Der Mythos des Hinkens Bellerophontes und Pegasos Werner Zurfluh |
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Eine 'hinkende' tiefenpsychologische Auffassung
Stephan Sas schreibt in seinem Buch «Der
Hinkende als Symbol» im Kapitel 3.3. «Versagen im Kampf mit dem höheren
Prinzip» , Bellerophontes habe «den Kampf mit den höheren Mächten
aufgenommen» und «diesen Kampf mit Hinken bezahlen» (S.124) müssen.
Das Hinken sei eine «Strafe für ein Vergehen gegen eine höhere
Wirklichkeit» (S.75). Nun führen die Wörter 'Kampf' und
'Strafe' den Leser natürlich von allem Anfang an auf die Fährte der
von Sas gebotenen Interpretation des Mythos. Diese liegt jedoch ziemlich schief,
denn sie berücksichtigt weniger den Wortlaut der Geschichte als vielmehr
die Vorurteile von Sas.
Um den Zusammenhang zu verdeutlichen, sei die Geschichte des
Bellerophontes zunächst in der Rezeption von Stephan Sas wiedergegeben,
der sich auf das Werk von Karl Kerényi «Die Heroen der Griechen»
S. 91 ff., beruft und schreibt:
.
«Bellerophontes ... war der Sohn von Poseidon und einer Meeresgöttin, deren Namen in mehreren Varianten überliefert wurde. Auch der Held selber hatte andere Namen außer dem bekannten, der schließlich an ihm haften blieb, weil er das Ungeheuer Belleros getötet hatte. Seine anderen Namen waren: Hipponoos, der ihn mit einem edlen Roß (hippos) verband, und Chrysaor, der als Bruder des Pferdes Pegasos galt.
Aus den etwas verschiedenen Genealogien der griechischen Mythologie ergibt sich, daß sie die gleiche Gestalt in mehreren Aspekten zeigen. Bellerophontes z.B. erhielt, als er sich von seinem Vater ein geflügeltes Pferd wünschte, als Geschenk den Pegasos, also eigentlich seinen Bruder.
'Es war aber nicht leicht, das trinkende Tier festzuhalten. Denn der Zaum war damals noch nicht erfunden. Viel hatte daher der Heros sich darum zu bemühen, bis ihm die Göttin Athene selbst den goldenen Zaum brachte. Im Traum geschah es, aber der Traum war zugleich auch Wirklichkeit... Auf sprang der Jüngling ... Seine Hand ergriff das goldene Wunderding: Es lag da.' (zit. nach Kerényi S.93)
Darauf opferte er auf Geheiß der Göttin dem Poseidon einen weißen Stier und errichtete der Athene einen Altar. Wegen der Tötung des Drachen Belleros mußte er aber büßen und sich reinigen lassen. Dies sollte bei dem König Proitos in Tiryns geschehen. Hier lebte daher der Pegasosreiter, bis seine Lage sehr schwierig wurde, weil sich die Frau von Proitos, Anteia oder, mit einem anderen Namen, Sthenoboia, in den schönen Jüngling verliebte.
Bellerophontes erwiderte diese Liebe nicht, worauf die Königin ihn bei ihrem Mann beschuldigte, er wolle sie verführen. Bellerophontes wurde daraufhin vom Königshof gewiesen und zum Vater der Sthenoboia nach Lykien in Kleinasien geschickt mit einem geheimen Sendeschreiben von Proitos an seinen Schwiegervater, laut welchem dieser Bellerophontes irgendwie dem Tode überliefern sollte. Aus diesem Grunde erhielt Bellerophontes dort verschiedene lebensgefährliche Aufträge, die er aber alle siegreich erfüllte, unter anderem die Tötung der Chimaira.
Der lykische König erkannte nun, daß er es mit einem Göttersproß zu tun habe und gab ihm seine jüngere Tochter zur Frau. So wurde Bellerophontes zum Schwager der verschmähten Sthenoboia.
Nachdem er in Lykien eine Familie gegründet hatte, kehrte er nach Tiryns zurück, um Rache zu nehmen an der Frau des Proitos oder an dem König selber, der ihn zu töten beabsichtigt hatte. Er tat, als ob er nun in Sthenoboia verliebt wäre, nahm sie auf den Rücken seines Pegasos, als wollte er mit ihr nach Kleinasien fliegen, ließ sie aber unterwegs ins Meer stürzen.
PINDAR und EURIPIDES haben uns das bittere Ende des Bellerophontes überliefert und berichten, daß er mit seinem Roß in den Himmel reiten wollte, um herauszufinden, ob es Götter gibt. Der göttliche Hengst warf aber den Heros ab, er fiel auf die Ebene Aleion, die 'Ebene des Umherirrens', wo er hinkend über das Los der Sterblichen trauerte, während Pegasos als unsterbliches Roß der Götter in den Olymp aufgenommen wurde.» (Sas S.74-75.)
Wie Stephan Sas das psychologisch versteht, erläutert er wie folgt:
«Sein (Bellerophontes) Kampf war aber weder ein körperliches Ringen noch ein Wortgefecht, weil er gar nicht zur Begegnung mit der Gottheit gelangte. Bellerophontes zweifelte an der Existenz der Gottheit und wollte auskundschaften, ob es Götter überhaupt gibt.
Schon dieses Vorhaben ist ein solcher Frevel, daß sein Wunderroß Pegasos, selbst ein göttliches Wesen, ihn abwirft, kaum hat der Himmelflug angefangen. ... Das Hinken von Bellerophontes ist kein Opfer zur Erlangung von etwas Höherem, sondern lediglich eine Strafe für seinen Übermut.
Wenn sein Hinken als Symbol begriffen werden soll, so ist es das Symbol des Versagens, und wenn die Figur des Bellerophontes psychologisch zu erfassen ist, dann ist sie ein Gegenbeispiel für die Selbstwerdung. Er stellt mit seinem symbolreichen Mythos den Kämpfenden dar, der trotz seiner Siege gegen Mächte des Unbewußten nichts erreichte, weil er es in einer falschen Einstellung tat.» (S.124.)
Die Ungenauigkeiten bzw. Auslassungen in bezug auf die vom Mythos erzählte Geschichte bewirken, daß Sas zu einem Fehlurteil kommt. Aber es gibt noch weitere Fehleinschätzungen, die nur zu begreifen sind, wenn die stark verkürzte Fassung der Erzählung in Rechnung gestellt wird. Bellerophontes Verhältnis zu den Frauen ist nämlich wesentlich differenzierter, als Stephan Sas meint, wenn er sagt:
«Nur mit den Frauen war er nicht glücklich. Die eine, die ihn liebte, verschmähte er, die andere, mit der er eine Familie gegründet hatte, verließ er. Schließlich nimmt er die erste auf sein Pferd, fliegt mit ihr davon, läßt sie aber ins Meer stürzen.» (S.125.)
Und so darf es nicht verwundern, daß auch die Sicht auf das Pferd merkwürdig verkürzt bzw. mehr dem Konzept der Psychologieauffassung verpflichtet ist als dem Mythos:
«Das Pferd ist ein Symbol für die Instinktnatur des Menschen. Da es in den Märchen, Sagen und Mythen oft die Zukunft vorauszusagen imstande ist, nimmt es häufig den selben Charakter an, den wir dem Unbewußten zuschreiben. Der Pegasos ist nun ein Pferd, wenngleich ein besonderes, da es Flügel hat, was heißen würde, daß es ein vergeistigtes Pferd ist.
Einerseits stellt der Pegasos also den animalischen Instinkt dar, ist chthonisch, andererseits ist er geflügelt, d.h. ein Geistwesen, so daß er die Gegensätze, das Unten und Oben, vereinigt. Als geflügeltes Pferd vermag es von der Erde zum Himmel aufzusteigen, also zwischen ihnen zu vermitteln, sie zu verbinden. Berücksichtigt man alle diese Eigenschaften des Pegasos, so gelangt man zu der Annahme, daß er die schöpferische Libido symbolisiert, weil sie es ja ist, die das Unbewußte mit dem Bewußtsein verbindet.
Der Held ist bis zum Flug mit seiner Frau Sthenoboia mit seinem Wunderroß in bester Harmonie verbunden. Wenn diese Frau für seine Anima, für seine eigene Weiblichkeit steht, bedeutet ihr Sturz ins Meer - selbst, wenn Bellerophontes daran nicht schuld war, was aus dem Mythos nicht klar hervorgeht - eine Regression ins Unbewußte: Der geflügelte Ritt zu dritt war unmöglich. Psychologisch gesprochen: Das Ich, die Anima und die schöpferische Libido werden nicht zu einer höheren Einheit verbunden.
Wenn aber die Beziehung zwischen dem Unbewußten und dem Bewußtsein nicht tragfähig ist, können leicht Störungen auftreten, wie z. B. Inflation. Der beflügelte Ritt von Bellerophontes als Himmelsstürmer kann als Bild für den Inflationszustand des Ichs angesehen werden. So ist es verständlich, daß er herunterfällt, d.h. er verliert den Kontakt mit seiner Instinktgrundlage und wird lahm an einem Bein.» (S.125)
Nun betrifft mich nicht nur das «Gebrechen
des Hinkens» direkt, sondern auch der «Ritt auf dem gefügelten
Roß» und irgendwie auch der Versuch, den «Ratschluß der
Götter zu erkunden». Aus diesem Grund habe ich den Mythos etwas
genauer angeschaut.
Das «Gebrechen des Hinkens»
Im Herbst 1987 wurde die Diagnose 'Multiple Sklerose' aufgrund diverser
Symptome gestellt - die computertomographisch (genauer gesagt: MRI) gut
sichtbaren MS-Herde im Gehirn haben den definitiven Ausschlag für die
Differentialdiagnose gegeben. Von diesem Zeitpunkt an bin ich aus dem
Arbeitsprozeß ausgegliedert gewesen und habe meinen Job als
Biologielehrer aufgegeben. Es wäre mir aufgrund der Behinderungen so oder
so nicht mehr möglich gewesen, weiterhin zu unterrichten. Und diese
Behinderungen hatten schon im Jahre 1980 begonnen, sich nach und nach
gesteigert - nicht schubartig, sondern 'chronisch progredient'.
Der «Ritt auf dem geflügelten Roß»
Hierzu vgl. das, was im Buch «Quellen der Nacht» gesagt worden ist,
besonders den luziden Traum vom 6. Januar 1974.
(2.Kapitel / Teil 5)
Den «Ratschluß der Götter zu erkunden»
Nachdem allgemein bekannt wurde, daß 'ich' an MS leide und deswegen frühzeitig
pensioniert worden bin, wurde mir von verschiedenster Seite gesagt, das sei
karmisch bedingt und vor allem die Folge der Beschäftigung mit dem
luziden Träumen und der Außerkörperlichkeit. Es war bei den
Gesprächen auch zu bemerken, daß meine Postulate (vor allem den
Tiefenpsychologen) sehr mißfallen haben. Sie betrachteten das Konzept der
Luzidität als «Entgleisung» und warfen mir Wiederstände
und sogar Arroganz vor, als ich mich weigerte, die Sache einfach zu vergessen,
und vorschlug, die Angelegenheit einer genaueren Prüfung zu unterziehen.
Vor allem die immer wieder gehörte Begründung, die
Krankheit sei eine Folge der Beschäftigung mit dem luziden Träumen
und der Außerkörperlichkeit, scheint mir Ausdruck einer fatalen
Abwehrstrategie zu sein. Fatal deswegen, weil diese Begründung stets als
Legitimation dient, nicht selbst zu den «Quellen der Nacht»
aufbrechen zu müssen. Daß Tiefenpsychologen sich weigern, auf die
Luziditätsproblematik einzugehen, ist mehr oder weniger zu begreifen,
denn im Hintergrund 'lauert' der Paradigmenwechsel. Aus diesem Grund wird die
Haltung von
Sigmund Freud Popper-Lynkeus gegenüber
von den Psychoanalytikern nicht zur Kenntnis genommen, während die
analytischen Psychologen die ambivalente Haltung von
C.G. Jung nicht problematisieren.
Die Krankheit hat für mich insofern einen wesentlichen
Sinn, als sie es mir erlaubt, mich mit all dem zu beschäftigen, was sich
seit 1965 an Protokollen und Karteikarten angesammelt hat. Seit 1988 bin ich
daran, das Vorhandene auf den Computer zu übertragen, wobei alles
zumindest noch einmal gelesen wird.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, was die
MS betrifft: Sie ist eine extrem unangenehme Krankheit und würde es
erlauben, etliche kB an Symptombeschreibungen zu verfassen, denn der
Zipperleins gibt's viele. Auch bin ich nicht sonderlich mutig oder abgeklärt,
wenn mich ein Fieberschub zur totalen Bewegungslosigkeit verdammt oder wenn es
aufgrund einer minimsten Ungeschicklichkeit zu einem Durchsacken der Beine
kommt, wenn versucht wird, vom Rollstuhl z.B. ins Bett zu kommen. Jene, die
schon einmal krank und gebrechlich waren oder es momentan gerade sind, werden
das problemlos verstehen können.
Allerdings würde es mir auch in den 'besseren' Phasen
sehr schwer fallen, mit der MS 'umzugehen', wenn mir nicht klar wäre, daß
der physische Körper nicht dasselbe ist wie das Ich, d.h. daß Ich
und Körper nicht identisch sind. Da jeder Mensch altert und schließlich
einmal stirbt - egal ob mit oder ohne Krankheit - stellt sich für alle
eines Tages die Frage, ob das Ich dasselbe ist wie der Körper. Das «Wer
bin ich?» wird früher oder später zu beantworten sein! Diese
Antwort aber ist stets gekoppelt mit einem initiatorischen Tod. Dieser Tod ist
schmerzhaft, denn er ist verbunden mit dem Zusammenbruch aller Vorstellungen
von dem, was die eigene Identität ausmacht. Zu guter Letzt ist nur noch das
nackte Ich vorhanden, das durch einen Reinigungsprozeß hindurchgegangen
ist, bei dem jede Art eines Inhaltes und jede Form der Körperlichkeit
weggespült und aufgelöst wurde. Übrig bleibt nur ein 'Nichts an
Bewußtheit' (und ein 'Alles an Liebe') - nur läßt sich gerade
dieses Etwas, das Nichts und Alles ist, nicht mehr in Worte fassen, weil Worte
schon wieder eine Art von Körperlichkeit sind.
Praktisch ist es also nutzlos, so zu tun, als wäre es möglich,
ein 0/0 zu beschreiben. Eine Annäherung kann allerdings versucht werden.
Mystiker haben dies immer wieder getan. Mir bleibt nur übrig, ein Wort
von Franz von Assissi aufzugreifen und zu sagen: «Bruder Esel ist krank,
er hat MS und hat an dieser Last schwer zu tragen!» Ich bin oft mit meinem
Bruder Esel zusammen und versuche, ihm das Leben nicht noch weiter zu
erschweren. Manchmal gelingt es, manchmal gelingt es nicht. Für das
Nichtgelingen entschuldige ich mich.
Was mich jedoch 'ärgert',
das sind all jene Leute, die davon ausgehen, der 'Bruder Esel' sei mit mir als
dem Ich identisch, denn auf diese Weise belasten sie ihn mit etwas, was ihm
nicht zukommt. Andererseits sprechen sie dem Ich etwas zu, das niemals ein
Inhalt des Ichs sein kann. Irgendwo in der Ferne höre ich schon so etwas
wie «schizophren» . Hierzu kann ich nur sagen, daß es der
Unverständigen eben viele gibt - daß aber auch die sterben werden -
und dann werden sie sich demselben Problem und derselben Frage gegenübergestellt
sehen: «Wer bin ich?»
Die nächtlichen,
insbesondere die außerkörperlichen Erfahrungen haben mich gelehrt, daß
das (bewußte) Ich nicht mit irgendeinem Inhalt identisch ist. Es kann
sich mit einem Inhalt identifizieren, wird aber diese Identifizierung früher
oder später aufgeben müssen. Ein Festhalten bedingt stets die
Anwendung von Gewalt und ist damit ein Verstoß gegen die Liebe.
Nun wäre zu diesem Themenkreis noch einiges zu sagen. An
dieser Stelle möchte ich jedoch wieder auf den Pegasos und den Mythos von
Chrysaor zurückkommen.
Die Geschichte des Bellerophontes
Den Mythos, wie er von Stephan Sas wiedergegeben wurde,
schien mir irgendwie unvollständig. Ich hatte ihn etwas anders in
Erinnerung und las die Geschichte im Buch von Karl
Kerényi noch einmal. Zunächst also ein paar
eher allgemeine Bemerkungen zum Inhalt. Die angeführten Textstellen sind
dem erwähnten Buch entnommen:
Die Frau von Proitos, Anteia oder Stheneboia, war die Tochter des
Königs von Lykien in Kleinasien. Dieser König von Lykien half dem
Proitos, wieder nach Tiryns zurückzukehren, von wo er hatte fliehen müssen.
Er war nämlich vom Zwillingsbruder Akrisios bekämpft und besiegt
worden. Akrisios hatte eine einzige Tochter, Danae, die von Zeus geliebt wurde.
Aus dieser Verbindung entsprang Perseus. (S.44.) Proitos war somit in einen
schwerwiegenden Bruderzwist verwickelt, was im Hinblick auf das Verhalten
seiner Gattin Bellerophontes gegenüber nicht ganz unwesentlich gewesen
sein dürfte, denn Proitos hatte ja den Kampf gegen seinen Bruder
verloren. Zeus dagegen hatte die Tochter des Akrisios geschwängert und
damit eines seiner vielen Liebesabenteuer 'bestanden'.
Ferner wird erzählt (S.175f), daß Bellerophontes einmal
um die Tochter des Pittheus - König der kleinen Stadt Troizen zwischen
den Bergen der peleponnesischen Küste - Aithra, die Helle des Himmels,
gefreit habe. Doch Aithra wurde nicht Heroengattin, sondern umarmte den
Poseidon und wurde später durch den aus dieser Verbindung entstammenden
Sohn, Theseus, berühmt.
Zu beachten ist außerdem, daß Sisyphos, der
schlaueste aller Menschen (!), der Großvater von Bellerophontes, «des
größten Helden und Ungeheuertöters neben Kadmos und Perseus
vor den Zeiten des Herakles» war (S.67). Herakles, Perseus und Kadmos waren
Abkömmlinge der Götter, Bellerophontes dagegen war rein menschlicher
Herkunft. Und Sisyphos hatte einmal dem Flußgott Asopos verraten, daß
es Zeus gewesen sei, der Aigina, die Tochter des Flußgottes verschleppt
habe. «Auf solche Weise zog der unangenehme Späher den Götterzorn
auf sich» (ibid.) (ein Späher also schon der Großvater).
Doch dem Beobachter Sisyphos gelang es, dem von Zeus ausgesandten Thanatos ein
Schnippchen zu schlagen, d.h. Sisyphos überlistete den Tod und warf ihn
sogar für eine Weile in starke Fesseln.
Sisyphos starb zuletzt - vom hohen Alter geschwächt!
Daß er dieser Todesart nicht entfliehen konnte, ist natürlich
seiner Menschennatur zuzuschreiben. Seine von den Göttern verhängte
Bestrafung hingegen ist ein «Bild des ewig vergeblichen Bemühens,
das Los aller Sterblichen abzuwälzen» (S.69), wobei meines Erachtens
Sisyphos in seinem Nachtodeszustand einen Fehler begeht, weil er - eben
gewissermaßen nach seinem leiblichen Tode - eine systemimmanente Lösung,
eine sogenannte Lösung erster Ordnung anstrebt und damit in einen Zyklus
hineingerät, aus dem er nicht mehr herauskommt, weil er die eigene Zuständlichkeit
(in einem zwiefachen Wortsinn) nicht hinterfragt.
Erst der Enkel des Sisyphos, Bellerophontes, sollte diesen
Mangel beheben, indem er versuchte, den Ratschluß der Götter zu
hinterfragen. Allerdings mußte er sein naives Unterfangen mit dem
Verlust seines (göttersöhnegleichen) Heroentums 'bezahlen'. Ihm war
wohl nicht klar gewesen, wie stark sein Projekt dem eigentlichen Repräsentanten
des geltenden Weltbildes, Zeus, mißfallen mußte. Eine
Relativierung der göttlichen Position (des herrschenden Paradigmas)
schien prinzipiell nicht möglich zu sein.
Bellerophontes gilt zwar auch als der Sohn des Meeresgottes
Poseidon, welche Tradition aber ebenso dafür geeignet ist, die kritische
Haltung des Bellerophontes gegenüber den Göttern zu verstehen, weil
demnach ja Poseidon ihn als Vater bei Aithra ausgestochen hätte. Die
Linie Sisyphos - Glaukos - Bellerophontes ist natürlich ebenfalls bestens
dafür geeignet, eine den Göttern gegenüber eher skeptische
Haltung schon von der Familientradition her einfließen zu lassen.
Bellerophon bzw. Bellerophontes ist der Name, den Chrysaor, «der
mit dem goldenen Schwert», erhielt, nachdem er den von allem Anfang an
dagewesenen Feind Belleros besiegt hatte. Über Belleros wird in der
griechischen Mythologie nichts anderes ausgesagt, als daß er schon von
allem Anfang an da war. Nichts weiter! Vielleicht deutet Belleros auf den
Gegenspieler schlechthin, auf den Widerpart, der bei jedem Menschen eben von
Anfang an einfach da ist und von jedem Menschen (als kollektives Wesen) eines
Tages überwunden werden sollte. Vielleicht ist damit seine Tendenz, nicht
bewußt werden zu wollen, gemeint. Der in der Unbewußtheit
verbleibende Mensch meint, seiner Verantwortung entgehen zu können.
Belleros wäre somit die Verkörperung der Bequemlichkeit, des
Beharrungsvermögen in einer Art unbewußter Ganzheit und des
Aufgehobenseins gewissermaßen in einem negativen Tao. Und mit dem Monstrum
Belleros könnte auch die Identität mit dem Kollektiv, dem
Allgemeinen, Üblichen, Normalen und Normgemäßen gemeint sein.
Das, was den Menschen eingebettet sein läßt und ihn niemals zu
fragender Auseinandersetzung herausfordert. Die Selbstverständlichkeit des
Daseins, welche die größten Katastrophen als gottgegeben annimmt
und Jahr für Jahr beispielsweise einem Ungeheuer eine Jungfrau opfert.
Diese Haltung erzeugt keine Helden, erfordert keinerlei persönlichen
Einsatz und bildet kein individuelles Wesen aus.
Im weiteren ist nun auch an eine Ambivalenz zu denken, daß nämlich
Bellerophon zum einen genealogisch göttlicher Herkunft ist, zum anderen
einer rein menschlichen Linie entstammt. Dieser Parallelität muß
man sich bei den nachfolgenden Erläuterungen stets bewußt bleiben,
denn sie ist allein schon als solche bereits dafür geeignet, den Nährboden
für eine kritische Haltung abzugeben - wenn ich jetzt mal dem Bellerophon
unterschiebe, er sei sich selbst dieser beiden grundsätzlich
verschiedenen Abstammungslinien irgendwie bewußt gewesen.
Soweit die 'allgemeine Einführung' in den Mythenkomplex. Im
Folgenden sei nun die ganze Angelegenheit etwas ausführlicher und vor
allem chronologisch dargestellt:
Die Geburt des Brüderpaares Chrysaor-Pegasos
Als Perseus der Medusa den Kopf abschlug, entsprang aus ihrem Hals das
Bruderpaar Chrysaor und Pegasos. Medusa war nämlich zum Zeitpunkt ihrer Tötung
hochschwanger und trug die beiden Kinder des Poseidon in ihrem Leib. Über
diese Art "Kaiserschnitt" bzw. Geburtshilfe ließen sich
etliche Überlegungen anschließen - und vor allem stellt sich die
Frage, weshalb es gerade auf diese Art (Kehlkopfchakra!) geschehen mußte,
und weshalb die Medusa derart häßlich geworden war, daß jene
versteinerten, die sie nur schon betrachteten. Ob ihre Häßlichkeit
allein schon der Ausdruck jener Ahnung war, daß sie in sich die Kinder
wachsen ließ, die dereinst sogar die Götterwelt hinterfragen sollten
(Chrysaor-Bellerophon) und in der Lage waren, Erde und Himmel miteinander zu
verbinden (Pegasus)? Perseus hätte demzufolge der Menschheit einen geringen
Dienst erwiesen. Zwar verhinderte er durch sein Tun Medusas
Versteinerungseffekt, die jeden Betrachter zu totalen Handlungsunfähigkeit
verdammt, aber die Geburt jenes Paares, das sogar einmal die Welt der Götter
hinterfragen sollte, wurde durch seine Tat erst ermöglicht.
Das Zusammenkommen von Chrysaor und Pegasos
Pegasos war jenes Roß, durch dessen Hufschlag bestimmte Quellen
hervorzusprudeln begannen, und jenes Roß, das sich von seinem Bruder
schließlich einfangen ließ: "das unsterbliche Roß vom
sterblichen Bruder" (S.71). Pegasos, das Dichterroß, das Pferd, das
seinen Reiter in ungeahnte Höhen tragen und Dinge sehen lassen sollte, die
den nur auf Erden Wandelnden verborgen bleiben müssen, - und Dinge erzählen
ließ, die niemals mehr vergessen wurden, selbst wenn der
Berichterstatter tot sein mochte. Deswegen etwa die Halsgeburt?
Chrysaor wünschte sich von seinem Vater ein geflügeltes
Pferd. "Poseidon schenkte es seinem Sohn. Es war aber nicht leicht, das
trinkende Tier festzuhalten" (ibid.). Oder wäre es besser, zu sagen,
es konnte nicht leicht sein, auf dem Rücken des fliegenden Pferdes dem
Tier seine Vorstellungen mitzuteilen? Denn schließlich war Pagasos
durchaus damit einverstanden, eingefangen zu werden. Dem Roß konnte sich
Chrysaor ohne weiteres nähern. Um das Tier jedoch differenziert zu führen,
dazu bedarf es eines Zaums und nicht bloß einer um den Hals gelegten
Schlinge. Aber das Zaumzeug war damals, zu Chrysaors Zeiten, noch nicht
erfunden. "Viel hatte daher der Heros sich darum zu bemühen, bis ihm
die Göttin Athene selbst den goldenen Zaum brachte" (ibid.).
Bellerophon hatte somit tagsüber sehr viel Zeit mit der Lösung
dieses Problems verbracht und sich sehr angestrengt, bis ihm endlich im Schlaf
im Verlaufe eines Traumes die Lösung zufiel.
Dieser Ablauf ist nicht unbekannt, der Chemiker Kékulé
sah im Traum, wie sich die tanzenden Männchen zum (Benzol-) Ring
zusammenschlossen, und gar mancher Mathematiker verdankt die Lösung
seiner mathematischen Probleme nächtlichen Ereignissen, von denen er des
Morgens nichts mehr weiß. So brachte die Göttin Athene endlich dem
Chrysaor den Zaum - in einem Traum, der zugleich Wirklichkeit war, denn das
Wunderding lag da, als er neben dem Altar, wo er geschlafen hatte, erwachte.
Chrysaor eilte danach zu Seher Polyidos, der ihm ein Opfer auftrug. Mit einem
Opfer an Poseidon bezeugte Chrysaor dann seine Dankbarkeit gegenüber
seinem Vater und mit der Errichtung eines Altars die gegenüber der Göttin
Athene. Merkwürdig, daß der Seher dem jugendlichen Chrysaor dies
auftragen mußte, doch manchmal scheint die Jugend tatsächlich nicht
zu wissen, was sie ihren Gönnern schuldet. Und manche Älteren würden
unberechenbar reagieren, wenn die Jungen es versäumten, ihre Dankbarkeit
zu zeigen. Dem Seher Polyidos dürften diese Zusammenhänge nicht ganz
unbekannt gewesen sein.
«So ist der Pegasos schließlich» Chrysaors «Eigentum
geworden: von Poseidon geschenkt, von Athene ihm zugeführt und gezäumt.
Der Heros bestieg das göttliche Roß und tanzte mit ihm, der Göttin
zu Ehren, gepanzert, den Waffentanz» (ibid.).
Die Karriere des Chrysaor
Von diesem Augenblick an steht Chrysaor die Welt offen, eine Welt, in die
er voll gerüstet mit ungewöhnlichen und nichtalltäglichen
Voraussetzungen hineinreiten kann, auf dem Rücken einer - wie die
Psychologen sagen würden - Instinktbasis, die wirklich in der Lage ist,
die wundersamsten Dinge zu vollbringen (eine 'Mana-Persönlichkeit').
Sicherlich wurde Chrysaor bald danach 'Bellerophontes', 'Belleros-Töter',
denn sein Wirken dürfte vollumfänglich in die gesellschaftlichen
Vorstellungen hineingepaßt haben, und es lag eben im Wesen der Zeit, was
er vollbrachte. Seine Tat führte zu Anerkennung und Ruhm. Chrysaor mußte
den Zeitgeist getroffen und ihm entsprochen haben. Sein neuer Name,
Bellerophontes, ließ dann bald den früheren in Vergessenheit geraten,
was umso weniger erstaunt, als Titel die eigentliche Herkunft eines Menschen
oftmals leicht vergessen lassen und übertünchen. Doch manchmal gibt
es Taten, die zwar ruhmreich sind und Anerkennung bringen, die aber Busse
fordern, weil irgendetwas zentral Wesentliches zerstört wurde, dessen
Zerstörung den Verursacher enorm belastet, besudelt und in einem eher
negativen Sinne auszeichnet. Auch von der Gesellschaft her, die seine Tat
bejubelt hatte, könnten skeptische Stimmen vorgebracht und Vorhaltungen
gemacht worden sein, die es Chrysaor angebracht erscheinen ließen, den
Ort der publikumswirksamen und sensationellen Handlungsweise zu verlassen und
dort hinzugehen, wo man ihn nur noch vom Hörensagen kannte. Auch Neid, Mißgunst
und 'Mobbing' könnten eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt
haben. So verließ der Held Korinth und begab sich nach Tiryns.
Die Verleumdung des Bellerophontes
In Tiryns «herrschte König Proitos» (ibid.). Jener Proitos,
der vor seinem Zwillingsbruder Akrisios hatte zum König von Lykien in
Kleinasien fliehen müssen und dort dessen Tochter Anteia/Stheneboia
geehelicht hatte. Proitos vermochte es, den Chrysaor zu reinigen, ihm jene
Schatten abzuwaschen, welche die Vernichtung des Belleros über ihn geworfen
hatte. Der König von Tiryns war sicher dafür geeignet, hatte er doch
selbst einmal eine Niederlage erlitten und war dadurch in die Verbannung
gezwungen worden. Und manchmal wirft eben auch ein Sieg einen Schatten und führt
beides, Sieg wie Niederlage, zur Verunreinigung, weil dadurch das
Gleichgewicht gestört wird.
Was aber mag eine Frau denken, die plötzlich einem
jugendlichen Sieger gegenübersteht, nachdem sie einen Verlierer
geheiratet und mit ihm einige Jahre verbracht hat, auch wenn dieser Ehemann
nunmehr stolzer Großkönig sein sollte? Irgendwie wird immer noch ein
Makel auf ihm liegen, und sei es auch bloß das Alter mit seinen Ermüdungserscheinungen.
Das Motiv des Sich-Heranmachens reiferer Ehefrauen an jugendliche Heroen ist
in den griechischen Mythen - und nicht nur dort - nicht unbekannt. Werden
solche Frauen aber abgewiesen, rächen sie sich fürchterlich und
verleumden denjenigen, der sie so schmählich abgewiesen hatte, bei ihren
Gatten. Und jugendliche Heroen sind meistens Frauen gegenüber reichlich
naiv, denn die Erfahrung auf einem Schlachtfeld bietet keinen Ersatz und keine
Hilfe für die Gewandtheit im Umgang mit reiferen Frauen, deren Ambitionen
sich möglicherweise durch Charme und Geschicklichkeit in andere Bahnen
lenken ließen. So tappte der auch hier reichlich naive Bellerophontes in
die Falle und sah sich unerwartet dem Zorn des Proitos gegenüber, der es
allerdings nicht wagte, den Helden mit eigener Hand zu töten. Statt
dessen sandte er ihn unter irgendeinem Vorwand nach Lykien zu seinem
Schwiegervater und gab ihm «verhängnisvolle Schriftzeichen auf
versiegelten Tafeln» (S.72) mit. Schließlich hatte sein
Schwiegervater Amisodaros die Chimaira, ein genetisches Schreckensprodukt,
aufgezogen und damit die Möglichkeit, Bellerophontes vor unlösbare,
todbringende Aufgaben zu stellen.
Die Rache des naiven Bellerophontes
Zunächst bewirtete der König von Lykien Bellerophontes neun Tage
lang festlich, aber am zehnten Tag las er die Botschaft und gab seinem Gast
den hinterlistigen Auftrag, «das Wundertier zu töten, das er unter
dem Vieh besaß» (ibid.). «Das Tier war eine Ziege. ... Vorne
war es Löwe, hinten war es Schlange, ein dreiköpfiges Wesen war es,
das Feuer schnaubte» (ibid.). Doch Bellerophontes erledigte das Untier
aus der Luft vom Rücken seines geflügelten Roßes herunterschießend.
«Der König schickte ihn darauf zum zweiten Mal in den
Tod: gegen ein von den Göttern geliebtes Volk, die Solymer.
Bellerophontes aber besiegte sie. Zum dritten Mal wurde er gegen die Amazonen
gesandt, und als er auch aus diesem Kampf siegreich zurückkehrte,
erwarteten ihn die besten lykischen Helden im Hinterhalt. Keiner kehrte von
jenen heim: alle wurden von Bellerophontes getötet. Da erkannte der König
den Sproß der Götter in ihm, hielt ihn bei sich zurück, gab
ihm seine Tochter zur Frau und überließ ihm die Hälfte seines
Reiches» (ibid.).
Irgendwann einmal mußte Bellerophontes sich gefragt haben,
was der Grund für all die Tötungsversuche des Königs von Lykien
sein mochte, und irgendwie fand er heraus, daß Anteia/Stheneboia die
Urheberin dieser Versuche war. So flog er zurück nach Tiryns und «ergab
sich scheinbar der Liebe der Königin» (S. 73), der Schwester seiner
Frau, nur um sie auf sein Roß zu locken und mit ihr wegzufliegen. «Oder
hatte er sich mit ihr wirklich versöhnt und zürnte nur noch dem
falschen Proitos?» (ibid.) Falls er seinen Rückflug nach Tiryns vor
seiner Vermählung mit der Tochter des Königs von Lykien unternommen
hat, wäre dies möglich. Aber es scheint mir unwahrscheinlich, weil
sonst die weiteren Tötungsversuche unlogisch scheinen. Euripides läßt
zwar in seiner Tragödie 'Stheneboia' den Bellerophontes gleich nach der Tötung
der Chimaira zurückfliegen, doch wichtig scheint mir bloß die
Tatsache, daß Bellerophontes Stheneboia auf den Rücken des Pegasos
nahm und mit ihr wegflog. Wenn dies allerdings zu jener Zeit gewesen sein
sollte, in der er seine Reichshälfte Karien vom König von Lykien
bereits bekommen hatte - und dies ist wohl der Fall gewesen -, dann hat er die
Frau mehr oder weniger bewußt unterwegs in der Nähe der Insel Melos
ins Meer stürzen lassen. Vielleicht wollte er sie auch bloß auf der
Insel absetzen und sie mit Verbannung bestrafen. «Auf einem Vasenbild,
welches den Sturz der Stheneboia zeigt, verdeckt Bellerophontes das Gesicht mit
der Hand» (ibid.). War der Held also entsetzt über den hohen Sturz,
verursacht durch das wilde Aufbäumen der Frau, die plötzlich zu
realisieren begann, welches Schicksal ihr zugedacht war, und sich deswegen
wehrte?
Das vermeintlich tragische Ende des Bellerophontes
Zwei Söhne und eine Tochter zeugte Bellerophontes mit der jüngeren
Schwester der Anteia/Stheneboia. «Seine Tochter war Laodameia, die dem
Zeus jenen Sarpedon gebären sollte, von dem sonst behauptet wurde, er wäre
... ein Sohn des Zeus und der Europa» (S.72-73). Die erzählerische Überlieferung
zeigt an dieser Stelle wiederum gewisse Abweichungen. Diese Divergenzen
zwingen einerseits zur vorsichtigen Lesart und provozieren andererseits
gewisse dichterische Freiheiten. Bei all dem darf allerdings nicht übersehen
werden, daß Bellerophontes in jedem Falle ein vollwertiges Mitglied
einer Gesellschaft war und Maßgebliches geleistet hat. Er war nicht
nur ein Held, sondern auch ein gewissenhafter Familienvater und schließlich
sogar ein Politiker, der zwei kleinasiatische Länder, nämlich Lykien
und Karien, mit dem Reich Argos, das auch Korinthos umfaßte, miteinander
verbinden konnte.
Bellerophontes hatte somit in seinem Leben so ziemlich alles
erreicht, was ein Mensch überhaupt erreichen kann. Darüber dürfte
er älter und nachdenklicher geworden sein. Er kannte die Niederungen der
Intrigen und Verleumdungen, und er kannte die Höhen des Ruhms und der
Ehre. Und offenbar kannte er auch die Denk- und Handlungsweisen der Götter
zumindest ein bißchen und wußte um deren Unberechenbarkeit und deren
Willkür.
Und nach wie vor war der Pegasos sein Roß, mit dem er
von der Erde hochfliegen und bis zum Himmel hinaufgelangen konnte. Euripides
hat in der Tragödie 'Bellerophontes' einige Überlegungen aufgezeigt,
die bei Bellerophontes zum Entschluß geführt haben könnten,
sich mit seinem Roß einmal bis zum Himmel zu erheben. Nicht, um damit
irgendeine Heldentat zu vollbringen, sondern um auf diese Weise einzudringen
in den Rat der Götter.
Könnte es nicht so
gewesen sein, daß die vielfältigen Erfahrungen den Bellerophontes
schließlich davon überzeugt haben, «nur das alte Wort wäre
wahr: nicht geboren werden ist das Allerbeste!» (S.73) Mußte ein
Mann wie Bellerophontes, der trotz Mißgunst und Verleumdung eine große
Karriere gemacht hatte, nicht eines Tages resignieren und sich fragen: «Wozu
das alles?» Sein Sohn Isander war in einer Schlacht gegen die Solymer getötet
und seine Tochter Laodameia von einem Pfeil der Artemis durchbohrt worden.
Und wer dann noch die Welt kennt und in ihr alles erreicht hat, was
es für einen Menschen überhaupt zu erreichen gibt, hat keine
Herausforderungen mehr. Meines Erachtens mußte Bellerophontes zum Grübler
werden, er mußte - wenn er sich selbst gegenüber ehrlich bleiben
wollte - zu zweifeln beginnen. Es war nicht allein Bitterkeit und schon gar
nicht jugendliches Ungestüm oder die schiere Lust nach neuen Abenteuern.
Auch der Drang eines leichtsinnigen Himmelsstürmers darf dem erfahrenen
Bellerophontes nicht unterschoben werden. Diverse Enttäuschungen haben ihn
zunächst nachdenklich und illusionsfrei werden lassen. Und dann wurde
Bellerophontes mit dem Alter und der großen Erfahrung hellhörig und
gelehrig, wie Konfuzius sagen würde. Schließlich wollte er die
Gesetze des Himmels kennenlernen, aber nicht als naiver Gläubiger,
sondern als Zweifler und als Kritiker. Die Möglichkeiten dazu hatte er wie
kein anderer in Form seines Bruders Pegasos. Also schwang er sich auf sein Roß
und versuchte, sich dem Himmel in einer erkenntniskritischen Haltung anzunähern
und den Rat der Götter zu belauschen.
Und der göttliche Hengst warf den verwegenen Reiter ab.
Doch weshalb?
Pegasos hatte bestimmt keinen Grund, seinen Bruder
einfach abzuwerfen, denn dieser Ritt war völlig gefahrlos und der Reiter
ein alter Gefährte. Es ging zudem nicht in einen Kampf, bei dem das Pferd
sich etwa hätte verletzen können.
Doch es gibt Dinge,
die ein Pferd wirklich zur Raserei bringen können. Eine gewöhnliche
Fliege wird es wohl kaum gewesen sein, die der unwillige und erzürnte Zeus
vom Olymp dem in die Höhe strebenden Reiter auf seinem Pferd
entgegenschickte. Eher schon eine Biesfliege! Und diese Daßelfliege kann
ein Pferd wahrlich plagen und sich derart wild gebärden lassen, daß
kein Reiter auf dem Rücken sitzen zu bleiben vermag.
Zeus
wollte sich offensichtlich nicht in die Karten gucken lassen, denn wo kämen
die Götter da hin, wenn es einem menschlichen Wesen gelänge,
Einblick in ihre Ratsversammlung zu nehmen! So schickte er die Daßelfliege,
weshalb der göttliche Hengst den verwegenen Reiter gezwungenermaßen
abwarf.
Und Bellerophontes fiel, so wußten es bereits die
älteren Erzähler, auf die Ebene Aleion, die 'Ebene des Umherirrens',
wo er fern in Kleinasien, die Menschen mied. Hinkend (und keineswegs
wahnsinnig) trauerte er da über das Los der Sterblichen, «während
Pegasos, der Unsterbliche, dem Götterkönig die Blitze trägt
oder der Göttin Eos dient, die den Morgen bringt und die Jünglinge
raubt» (ibid.).
Während der Pegasos auf den Olympos zu
den uralten Krippen der Götterroße aufgenommen wurde, ging
Bellerophontes hinkend und lahmend auf der Erde herum. Er, der ehemals berühmte
Held, mied nun bewußt den Kontakt mit den Menschen. Daß das geflügelte
Roß in den Olympos aufgenommen wurde, ist bestimmt als Sicherheitsmaßnahme
der Götter zu werten. Nur so ließ es sich nämlich vermeiden, daß
Pegasos wieder zu Bellerophontes zurückkehrte und ihm möglicherweise
zu einem neuen Ritt verhelfen konnte, einem Ritt, den die Götter
offensichtlich fürchteten und unter allen Umständen vermeiden
wollten.
Es sollte nicht vergessen werden, daß
Bellerophontes als Chrysaor der leibliche Bruder des Pegasos ist und demnach
auch eine göttliche Natur besitzt - im Vergleich etwa zu Poseidon oder
Zeus vielleicht eine allzu menschliche. Chrysaor hat schließlich als
Bellerophontes sein ganzes Leben in menschlicher Umgebung auf der Erde
zugebracht und war zu keinem Zeitpunkt auf dem Olymp. Und dennoch war er
irgendwie göttlich, d.h. er stand als Held über den Menschen. Und
als er begann, über die menschliche Natur und die Natur der Götter
nachzudenken, zog er den Zorn des Göttervater Zeus auf sich.
Bellerophontes wagte das Undenkbare, er zweifelte. Nicht
eigentlich an der Existenz der Götter. Denn dann hätte er nicht mit
Hilfe des Pegasos zum Olymp hochfliegen müssen. Vielmehr am Rat der Götter,
an dem, was die Götter da oben, fern von allen Menschen, aushecken und
beratschlagen.
Bellerophontes begann, das gängige Weltbild
zu hinterfragen! Er wollte die Selbstverständlichkeiten nicht mehr als
selbstverständlich hinnehmen, sondern von der Erde aus zum Himmel
emporsteigen, um dort - an Ort und Stelle - die Gesetze des Olymp
kennenzulernen. Dies tat er eindeutig nicht als stürmender Held, den es zu
neuen Taten drängte, sondern als abgeklärter Alter, der sein Leben
mit allen Schicksalsschlägen gelebt hatte. Für ihn war die Zeit
reif, kritisch nach den letzten Dingen zu fragen. Ob er sich nach seinem Sturz
dann noch gewundert hat, daß sein Versuch hatte scheitern müssen?
Bellerophontes hatte schmerzlich erfahren müssen, was es
bedeutet, die letzten und höchsten Dinge hinterfragen zu wollen. Diese
schlagen brutal zu und tun alles, um eine Bewußtwerdung zu verhindern.
Denn sie selbst bilden als göttliche Wesen das normative Gefüge der
menschlichen Existenz. Würde der Mensch Kenntnis bekommen von der Art und
Weise, wie sie das tun, wäre ihre Allmacht gefährdet. Mit einem Male wäre
nichts mehr selbstverständlich oder gar allgemein verbindlich. Allein
schon diese Einsicht mußte auf Bellerophontes einfach umwerfend wirken
und ihn zu seinem Ausgangspunkt zurückschleudern.
Auf
der Erde unten konnte für Bellerophontes nichts mehr wie vorher sein, zu
wahnwitzig war die Angelegenheit. Mit dem Verlust des naiven Glaubens an die Götter
und deren Ratschluß war auch der soziale Status als selbstverständliche
und logische Folge des persönlichen Tuns vergänglich geworden. Die
Ordnung der Welt war zerbrochen, die leichtfüßige Gangart dahin.
Fortan hinkte Bellerophontes nur noch. Er ging langsam, bedächtig,
aufmerksam und äußerst vorsichtig durch die 'Ebene des Umherirrens'.
Wo hätte er noch einen festen Anhaltspunkt finden wollen,
wo ein Ziel, eine Bleibe oder eine Heimat!? Der Weg war von nun an sein Ziel,
der Wanderstab die Achse und der Halt. Und hätte er nicht ganz bewußt
seine Schritte gesetzt, er wäre sofort gestürzt. Und worüber hätte
er mit den Menschen sprechen sollen, mit den Menschen, die ihn zuvor als Held
bejubelt hatten und die nach wie vor die Götter anbeteten? Jede Art von
erkenntniskritischem Gespräch wäre für sie bloß Blasphemie
gewesen - und der Sturz vom Himmel aus ihrer Sicht die logische Strafe für
den Frevel eines Hochmütigen (diese Meinung vertreten heute die
Psychologen). So mied Bellerophontes fortan die Menschen und ging allein
seines Weges.
Soweit die Geschichte des Bellerophontes und des
Pegasos. Ob sie mit diesem Text zu Ende ist, bleibe dahingestellt, denn in der
griechischen Mythenwelt humpelt noch so dies und jenes in der Weltgeschichte
herum - und in der Psychologie gibt es noch so diese und jene Ungenauigkeit.
Literaturverzeichnis
Kerényi, Karl. Die Mythologie der Griechen: Die
Heroen-Geschichten. München: dtV, (1958) 1966 - dtv TB Nr.397.
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Sas, Stephan. Der Hinkende als Symbol. (Studien aus dem C.G.
Jung-Institut Zürich Bd. 16. Zürich: Rascher, 1964.
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