Märchen als Schlüssel
zu den Quellen der Nacht

Teil 3/4
Werner Zurfluh
Geesthacht: Wolkentor, (1984) 2. Aufl. 1985
3. erw. Aufl. 1996 im HTML-Format
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(Teil 2)

Ein Märchen

Vor Jahren habe ich ein Märchen gefunden, das zeigt, welche Bedeutung die Tataren der Kontinuität des Ich-Bewußtseins zusprechen. Es handelt sich um eine Heldensage, die aufgrund ihres Inhaltes als Zaubermärchen eingestuft werden kann.
Die Erzählung wurde von M.A. Castrén 1857 im Band "Ethnologische Vorlesungen über altaische Völker nebst samojedischen Märchen und tatarischen Heldensagen" unter dem Titel «Kan Mirgän, Komdei Mirgän und Kanna Kalas» veröffentlicht.

In der "Sage" wird von Tataren erzählt, die über ihren "außerkörperlichen" Zustand Bescheid wissen und sich an ihre eigene Identität und die soziale Stellung im Alltag erinnern. Und dies ist ja das Charakteristische der Bewußtseins-Kontinuität. Das Ich ist fähig, die Wirklichkeitsebene zu erkennen, in der es existiert und sie von anderen zu unterscheiden. Es verfügt über ein stabiles und koordinationsfähiges Bewußtsein. Die emotionalen und kognitiven Funktionen sind ebenso intakt wie das Wahrnehmungsvermögen, die Lernfähigkeit und der sprachliche Ausdruck. Die Dinge können beurteilt werden und die gefühlsmäßigen Bewertungskriterien und die intuitiven Einsichten spielen eine wesentliche Rolle.

Die Geschichte selbst beginnt heldenhaft: Kulate Mirgän, Vater eines Mädchens und eines Knaben, weigert sich, Tribut zu entrichten, und tötet deshalb die mächtigen Fürsten Kalangar Taidji und Katai Chan. Deren Schwager, Sokai Alten, ringt später mit Kulate Mirgän sieben Monate lang und nimmt ihm schließlich das Leben. Als der Sohn des Kulate Mirgän, Komdei Mirgän, vernimmt, daß sein Vater getötet worden sei, macht er sich auf, den Tod seines Vaters zu rächen und erschießt Sokai Alten mit einem Pfeil. Als er aber den Herrschaftsbereich des Sokai Alten in Besitz nehmen will, begegnet ihm ein schwarzer Fuchs, dessen Spur er nachjagt, bis sein Pferd stürzt und der Reiter sich deswegen ein Bein bricht. Und in diesem Augenblick kommt es zu einem Einbruch einer anderen Wirklichkeitsebene in Form eines aus der Erde steigenden Stieres mit vierzig Hörnern, auf dem ein Wesen mit neun Köpfen reitet. Dieses Wesen schlägt Komdei Mirgän den Kopf ab und begibt sich mit der grausigen Trophäe in sein Reich unter der Erde. »Komdei's Roß kehrte aber wieder heim. Als Mutter und Schwester das Roß ohne Herrn wiederkehren sehen, weinten sie sieben Tage lang Tag und Nacht ohne Unterlaß«. (Märchen) Am siebenten Tag besteigt Kubaiko das Roß ihres Bruders und reitet davon, den Bruder zu suchen. (Inhalt)

Auf dieser Suchfahrt geschehen nun Dinge, die darauf hinweisen, daß sich die Heldin der Tatsache bewußt wird und bewußt bleibt, nicht in alltäglichen Gefilden zu reisen. Als erstes wird der Wechsel vom Alltäglichen zum Märchenhaften bzw. zum 'Jenseitigen' deutlich: Kubaiko ritt vorwärts und sah lauter hohe Berge und weite Meere. Auf dem Wege fragte sie ihr Roß, weshalb es sie in solche unzugänglichen Gegenden bringe. Und das Roß antwortete, daß Helden und Heldenroße nie auf bessern Wegen reisen. (Märchen) »So führ mich«, sprach das Mädchen, »wohin es dich beliebt, aber zeige mir nur die Stelle, wo mein Vater und mein Bruder getötet worden sind.« (Märchen) - Der Wechsel von der Alltags- zur Märchenebene kann, in bezug auf die Kontinuität des Ich-Bewußtseins, ohne Unterbruch erfolgen: Der Ritt beginnt in gewohnter Umgebung und findet seine Fortsetzung in einer durch hohe Berge und weite Meere gekennzeichneten Landschaft. Dieser Umgebungswechsel ist in der Praxis der außerkörperlichen Seinsweise deshalb wichtig, weil er das Ich auf seinen besonderen Zustand aufmerksam werden läßt und es dazu veranlaßt, eine Zustandskontrolle durchzuführen. Wegen des - verglichen zum Alltag - unveränderten Ich-Bewußtseins kann nämlich, zumindest zu Beginn des außerkörperlichen Zustandes, oft kein Unterschied zur Alltagssituation festgestellt werden. (Anm.1)

Für eine Zustandskontrolle braucht es ein intaktes Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen, denn die verschiedenen Wirklichkeitsebenen unterschieden sich vor allem in ihrem Aussehen und ganz besonders in ihrem Spektrum an Möglichkeiten, d.h. ihrer Regelhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit. Diesseits gibt es z.B. in der Nähe der Wohn- und Arbeitsstätte keine hohen Berge und weiten Meere. (Inhalt)

Kubaiko sieht sich um und bemerkt, daß die Landschaft nicht der gewohnten entspricht, und die Gegend unzugänglich und mit normalen Mitteln nicht begehbar ist. Für sie und für die mit diesen Gegebenheiten vertrauten Zuhörer mag dies ein erster Hinweis auf den vollzogenen Zustands- bzw. Ebenenwechsel sein. Dem Mädchen genügt er offensichtlich als Anstoß zu einer direkten Frage an das Pferd. Dieses Verhalten ist im Alltagsbereich unüblich, im märchenhaften jedoch situationsadäquat. Jene, denen Märchen keine phantasmagorischen Hirngespinste sind, werden dies ohne weiteres begreifen. Tiere, die sprechen können, sind im schamanischen und märchenhaften Erlebnisbereich nichts Außergewöhnliches. (Sollte das angesprochene Tierwesen aber nicht antworten, könnte sich das Ich in der Bestimmung seines Zustandes geirrt haben und müßte zu seinem eigenen Vorteil die Wirklichkeitsebene auf eine andere Art bestimmen). - Kubaiko aber befragt ihr Roß ohne zu zögern.

Interessant ist die Tatsache, daß auch das Pferd in seiner Antwort ein traditionelles Wissen bezeugt, indem es darauf hinweist, "daß Helden und Heldenrosse nie auf bessern Wegen reisen". Aus der Antwort des Reittieres würden sich für einen 'normalen Westeuropäer' - falls er überhaupt in eine ähnliche Situation gerät - weitreichende theoretische und praktische Implikationen ergeben. Dies dürfte eben der Grund dafür sein, daß derartige Kommunikationsweisen äußerst selten vorkommen und gar nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden. In der tatarischen Heldensage von Kubaiko und Komdei Mirgän gibt es dagegen noch mehrere solcher 'anstößiger' Stellen.

Die Bewußtseins-Kontinuität des Mädchens zeigt sich an ihrer - an die Auskunft des Pferdes sich anschließende - Bitte, es möge sie an jene Orte führen, an denen Vater und Bruder den Tod gefunden haben. Kubaiko bittet nicht umsonst. Nachdem sie neun Tage bei der Leiche ihres Vaters und drei an der ihres Bruders geweint hat, läßt sie sich vom Roß in die Unterwelt tragen. Dieses zeitlich begrenzte Verweilen in einer alltagsähnlichen Umgebung weist u.a. auch auf die psychische Notwendigkeit der Trauerarbeit hin. Es ist aber auch typisch für schamanische Fahrten von Menschen, die bereits über einige Kenntnisse in bezug auf den schamanisch-außerkörperlichen Zustand verfügen, aber noch nicht über ein umfangreiches Wissen und vielfältige Erfahrungen. In diesem Fall wirken sich vor allem die unverarbeiteten Alltagserlebnisse so aus, daß sie das weitere Fortkommen so lange verhindern, bis die Angelegenheit aufgearbeitet ist. (Inhalt)

Die Begegnung
In der Unterwelt angelangt, sieht Kubaiko Dinge, deren Andersartigkeit bzw. Diskrepanz zum Alltäglichen derart offensichtlich ist, daß sie sich darüber nur wundern kann. Im Märchen wird gesagt:
»Das Mädchen erstaunte immer mehr über das, was sie sah, macht jedoch nicht Halt, sondern fährt fort zu reiten.« (Märchen) Skeptiker, die eine schamanische oder märchenhafte Seelenfahrt ähnlich der Reise von Kubaiko unternehmen möchten, wählen mit Vorteil gerade diesen Satz als Motto für ihr Vorhaben.

Nun folgt im Zaubermärchen ein erster Abschnitt, der deutlich macht, welche Bedeutung der Bewußtseins-Kontinuität und Intersubjektivität im Tatarischen zukommt, ein Abschnitt, der zeigt, daß Begegnungen von Personen des Diesseits in der Anderwelt wenigstens für Völker, die eine schamanische Tradition und ein schamanisches Wissen haben, eine Realität sind: Als Kubaiko »so reitet, begegnet ihr auf dem Wege ein Mädchen. Dieses setzte sich bei dem Anblick von Kubaiko auf die Erde und Kubaiko hielt zugleich ihr Roß an. Die Sitzende redet Kubaiko an und bittet sie vom Rosse zu steigen. Kubaiko stieg sogleich vom Rosse und setzte sich an die Seite des sitzenden Mädchens. Kubaiko fragte die Sitzende, ob sie ein unterirdisches Wesen oder vielleicht im Lande des weißen Lichtes geboren sei. Die Sitzende antwortet, daß sie von Gott geschaffen sei, daß sie auf Erden gelebt und einen Bruder, Kan Mirgän, gehabt habe. 'In einer Nacht', fuhr die Sitzende fort, 'als Kan Mirgän in seinem Zelte schlief, kam ein Bote von den beiden Heldenbrüdern Kalangar Taidji und Katai-Chan. Der Bote band meinen Bruder an Händen und Füßen, während er schlief; darauf nahm er ihn und brachte ihn zu den IRLE-CHAN's unter der Erde. Dieser Irle-Chan's gibt es acht, und der neunte ist ihr Ataman. Dieser Ataman läßt jetzt meinen Bruder brennen und ich bin hierhergekommen, um zuzusehen, ob ich ihn nicht befreien kann. In Irle-Chan's Wohnung gelangt, hörte ich einen so starken Lärm von Hammerschlägen, daß ich nicht weiter zu gehen wagte, sondern zurückkehrte.' Das sitzende Mädchen KANARKO fügt hinzu: 'Kommst du zu meinem Bruder, so gib ihm dieses seidene Tuch, daß er sich den Schweiß abtrocknen könne, während er auf dem Feuer gebraten wird.' Darauf fragt Kanarko die Kubaiko, weshalb sie sich in die Unterwelt begeben und Kubaiko antwortet, daß sie ihren Bruder suche, dessen Kopf Djilbegän hingebracht hätte.« (Märchen) Dann beschreibt Kanarko noch das Haus der Irle-Chan's. Als sie »ihre Rede beendet hatte, begab sie sich hinauf zum Sonnenland, Kubaiko aber setzte ihr Wanderung noch tiefer in die Unterwelt fort.« (Märchen)

Die hier geschilderte Begegnung zweier junger Frauen, die "im Lande des weißen Lichts" wohnen bzw. auf der Erde leben, bestätigt die These, daß es märchenhafte Gestalten gibt, denen das Attribut 'bewußtseinskontinuierlich' zugesprochen werden kann. Diejenigen, die derartige Erzählungen im Felde protokollieren und weder das Konzept der Außerkörperlichkeit kennen noch über eigene Erfahrungen verfügen, werden solche Teile von Erzählungen zwar gewissenhaft aufzeichnen, aber gleichzeitig auch irgendwie überhören. Denn ohne persönlichen Erfahrungshintergrund und ohne ein theoretisches Konzept, das die Außerkörperlichkeit als beobachtbar bezeichnet, verharren gewisse Aussagen in der Nebensächlichkeit. Wer dagegen das "Schamanische und Märchenhafte" selbst erlebt hat, erkennt diese Dinge sofort. Niemand muß ihn ausdrücklich auf solche Sachverhalte aufmerksam machen, denn sie sind ihm bekannt. Es besteht somit kein Grund - weder in der tatarischen Geschichte noch in den Märchen - auf Selbstverständliches hinzuweisen. Zum Mißverständnis kommt es nur, wenn das Weltbild sich derart wandelt, daß der schamanisch-märchenhafte Erlebnisbereich als unwirklich, traumhaft und irrelevant eingestuft bzw. als wahnhaft bezeichnet wird. Die Verpflichtung auf ein Paradigma, das einem Weltbild entstammt, das nichts von der Außerkörperlichkeit weiß, führt zwangsweise zu systemkonformen, umständlichen Erklärungen und zur Kennzeichnung "paranormal-nebensächlich".

Konformität und Zielgerichtetheit erweisen sich bei der Erschließung märchenhafter und schamanischer Erlebniswelten als untaugliche Mittel. Und die dogmatisch vertretene Ansicht, selbstreflexive Ich-Identität und Bewußtseins-Stabilität seien auf den Wachzustand des physischen Körpers beschränkt, verbietet apriori eine Begegnung wie die zwischen Kubaiko und Kanarko. Diese beiden Mädchen fassen die Wirklichkeit bestimmt nicht eindimensional auf. Die Alltagsrealität hat für sie keinen Ausschließlichkeitscharakter, denn Eindimensionalität ist bei einem Volk wie den Tataren höchstens eine Folge der "zivilisatorischen Errungenschaften". (Inhalt)

An dieser Stelle möchte ich noch auf einen anderen Aspekt der Erschließung der Anderwelt hinweisen, denn dessen Berücksichtigung erhellt die gesellschaftsregulierende und heilmachende Funktion von Schamanen und Märchenhelden: Die Kontinuität des Ich-Bewußtseins läßt sich mit Verdrängung nicht vereinbaren. Einem bewußtseinskontinuierlichen Ich wird alles fragwürdig erscheinen, und es ist gewissermaßen um der Selbsterhaltung willen genötigt, selbst- und gesellschaftskritisch zu sein. Sonst würde es nämlich zu irgendeinem Zeitpunkt an irgendeinem Ort ein "abaissement du niveau mental" erleiden und "depersonalisiert" werden. Bleibt das Ich aber luzid, ist es ihm möglich, auch die "andere Seite" wahrzunehmen - und es ist in der Lage, dem Ganz-Anderen Gehör zu verschaffen, statt es zu verdrängen.

Kontinuität verlangt den vollen Einsatz für die andere Wirklichkeit - ungeachtet deren Andersartigkeit. Und weil schamanische und märchenhafte Welten überaus erschütternd sein können, - Kanarko z.B. hörte »einen so starken Lärm von Hammerschlägen«, daß sie nicht weiterzugehen wagte -, sind jene, die den Mut haben, sie zu begehen, darauf angewiesen, in einem Alltag zu leben, der einigermaßen ruhig und stabil bleibt. Wenigstens sollte bei der Rückkehr die Gewähr bestehen, daß der gewohnte Rahmen vorhanden ist. Wenn sowohl die gesellschaftlichen als auch die persönlichen Verhältnisse desparat sind, wird die Suchfahrt kaum gelingen. (Inhalt)

Nun aber zurück zu den beiden Mädchen in der Unterwelt. Kubaiko und Kanarko sind sich auf der Erde, im Land der Sonne, noch niemals persönlich begegnet. Daß sich ihre Wege in der Unterwelt kreuzen, ist nicht rein zufällig. Was sie verbindet, ist das Schicksal der Brüder und die Absicht, sie zu befreien. Der rein formale Ablauf der Begegnung deutet darauf hin, daß sowohl Kubaiko wie Kanarko in einer Tradition aufgewachsen sind, die ein Zusammentreffen von Personen des Alltags in der Unterwelt prinzipiell für möglich hält und als tatsächliches Ereignis anerkennt, als Ereignis, bei dessen Zustandekommen bestimmte Konventionen zu beachten sind.

In unserer modernen, technologisch orientierten Zivilisation sind solche Begegnungen nur sehr schwer zu realisieren, denn das gesellschaftliche Umfeld und die innere Einstellung sprechen dagegen. Außerdem ist kaum jemand bereit, z.B. den Abstieg in die Unterwelt zu wagen und die dafür notwendigen Vorausleistungen zu erbringen und jene Proben zu bestehen, die es durchzustehen gilt, bevor die Große Kostbarkeit erlangt werden kann. Auch davon weiß das tatarische Zaubermärchen, die "Heldensage", zu berichten. Dieser Teil der Geschichte von Kubaiko erhellt die Notwendigkeit der Ich-Bewußtseins-Kontinuität zusätzlich, denn es zeigt sich auf der Suchfahrt des Mädchens immer wieder, daß Verständnis, Denkvermögen und Gedächtnis für die Entscheidungsfindung von ausschlaggebender Bedeutung sind: Kubaiko gibt das Vorhaben, ihren Bruder zu finden und zu erlösen, nicht auf; sie kann Inschriften lesen und verstehen; ist fähig, trotz großer Ängste auszuharren und vernünftig zu handeln; und das Mädchen ist sogar bereit, die ihr auferlegten Aufgaben zu erfüllen. Von besonderem Interesse ist ferner die Tatsache, daß die Irle-Chane der fragenden Kubaiko verschiedene Szenen erklären, die sie unterwegs gesehen aber nicht verstanden hat. Dieses "Detail" werden vor allem jene zu beachten haben, die der Auffassung sind, "Trauminhalte" könnten erst nach dem Wiedereintritt des Ichs in den Alltag interpretiert bzw. verstanden und erklärt werden. Das Gegenteil ist zutreffend: Einem luziden Ich ist es jederzeit möglich - auch im "Traum" - zu deuten oder sich Sachverhalte von den Wesen der Anderwelt erläutern zu lassen. (Inhalt)

Bevor der wohl deutlichste Hinweis auf die Kontinuität des Ich-Bewußtseins zur Sprache kommt, soll eine unscheinbare Nebensächlichkeit in dieser tatarischen Geschichte erwähnt werden. Sie erinnert die Zuhörer oder die Leser des Märchens daran, daß die Unterschiedlichkeit der Welt, von der erzählt wird, von verschiedenen Figuren wahrgenommen werden kann. Denn nicht nur die Heldin Kubaiko und das Mädchen Kanarko wissen um ihren spezifischen Zustand, wissen um die Situation, in der sie sich befinden. Dies wird folgendermaßen zum Ausdruck gebracht:

Als Kubaiko in den Raum kam, in dem Kan Mirgän, der Bruder von Kanarko, verbrannt wurde, sah dieser das Mädchen und erinnerte »sich seiner zu Hause gebliebenen Schwester, fing an zu weinen und fragte Kubaiko um die Ursache ihres Erscheinens. Darauf bat er Kubaiko, seine daheimweilende Schwester Kanarko in ihr Zelt zu nehmen und sie wie ihre eigene Schwester zu behandeln.« (Märchen) (Inhalt)

Wer in einem Traum luzid wird, dem wird es wie Kan Mirgän ergehen. Zur Bewußtwerdung der eigenen Situation kann es schrittweise oder abrupt kommen, die Ursache dafür ist verschiendenartig. Menschen, die in einer Kultur aufgewachsen sind, die keine explizite Unterweisung in bezug auf derartige 'nächtliche' Erfahrungen anbietet, werden allerdings beim situationserfassenden Erwachen derart erschrecken und sich dermaßen ängstigen, daß sie sofort - im Bett - erwachen.

Die Bezeichnung 'hellwach' meint 'normalerweise' eben einen Körperzustand. Sie bezieht sich nicht ausschließlich auf den Zustand des Ichs, weshalb luzid gewordene "Träumer" geradezu zwanghaft auf die Alltagsebene in den irdischen Leib zurückkatapultiert werden. Als treibende Kraft wirkt die weltbildkonforme Einstellung, denn eine Körperzustandsform, der die Luzidität monopolartig zugesprochen wird, grenzt 'per definitionem' den bewußt wahrgenommenen Erlebnisbereich des Ichs auf eine einzige Seinsebene ein - auf den Alltag. Das Märchenhafte ist für diese Anschauung nur epiphänomenal und phantasmagorisch - es kann und darf keine Eigenständigkeit besitzen, es ist und bleibt traumhaft im Gegensatz zur Wirklichkeit des Alltäglichen. (Inhalt)

Was läßt sich dieser Meinung entgegenstellen? Zum einen die eigene Erfahrung und zum anderen - wie ebenfalls schon erwähnt - die deutliche Sprache der Zaubermärchen. - Eigenerfahrung und Zaubermärchen sind kritisch mit Hilfe der Erkenntnistheorie zu sichten, sonst bleiben sie naiv, unbescholten und wirkungslos, sie verharren in der Bedeutungslosigkeit des Irrelevanten und werden höchstens am Rande - eben als Kindergeschichten und Fantastika - toleriert. Diese Gefahr ist sogar in der tatarischen Geschichte angedeutet, denn es gelingt Kubaiko nicht, den Bruder wieder zur Besinnung zu bringen, obwohl sie dessen Körperhaftigkeit durch Herbeibringung des Kopfes vervollständigt und die Leiche durch Bespritzen mit Lebenswasser wiederbelebt. Einer der Gründe für diese Unfähigkeit ist Kubaikos Unvermögen, die Wirklichkeitsebenen exakt auseinanderzuhalten. Bei ihr schieben sich verschiedene Welten mit unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten ineinander. (Inhalt)

Solche Ebenenüberlappungen sind oft eine Folge mangelnder Erfahrung und vor allem eine Folge unterlassener erkenntnistheoretischer Überlegungen. Kubaiko aber kennt kein Mittel, um ihren Bruder »wieder zum Leben zu bringen«. (Märchen) Es ist denn auch nicht das Mädchen, das die ganze Angelegenheit zu einem allseits befriedigenden Ende bringt. Dazu bedarf es noch der Hilfe von Kanna Kalas, der Komdei Mirgän zur Besinnung bringen kann, und des Beistandes von Kan Mirgän. Von diesen drei Männern ist Kanna Kalas derjenige, der vater- und mutterlos aufgewachsen ist. Als Waise entspricht er dem jüngsten Sohn bzw. der jüngsten Tochter, die in manchen Märchen die Suchfahrt erfolgreich abschließen. Sie alle sind "weit" vom direkten väterlich-paradigmatischen Einfluß entfernt und genießen eine Art Narrenfreiheit. Diese Distanz erlaubt es ihnen, Probleme unkonventionell anzupacken und zu lösen, sie sind (wie der Dummling) wesentlich ungebundener als die unter strenger Zucht aufgewachsnenen und "thronfolgemäßig" erzogenen Kinder. Dies ist jedoch keine strikte Regel, sondern bloß der 'wahrscheinlichere Fall'. In der tatarischen Geschichte wird die Rolle des Jüngsten vom Waisenkind Kanna Kalas übernommen. Und zusammen machen sie sich - ohne Kubaiko - auf, »immer tiefer unter die Erde hineinzureiten«. (Märchen)

(Teil 4)

Anmerkungen

Anm 1: Vgl. z.B. Bewußtseinskontrolle und Zustandskontrolle
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Literaturverzeichnis

Castrén, M.A. (Hg. A. Schiefner). Ethnologische Vorlesungen über die altaischen Völker nebst samojedischen Märchen und tatarischen Heldensagen. St. Petersburg: 1857.
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