürlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, die Tatsache meiner Ich-lntaktheit mit den Konzepten der Tiefenpsychologie in Einklang zu bringen. Aber jetzt interessiert mich das nicht. Vielmehr möchte ich die günstige Gelegenheit nutzen, das Traumgeschehen nach meinen eigenen Absichten zu gestalten. Was soll ich tun? Es ist Nacht, und niemand außer mir geht durch die dunklen Straßen.

Plötzlich höre ich ein unheimliches Rauschen, das wie das Zischen einer Feuerwerksrakete tönt. Erschreckt wende ich mich um und sehe ein geflügeltes Pferd am nächtlichen Himmel. Es fliegt in einem weiten Linksbogen über die Elisabethenkirche hinweg und zieht eine feurige Bahn wie ein Komet. Das Pferd ist von gedrungener Gestalt und besitzt drei Flügelpaare. Das eine Paar ist deutlich größer und entspringt in der Mitte des Rumpfes, die anderen beiden setzen weiter vorne an.

Unwillkürlich muß ich an einen fliegenden Teufel denken - das Pferd des Teufels, ein 'eiserner' Drache von einer Art schwefelgelben Farbe, wie ich sie noch niemals gesehen habe. Der Pegasus fliegt direkt auf mich zu. Der Gedanke, daß er bei mir landen könnte, erschreckt mich. Das würde bedeuten, daß ich aufsitzen darf. «Er reitet den Teufel!» hätte es früher geheißen. Und das wäre mehr als gefährlich gewesen.

Das geflügelte Roß landet tatsächlich und trottet geradewegs auf mich zu. Stoßweise faucht es Hitze und Feuer aus seinen geblähten Nüstern. Merkwürdigerweise habe ich keine Angst mehr. Ich wundere mich vielmehr über das plötzlich entstandene Gefühl innerer Verbundenheit, das mich ohne Scheu aufsitzen läßt. Ich halte mich am vordersten Flügelpaar fest, das mich irgendwie an riesige Insektenbeine erinnert.

Schon 'donnert' der Pegasus los. Er galoppiert zuerst einige Meter über die Straße, bis ich ihm mittels Schenkeldruck anzeige, daß er in die Luft fliegen soll. Ich glaube ihm diese Hilfe geben zu müssen, da ich annehme, er könne die Leitungsdrähte der Straßenbahn und der Straßenbeleuchtung nicht sehen. Das Pferd richtet sich aber optimal nach den Gegebenheiten und steigt beinahe senkrecht in die Höhe. Auf diese Weise bewältigt es die Gefahr meisterhaft.

Es ist ein herrliches Gefühl, auf dem Rücken des Pegasus über die Stadt hinwegzufliegen - trotz der Flauheit in der Magengegend. Vermutlich soll ich lernen, welche Empfindungen bei einem Flug mit relativ hoher Geschwindigkeit auftreten. Es geht jetzt nur darum - deshalb steuert das Pferd bald wieder die Erde an und setzt mich an derselben Stelle ab, von welcher wir gestartet sind.

Dann wird mir doch ein wenig schwindlig, und ich weiß nicht mehr genau, wo ich bin. Kaum habe ich mich etwas erholt, da trage ich eine große Amphore in meinen Armen. Das Gefäß ist auf unerklärliche Weise aus dem Pegasus entstanden. Was soll ich damit anfangen? - Es ist derart groß, daß ich es kaum allein halten geschweige denn tragen kann. Ich gehe in ein Restaurant und frage die Leute. Doch auch sie wissen nichts mit der Amphore anzufangen und können mir nicht weiterhelfen. (Inhalt)

Die Begegnung mit dem Pegasus, dem geflügelten Reittier der Jenseitsreisen und dem Symbol der Beschwingtheit der Erzählkunst, ist gleichzeitig auch eine Konfrontation mit einem besonderen Aspekt des beginnenden Wassermannzeitalters. Als 'Pegasus' wird nämlich jene Sternkonstellation bezeichnet, «die, über dem zweiten Fisch stehend, dem Aquarius vorausgeht in der Präzession der Tagundnachtgleiche» (Jung 1973:365). Deshalb sei kurz an die Entstehungsgeschichte des Pegasos erinnert, wie sie in den griechischen Mythen erzählt wird.

Poseidon, der Gott des Meeres, der Erdbeben und der Pferde, verführte eine junge, schöne Frau, die Medusa hieß. Diese Poseidonsbraut wurde später zu einer derart schrecklichen Gestalt, daß Perseus - um nicht selbst unterzugehen - sie köpfen mußte. Kaum hatte der Held den Gorgokopf abgehauen, sprang aus dem Hals (Anm.4) der Medusa das geflügelte Roß und sein Bruder Chrysaor hervor. (Anm.5) Das Flügelroß wurde zum Liebling der neun Musen, die auch Mneiai (Anm.6), 'Gedächtnisformen', genannt wurden, womit der Zusammenhang zwischen der Art und Weise des Hineingehens in den nächtlichen Erfahrungsbereich und der dadurch möglich gewordenen Wechselwirkung mit den 'jenseitigen' Wesen deutlich wird. Perseus hatte die Medusa geköpft und damit die furchterregende Torhüterin zur Unterwelt der Kopflastigkeit beraubt, so daß aus ihr der Pegasus geboren werden konnte. Später wurde das Pferd zum Liebling der neun Musen, welche dem Träger des kontinuierlichen Ich-Bewußtseins als Gedächtnisformen zur Verfügung stehen. So wird er befähigt, die Erinnerung an das auf der anderen Seite Gesehene ins Diesseits hinüberzutragen. (Inhalt)

Das geflügelte Pferd leitet das neue Zeitalter ein, das in der astrologischen Tradition als Wassermann dargestellt wird, der ein Gefäß in Händen hält, aus dem Wasser strömt. «Im Namen Pegasos selbst ist der Bezug auf eine hervorsprudelnde Quelle, pege, ausgesprochen», denn «unter seinem Hufschlag» soll «die Hippukrene, 'des Pferdes Quelle', auf dem Helikon entsprungen sein.» (Anm.7)

Die Entstehung des Berges Helikon ist mit einer merkwürdigen Geschichte verbunden, die im Zusammenhang mit dem Problem des Paradigmenwechsels eine erstaunlich zeitgemäße Bedeutung erhält: Da soll ein Mann aus Makedonien, Vater von neun Töchtern, in die Gegend des Helikon gekommen sein. Die Namen der Mädchen seien gleich wie die der neun Musen gewesen. Die falschen Musen begannen mit den wahren zu wetteifern: «Als sie sangen, verdunkelte sich alles, und niemand hörte auf sie. Beim Gesang der wahren Musen blieb alles stehen: Himmel, Gestirne, Meer und Flüsse. Der Berg Helikon selbst begann vor Entzücken in den Himmel zu wachsen, bis ihn das geflügelte Roß Pegasos, auf den Befehl des Poseidon, mit den Hufen schlug. Damals entstand die Quelle Hippukrene(Anm.8)

Haben wir in unserer Zeit nicht eine ähnliche Situation? Da wetteifern Wissenschaft, Technik, Kultur- und Konsumangebot um die Gunst der Menschen und wollen sie vom eigenen Erleben - von der Begegnung mit den wahren Musen - abhalten. Und dennoch hört der Mensch plötzlich eines Tages die Klänge des überwältigenden kosmischen Gesanges, und sein Innerstes droht vor lauter Entzücken in derart ferne himmlische Regionen hinaufzuwachsen, daß er die Beziehung zum Irdischen verliert. (Anm.9) Aber dann kommt der Pegasos auf Geheiß des Wassermannes und stoppt die erste Überschwenglichkeit mit einem Hufschlag, der einen zur Besinnung bringt. Es hat nämlich keinen Sinn, solche 'erhebenden' Erfahrungen zu dramatisieren. Sie sind ebenso wunderbar wie die geringste Kleinigkeit in der Natur und ebenso banal wie ein Treibhaus voller Orchideen. Weder berechtigen sie, sich etwa als 'auserwählt' zu betrachten, noch besteht Grund, das eigene Licht unter den Scheffel zu stellen. Es mag schwierig sein, diese beiden Extreme auszugleichen, doch der Verzicht auf Dramatisierung auf der einen wie auf der anderen Seite - denn Abwertung ist auch eine Form der Fehleinschätzung - läßt eine der wichtigsten Tugenden heranwachsen, die Gelassenheit (Inhalt)

Eine gelassene Haltung ohne Überheblichkeit und ohne das Mißverständnis, daß es sich dabei um Gleichgültigkeit und Leerheit von jeder ethischen Verpflichtung handelt, ist für jedes Ich von ausschlaggebender Bedeutung. Sie gehört zu den Tugenden des mystischen Weges des Herzens wie Demut, Sanftmut, Geduld, Bescheidenheit, Gerechtigkeit, Ausdauer, Furchtlosigkeit und Klugheit. Erkenntnis, die nicht aus diesen Quellen gespeist wird, bleibt trüb, unangemessen und unfruchtbar.

In diesem luziden Traum hatte sich der Pegasus in eine große Amphore umgewandelt, mit der niemand etwas anzufangen wußte. Auf die Dauer war ich unfähig, sie allein zu tragen. Also mußte ich mir durch die angeführten Amplifikationen die wichtigsten Zusammenhänge bewußt machen, wobei ich eines nicht vergessen durfte: Ich war einem Pegasus begegnet und nicht dem Symbol eines Sternbildes, einer psychischen Triebdynamik oder der Dichtersprache. Ich mußte mich davor hüten, einfach zu sagen, der Pegasus verkörpere in Wirklichkeit das oder jenes, weil ich damit die Realität des geflügelten Pferdes zerstört und mit der Stimme einer falschen Muse gesungen hätte. Damals war ich allerdings unfähig, diesen Sachverhalt derart deutlich auszudrücken. Immer noch bestand die Gefahr, daß sich mir alles verdunkelte und die nächtlichen Welten wieder unsichtbar wurden.

Wer einem Pegasus begegnet und ihm sagt, er würde im Grunde genommen irgend etwas symbolisieren, muß sich nicht wundern, wenn er nicht darum gebeten wird, aufzusitzen! Es braucht Mut, von Deutungen abzusehen und bloß noch an Zusammenhänge und Verwandtschaften zu denken, ohne die eigenständige Wirklichkeit des Gesehenen anzuzweifeln oder durch Deutungen zu 'verbessern'. Bei mir waren drastische Maßnahmen nötig, um mir den Mund zu stopfen und mich endlich dazu zu veranlassen, dem Geschehen aufmerksam zuzuschauen statt es ständig zu zerreden. Dieses Thema wurde nochmals am 18. Januar 1974 aufgenommen und mit aller nur wünschenswerten Direktheit dargestellt. (Anm.10) (Inhalt)


Anmerkungen

Anm 1: Wer sich seiner ethischen Verpflichtung und der Eigenverantwortlichkeit entzieht, ist ein typischer 'Kürbissiegelbewahrer' (Vgl. Quellen der Nacht 2/2 Anm.7!). «Einen wirklichen Schamanen würden die Sprüche Don Juans vom 'man of knowledge', der keine Ehre kennt, keine Würde, keine Familie, keinen Stamm, noch tausendmal mehr befremden als uns. Und was würde er gar denken von einem Bhagwan, der einen hadiqua, einen Paradiesgarten voll harmloser, ewig hüpfender, singender und lachender orangegekleideter Kinder entwirft. ... Ich weiß nicht, was er denken würde» (Duerr 1981:638).
Was er denken würde? Han Shan würde sagen: «Kürbiskopf!» Allerdings kann man die Sache, so meint Christoph Roos, auch anders sehen, etwa in der Richtung, wie sie in I Kor 7,29-31, Lk I 4,16 und Mt I 6,24-26 dargestellt ist. Eine deutliche Sprache! Es wird nichts weniger denn die Zerstörung des alten Ich-Panzers verlangt und dazu aufgefordert, alle festen Bindungen zu durchschneiden. Diese Zertrümmerung der diesseitigen Weltverhaftung scheint Bhagwan Rajneesh durch diverse Körpertherapien anzustreben. Immerhin kann dies als Versuch gewertet werden, eine bessere Ausgangsposition zu erreichen (wenn auch mit vielen 'Wenn's' und manchem 'Aber'. - Jedenfalls scheint es verfrüht, darüber abschließend zu urteilen, denn man weiß ja nicht, wie sich die Sache weiterentwickelt (das dürfte eine Frage der Einstellung sein). Auch der Paradiesgarten hadiqua sieht etwas anders aus, wenn man ihn vom Blickwinkel des «Reiches der Brüder und Schwestern des freien Geistes» betrachtet.
Anm.1 Ende - zurück zum Text
Anm 2: Jung postuliert dagegen: Der Traum ist «die Äußerung eines unwillkürlichen, dem Einfluß des Bewußtseins entzogenen, unbewußten seelischen Prozesses, der die innere Wahrheit und Wirklichkeit so darstellt, wie sie ist; nicht weil ich sie so vermute, und nicht wie er sie haben möchte, sondern wie sie ist» (Jung GW 16:152 §304). Dieses Postulat kann von luziden Träumern und von Trauminkubationsspezialisten jederzeit falsifiziert werden. Aus der ideoplastischen Verformbarkeit (vgl. Lischka 1979:28-31, 143-153) läßt sich folgern, daß sogar die normalen Träume alles andere denn «unwillkürliche» Prozesse sind, sondern maßgeblich von der bewußten Einstellung des Alltag-Ichs abhängen. Auf diesen Sachverhalt hat Sigmund Freud schon 1932 hingewiesen (vgl. das Kapitel 3.5 von Quellen der Nacht «Vorbereitung des Paradigmenwechsels» und die Ausführungen Freuds zum Problem der Traumenstellung). Die Aussage Freuds, daß es durchaus möglich sei, ohne Traumentstellung zu träumen, wenn auch im Alltag kein Grund zur Verdrängung bestehe, ist außerordentlich deutlich! Auf diesen Sachverhalt weise ich mehrere Male hin. Sie, d.h. die Aussage von Sigmund Freud, ist viel direkter auf die Situation des Individuums in der Gesellschaft bezogen als die Feststellung von C.G. Jung, viele Träume hätten einen kompensatorischen Charakter (vgl. z.B. Jung (1921) 9.Aufl. 1960:484-486), denn sie zeigt unmißverständlich, wo der «Hund begraben liegt» - nämlich in den Zielsetzungen der menschlichen Gesellschaft. Ziele, die nicht auf die Bedürfnisse des einzelnen Menschen, sondern auf Sachzwänge abgestimmt sind, führen zur Disharmonie des Traumlebens und zu Depressionen im Alltag. Wird der Mensch gezwungen, die von der Gesellschaft, vom Moloch des 'allgemeinen Consensus' geforderten Leistungen zu erbringen, hat er keine Chance mehr, sein individuelles Menschsein zu leben. Psychotherapie könnte also durchaus eine soziale Brisanz ersten Ranges haben, wenn sie die Ich-Bewußtseins-Kontinuität in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellen würde - statt aus der Norm Fallendes gewaltsam in das bestehende Weltbild zu integrieren bzw. auszuschließen und zu pathologisieren (Psychologie als Kastrationsinstrument des Kreativen!).
Zu beachten wäre in diesem Zusammenhang auch das von C.G. Jung im Anschluß an sein persönliches Erleben der Außerkörperlichkeit Gesagte.
Anm.2 Ende - zurück zum Text
Anm 3: Wer sich ernsthaft mit Dingen auseinandersetzt, von denen die Eltern (alma mater und Vater Staat) nichts wissen wollen, verletzt die Anstandsregeln. Es droht nichts Geringeres denn Ausschluß, Ächtung und Verlust der sozialen Sicherheiten. Die Eltern sind unter anderen Zeitumständen aufgewachsen und haben andere Sorgen und Nöte erlebt. Der Kampf um das tägliche Brot hat sie für die religiösen Bedürfnisse blindgemacht. Materielle Sicherung war vorrangig. Seelische Bedürfnisse mußten zurückgestellt werden. Für die junge Generation gleicht dieses Weltbild dem «Packeis». An den Mauern prangen Schriftzüge wie «Beton schmilzt nicht» «Grönland» und «SS» - Ausdruck der Versuche, gegen die Dämme einer Generation anzurennen, deren Lebensstil erstarrt und immer noch auf eine materielle Notsituation bezogen ist. Für die Erwachsenen sollte das «... und kein bißchen weise» Anstoß sein, sich nochmals hinzusetzen und intensiv nachzudenken und vor allem - zu fühlen. Außerdem müssen die Etablierten sich bewußt sein, daß völlig neue Formen vorerst in der Sprachlosigkeit verbleiben, weil das gängige Weltbild keine Äußerungsformen zur Verfügung stellt und keine Nischen kennt, wo das Neue eine echte Chance hätte, sich auszugestalten. Zu viele sind heute noch gezwungen, den sozialen Tod zu erleiden, wenn sie sich aufmachen, neue Lebensformen zu finden.
Das wurde 1983 geschrieben. Damals bzw. seit 1968 entsprach die Situation dem, was eben gesagt wurde. Heute (1996) ist es etwas anders, denn der Schwerpunkt hat sich auf die (strukturelle) Arbeitslosigkeit verlagert (und die wird weiter zunehmen). Sogar Lehrstellen sind rar - und bislang sicher scheinende Arbeitsplätze sind keineswegs mehr Lebensstellen, sondern 'abbaufähig'. Damit verschärft sich das Problem der Sinnfindung, denn Arbeit ist kein Lebensinhalt mehr, mit dem sich der Mensch auf Dauer identifizieren kann.
Anm.3 Ende - zurück zum Text
Anm 4: Die Köpfung der Medusa durch Perseus kann möglicherweise mit der Eröffnung des Visuddha-Chakra zu tun haben. Dieses Chakra hängt mit dem Atemsystem zusammen, das durch den Halsplexus, den Plexus cervicus des zerebrospinalen Systems, dargestellt wird (nach: Govinda 1956:162, 163, der sich auf Curtis beruft). Dieses Halsgeflecht nennt man heute Plexus cervicalis (vgl. Benninghoff-Goerttler 8.Aufl. 1967:339 und Wolf-Heidegger 1962:87, Abb. 101). Bohm lokalisiert das Visuddha-Chakra «an der Basis der Kehle im Rückenmarkszentrum der Halsregion» (Bohm 2.Aufl. 1966:85 ). Für den Anatomen dürfte es schwierig sein, dieses 'Zentrum' zu finden. lch würde der topographischen Anatomie den Lokalisierungsnachweis dieses und der anderen Chakras ersparen! Die Forderung nach einer exakten Lokalisierung ist bloß Ausdruck des Versuches, die Reduktionsbemühungen des materialistisch gefärbten Weltbildes zu fördern. Wichtig scheint mir die Aussage, daß es die Zone des Visuddha-Chakra ist, in der jene Sprachkraft entsteht, die das Zusammenspiel von oben und unten ausdrückt. Hier im Kehlkopfbereich vollzieht sich die Geburt der Sprache (vgl. ibid.:88). Dieser Sachverhalt ist nicht ganz so banal, wie es den Anschein hat! Schließlich sind es «wahre und bedeutungsvolle Gedanken», die «den 16 blättrigen Lotos zur Entfaltung» (ibid.:93) bringen. Und wer kann schon behaupten, daß er ausschließlich gewichtigen Gedanken nachhängt?

Verblüffend ist auch folgende Aussage: «Für jeden Gedanken erscheint eine Form; z.B. zeigt sich der Rachegedanke pfeilartig, zackig, der wohlwollende Gedanke dagegen als sich öffnende Blume; ein bestimmter Gedanke in regelmäßiger, symmetrischer Form, ein unklarer Gedanke in gekräuselten Umrissen (nach Steiner)» (ibid.:93-94). Dieser Sachverhalt erinnert an erste Versuche eines Menschen, via Brücke die rechts- und linkshemisphärischen Gehirnfunktionen miteinander zu vereinbaren. Dies scheint vor allem im hypnagogischen Zustand möglich zu sein, im Übergangsfeld zwischen dem Wach- und dem Schlafzustand des Körpers. Lischka 1979:67-68 hat derartiges beschrieben: er sah «kochende Karos» und «liebliche, rubin-rosa gefärbte Wolken» , ferner eine «Ornamentscheibe mit spiralig angeordneten Elementen» und «zerflatternde Traumbilder». Möglicherweise hängt dies alles mit den sogenannten Formtendenzen der ätherischen Bildekräfte zusammen. Hierzu vgl. Beckh 1926:383-393. Marti 1974 verneint die Identität der vier Äther mit den Bildekräften. Auf diese Diskussion innerhalb der Anthroposophie hat mich freundlicherweise Richard Simmel aufmerksam gemacht.

Man kann sich fragen, ob ein Zusammenhang mit den Phosphenen besteht, die bei der Photopsie auftreten. Unter Photopsie versteht man das «Auftreten von subjektiven Lichtempfindungen (in Form von Blitzen, Funken) bei mechanischer Reizung des Auges oder bei Erkrankungen der Sehbahnen bzw. des Hinterhirns» (Duden 1968:448). Phosphene werden also nicht durch sichtbares Licht, sondern durch andere physikalische Effekte hervorgerufen.
Knoll 1963:201-226 hat eine Induzierung mittels «Rechteckimpulsen im enzephalographischen Frequenzbereich (1 bis 30 Hz)» (Schneider 1981:203) durchgeführt. In der Folge wurden von der Versuchsperson «abstrakte oder ornamentartige Muster» (ibid.) beobachtet. Die Bilder «wurden meist in weißem oder leicht gefärbtem Licht vor schwarzem Hintergrund gesehen. Sie vibrierten teilweise oder liefen von oben nach unten mit einer Rate von drei Bildern pro Sekunde. Bei zusätzlicher Einnahme chemisch stimulierender Drogen wie Meskalin, Psilocybin oder LSD erschienen außerdem Landschaften, Blumen, Tiere, Maschinen und feuerwerkähnliche Muster. ... Die Beobachtungen lassen an Hand eines einfachen kybernetischen Modells Schlüsse auf die Existenz präformierter Neuronenketten zu» (ibid.:203-204).
Auch hier hängt es von der Theorie ab, welche Versuchsanordnung gewählt wird und wie die Schlußfolgerungen aussehen, die als relevant betrachtet werden.

Sicher wäre es lohnend, die Problematik des 'Kehlkopfbereiches' mit all seinen Implikationen einmal von ganz verschiedenen Seiten her zu erforschen. Dieses Forschungsprogramm würde die Mythologie berücksichtigen und tantrische, anthroposophische und naturwissenschaftliche Methoden bzw. die entsprechenden Theorien benutzen müssen. Eine Sache der Zukunft?
Anm.4 Ende - zurück zum Text
Anm 5: Vgl. Kerényi (1951) 2.Aufl. 1968:45,147.
Chrysaor ist der sterbliche Bruder des geflügelten Rosses Pegasos. Sein Name bedeutet «der mit dem goldenen Schwert» (ibid.:45). Zur Geschichte des Chrysaor bzw. des Bellerophontes (ob nun der gleiche wie Chrysaor, ein Poseidonsohn auch er), der sich von seinem Vater ein geflügeltes Pferd wünschte, folgendes: Der Hengst trank oft aus der Doppelquelle Peirene. Diese entsprang oben auf dem Akrokorinth und auch unten am Anfang der Straße, die u.a. zum Heiligtum des Poseidon führte. Hier ließ sich das unsterbliche Roß vom sterblichen Bruder einfangen. Allerdings war es nicht leicht, das Tier festzuhalten, denn der Zaum war damals noch nicht erfunden. Um Rat von der Göttin Athene zu holen, schlief Bellerophontes bei ihrem Altar (Inkubation!). Im Traum, der zugleich auch Wirklichkeit war, übergab die Göttin dem Heros den Pferde bezwingenden Zauber. Beim Aufstehen ergriff der Jüngling das Wunderding: es lag da!

Bald danach tötete der junge Mann den Belleros, den «anfänglichen Feind» - daher der Namenswechsel von Chrysaor zu Bellerophontes. Doch wie Apollon nach der Tötung des Drachen Delphyne, hatte auch er zu büßen und mußte sich reinigen lassen. Dies tat der Großkönig Proitos von Tiryns. Später wurde Bellerophontes Opfer einer Intrige: Die Königin hatte versucht, ihn zu verführen, doch wies sie der Jüngling zurück, worauf die Verschmähte bei ihrem Manne vorgab, verführt worden zu sein. Da Proitos es nicht wagte, Bellerophontes zu töten, schickte er ihn zum König von Lykien, der den Jüngling töten sollte. Als erstes hetzte man das dreiköpfige Ziegenwesen auf ihn. Diese Chimäre war vorne Löwe und hinten Schlange, konnte aber Bellerophontes nichts anhaben, da er sich auf dem Rücken des Pegasos in die Höhe erhob und es von oben abschoß. Auch die Kämpfe gegen das von den Göttern geliebte Volk der Solymer und gegen die Amazonen bestand der Pegasos-Reiter erfolgreich. Ebenso überstand er siegreich einen tückischen Hinterhalt. Da erkannte der König den Sproß der Götter in ihm, hielt ihn bei sich zurück, gab ihm seine Tochter zur Frau und überließ ihm die Hälfte seines Reiches. - Eines Tages wurde Bellerophontes zum Himmelsstürmer. Aus Enttäuschung und Zweifel, aus Bitterkeit oder aus Ungestüm? Oder wollte er etwas für seine Mitmenschen erreichen? Sei dem wie es wolle, der göttliche Hengst warf den verwegenen Reiter ab. Und er fiel auf die Ebene Aleion, die «Ebene des Umherirrens» , wo er, fern in Kleinasien, die Menschen mied. Hinkend trauerte er da über das Los der Sterblichen - oder hatte er sich bloß deshalb zurückgezogen, um sich in der Stille auf den leiblichen Tod vorzubereiten? Wer weiß - ich habe auf jeden Fall die Geschichte von Chrysaor/Bellerophontes nacherzählt aufgrund des Textes von Kerényi (1958) 1966:70-73.

Mit der Köpfung der Meduse ist auch einer ihrer schöpferischen Aspekte befreit worden - sie hat ihren lähmenden, versteinernden Charakter verloren. Dies hängt mit der Herauslösung des Bewußtseins aus dem Reich der Dunklen Mutter zusammen. Es muß seine Fesseln abstreifen und aus dem Gefängnis heraustreten können, wozu es des «Heros in tausend Gestalten» (Campbell (1949) 1953) bedarf, der mit seiner Tat einen neuen Abschnitt der «Ursprungsgeschichte des Bewußtseins» (Neumann (1949) o.J.) in die Wege leitet.

Zum bewußten Handeln und der Hybris schreibt Neumann: «Die 'Vernichtung durch den Geist' ist das Motiv schon im babylonischen Etana-Mythos, in dem der vom Adler zum Himmel entführte Held abstürzend zerschellt. ... Auch am kretischen Ikaros, der im Flug der Sonne zu nahe kommt und an Bellerophon, der auf dem geflügelten Pegasus in den Himmel gelangen will, abstürzt und wahnsinnig wird, ist die gleiche mythologische Situation dargestellt. Bei der Hybris des Theseus und anderen Helden handelt es sich um eine ähnliche Konstellation. Der Held muß, gerade weil er gottgezeugt ist, 'fromm' sein und ein volles Bewußtsein dessen haben, was er tut. Handelt er aber aus dem Übermut des Ichwahns, den die Griechen Hybris nennen, und ehrfürchtet nicht das Numinose, gegen das er kämpft, dann mißglückt die Tat. Zu hoch Fliegenwollen und Fallen ebenso wie zu tief Eindringenwollen und Festgehaltenwerden sind Symptome einer Ichüberschätzung, die mit Untergang, Tod oder Wahnsinn endet. Die ichüberhebliche Verachtung der transpersonalen Mächte oben oder unten führt dahin, ihr Opfer zu werden, sei es, daß der Held abstürzt wie Etana, im Meer ertrinkt wie Ikarus, in der Unterwelt festgehalten wird wie Theseus, an den Felsen angeschmiedet wird wie Prometheus, oder büßt wie die Titanen» ((1949) o.J.:154-I55; Hervorhebung von mir).
Was Bellerophon betrifft, dessen Geschichte ich etwas genauer angeschaut habe, sind auch bei Campell Ungenauigkeiten festzustellen, denn Bellerophon ist keineswegs einfach so abgestürzt und schon gar nicht wahnsinnig geworden. Vgl. hierzu den Artikel MS und der Mythos des Chrysaor, in dem auch der tiefenpsychologische Deutungsansatz von Stephan Sas gerade im Hinblick auf die MS, die mir bzw. meinem Körper schwer zu schaffen macht, kritisch besprochen wird.
Anm.5 Ende - zurück zum Text
Anm 6: Vgl. Kerényi (1951) 2.Aufl. 1968:84.
Anm.6 Ende - zurück zum Text
Anm 7: Kerényi (1958) 1966:70.
Anm.7 Ende - zurück zum Text
Anm 8: Vgl. Kerényi (1951) 2.Aufl. 1968:84.
Anm.8 Ende - zurück zum Text
Anm 9: «Tritt man weit genug von den Dingen zurück, sieht man sie etwa im Schatten der Ewigkeit, zusammen mit den zahllosen Dingen, die vorher waren oder die nachher sein werden, dann verlieren sie jegliche Bedeutung und Wichtigkeit: sie werden leer, und man wird selber leer und frei, man kommt, wie Bhagwan sagt, inmitten des Wirbelwinds zur Ruhe» (Duerr 1981:630). Diese Leere ist aber alles andere denn offen, da sie sich strikt abgrenzt und durch nichts bewegen läßt. Eine Art Zustand 'maximaler Entropie', der Wärmetod, das Chaos - es sind keine Wechselwirkungen mehr möglich! Wer wie Bhagwan Rajneesh diesen Zustand der absoluten Beziehungslosigkeit ernsthaft propagiert, ist nichts anderes denn ein Zyniker und totaler Menschenverächter. Ihn sollte der Pegasos lieber heute als morgen kräftig in den Hintern treten. - Andererseits darf man des Bhagwan Rajneesh oft sehr situations- und personenbezogene Äußerungen (Frage-Antwort) nicht allzusehr aus dem jeweiligen Textzusammenhang nehmen und isoliert betrachten. Sonst ist er nichts anderes als ein sich ewig widersprechender Vielschreiber. Außerdem - «Im Zentrum des Zyklons» (Lilly (1972) 1976) ist irgendwie fast sprichwörtlich geworden.
Anm.9 Ende - zurück zum Text
Anm 10: Vgl. Kapitel 4.2: Schweigen und schauen.
Anm.10 Ende - zurück zum Text


Literaturverzeichnis

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