zu den Quellen der Nacht Teil 2/4 Werner Zurfluh |
3. erw. Aufl. 1996 im HTML-Format |
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Meditation ohne Wissen mag eine Zeitlang gelingen,
Doch letzten Endes wird sie erfolglos bleiben;
Gold und Silber lassen sich auch vollständig schmelzen,
Aber ist das Feuer fort, erstarren sie wieder.
Stanza 228 (Anm.1)
Diese Redewendung weist nicht nur darauf hin, daß der eigenen Erfahrungsgewißheit zu mißtrauen ist, sondern sie erinnert auch daran, daß es mehr als nur eine einzige Wissensquelle gibt. Tatsächlich haben schon die frühbuddhistischen Denker deren drei unterschieden: (Inhalt)
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Im 11.Jhd. brachte Marpa diese erkenntnistheoretische Betrachtungsweise zusammen mit vielen tantrischen Konzepten nach Tibet. Er hatte die Unterweisung von Naropa, dem bedeutendsten Tantriker der damaligen Zeit, erhalten und gab sie nun z.B. an Milarepa weiter. Der im Jahre 1153 verstorbene Gampopa lernte seinerseits von Milarepa, daß eine Lehre aus dem eigenen Inneren hervorbrechen muß und nicht mittels Auswendiglernen schulmäßig übernommen werden kann, (Anm.3) und pflegte dazu zu sagen: «Ein einziger Augenblick der Erleuchtung bzw. ein einziger flüchtiger Einblick in die große Weisheit ist wertvoller und kostbarer als alles Wissen, das man sich durch Bücherlesen, Anhören von Diskussionen und deren gedankliche Vertiefung aneignen kann». (Anm.4)
Dennoch warnte auch Gampopa vor der meditativen Erschließung von
Erfahrungsbereichen ohne adäquate Vorbereitung mittels Studium und skeptischer
Durchdringung des traditionellen Wissens: «Allzu schnell wird ein kurzer Einblick in die
Realität mit der Verwirklichung der Einheit verwechselt - worauf das Ich das Bewußtsein
verliert und in die Finsternis gelangt. Ohne Vorbereitung weiß das Ich nämlich nicht,
wonach es Ausschau halten muß. Es erkennt also auch dann nichts, wenn es unmittelbar
davor steht». (ibid.)
Diesen Sachverhalt beschreibt Albert
Einstein etwa achthundert Jahre später im Gespräch mit Werner Heisenberg
folgendermaßen: «Vom prinzipiellen Standpunkt aus ist es ganz falsch, eine Theorie nur
auf beobachtbare Größen gründen zu wollen. Denn es ist ja in Wirklichkeit genau
umgekehrt. Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann.»
(Anm.5)
Dies alles ist eine Herausforderung für jene, die eine realistische Einstellung zu verwirklichen gedenken, denn für sie wird es nun darum gehen, die Tradition zu berücksichtigen, sich einer vernünftigen Argumentation zu bedienen und die eigenen Erfahrungen mitzuleben. Und jetzt öffnet sich plötzlich die Tür zum verbotenen Raum, denn der Schlüssel ist offensichtlich kein materielles, sondern ein prinzipielles Hindernis gewesen. Es geht um die eigene Einstellung, die eine Tür verriegelt und den Zutritt zu einer der drei Quellen verwehrt. Also müssen die 'schlüssigen' Verhaltensweisen wie Angst, Autoritätsgläubigkeit, gewohnheitsmäßiges Handeln, übertriebene Skepsis und noble Zurückhaltung verwandelt werden. Mit Hilfe der Erkenntnistheorie und der Bereitschaft, Erfahrungen zu machen, gelingt dies allemal - aber für diesen Dietrich braucht es ein stabiles und koordinationsfähiges Ich. Ein Ich, das willens ist, die Wissensquellen voneinander zu unterscheiden, furchtlos genug, sie sich immer wieder von neuem zu erschließen, und genügend spontan, sie je nach Bedarf zu benutzen. Und damit komme ich zu einem wesentlichen, vielleicht sogar zum wichtigsten Punkt meiner Ausführungen, zur Kontinuität des Ich-Bewußtseins. (Inhalt)
Die Kontinuität des Ich-Bewußtseins
Das letzte und wohl sperrigste Hindernis vor dem Eintritt in den "verbotenen" Raum der
persönlichen Erfahrung ist die Meinung, das erlebende Ich müßte beim Übergang in die
Märchen-, Traum- und Anderwelt unter allen Umständen einen Bewußtseinsverlust oder
zumindest ein "abaissement du niveau mental" erleiden. Es heißt, das wache und wollende
Bewußtsein würde während des Erlebnisses völlig abwesend sein. Diesbezüglich gibt es
eine unerschöpfliche Fülle von Aussagen, die in irgendeiner Form von der Auflösung der
Stabilität und Koordinationsfähigkeit des Ichs sprechen. Mit dem Versinken der äußeren
Welt aus dem Wahrnehmungsbereich des Ichs, - z.B. bei der intensiven Beschäftigung mit
einer Sache oder beim Einschlafen - muß aber das Bewußtsein um die eigene Situation
und die persönliche Identität nicht notwendigerweise verlorengehen. Eine Verlagerung
und Veränderung des Erlebnisbereiches des Ichs ist nämlich nicht gleichbedeutend mit
einer totalen suggestiven Absorption in eine nichtalltägliche Welt, mit einem plötzlichen
Bewußtseinsverlust oder einem Versinken in den "Trancezustand". In vielen Märchen
wird nämlich die Bedeutung des Wachseins und Wachbleibens besonders hervorgehoben.
So heißt es im Grimmschen Märchen "Der goldene Vogel": «Der Jüngling legte sich also
unter den Baum, wachte und ließ den Schlaf nicht Herr werden.» Das Abenteuer beginnt
eben dort, wo andere - so zitiert Hans Findeisen einen Schamanen - "ohne Gedächtnis"
(Anm.6) zurückbleiben.
Es mag sein, daß ein wissenschaftlich geschulter Beobachter einem Schamanen eine Bewußtlosigkeit zuspricht, wenn er ihn in "Trance" sieht. Allerdings wird dann etwas vorschnell der Zustand des sichtbaren Körpers mit dem Zustand des dem Körper "innewohnenden" Ichs gleichgesetzt. Der Beobachtete dagegen, der scheinbar bewußtlos auf der Erde liegt, reizunempfindlich, starr und bewegungsunfähig, schwebt möglicherweise aufrecht in einem "Zweitkörper" in der Nähe und beobachtet nun seinerseits aufmerksam die Umgebung und den Menschen, der ihn in seinem jetzigen Zustand nicht sehen kann. Manche ahnen nicht einmal, daß andere "außer sich" und damit "außerkörperlich" sind - und dabei vollumfänglich über die emotionalen und kognitiven Funktionen verfügen. (Inhalt)
Wenn man zu Bett geht, um zu schlafen, ist es möglich, das Ich-Bewußtsein und das Wahrnehmungsvermögen auf einen zweiten, offensichtlich "nicht-materiellen" Körper zu verlagern. Wenigstens hat man das Gefühl, daß dem so sei. Dieses "Umsteigen" kann auch völlig absichtslos, d.h. spontan, geschehen, wobei zunächst - vor allem für den unerfahrenen und ungeschulten Beobachter - vom Gefühl der Ich-Identität wie von den Körperempfindungen her kaum Unterschiede zum vorherigen Zustand auszumachen sind. Dies könnte einer der Gründe sein, weshalb in Märchen und Sagen manchmal lediglich gesagt wird: «Als sie einschlafen wollte, erwachte sie wieder», oder: «Als er eingeschlafen war, wurde er wieder geweckt.» Diese Sprechweise entspricht einem Erleben, das sich nicht sonderlich um Abgrenzungen kümmert. Oft geschieht zudem der Übergang in die Anderwelt ohne aufsehenerregende Szenenwechsel, sondern fließend und beinahe unmerklich. Es sind dann nur geringfügigste Unterschiede der Umgebung, die der aufmerksame Beobachter als Hinweis auf den Wechsel der Erfahrungsebene zu erkennen vermag. Und diejenigen, die einer Geschichte zuhören, müssen sehr genau hinhören, um die minimen Andeutungen erfassen zu können.
Die Märchen sind wie die Erzählungen von Schamanen und anderen "Seelenreisenden" praktisch von Bedeutung, denn sie sind vor allem für diejenigen eine Orientierungshilfe, die zum ersten Mal eine Welt jenseits des Alltäglichen betreten - und sich weder beim Übergang noch beim Aufenthalt in der Anderwelt zurechtfinden. Dann trägt das Wissen um 'märchenhafte' Geschichten dazu bei, Ängste abzubauen.
Das Ereignis der Seelenfahrt kann jedem Menschen zustoßen - und dann ist es sehr wichtig und vor allem beruhigend, schon etwas von einem aufziehenden Nebel und von Klappfelsen gehört zu haben, zu wissen, daß schreckliche Dinge dreimal hintereinander geschehen und feste Gegenstände durchdrungen werden können, daß Tiere sprechen und Menschen fliegen, daß es Tarnkappen, Siebenmeilenstiefel und Zaubersättel gibt - denn all dies gehört zur Wirklichkeit der Anderwelt und läßt sich nicht durch Interpretieren in ein theoretisches System eingliedern oder auf Wunschvorstellungen reduzieren. In der Anderwelt gelten andere Gesetze, und es braucht ein sich selbst und seines Zustandes bewußtes Ich, um sich situationsadäquat zu verhalten. Sonst geht es selbst und mit ihm eine Wirklichkeit zugrunde, die niemand verschlafen sollte, wenn er menschlich bleiben will. (Inhalt)
Der alte König
Trotz seiner "Trancezustände" würde der Schamane - im Alltag - ein völlig intaktes
Bewußtsein besitzen, heißt es manchmal - scheinbar liebenswürdigerweise und dennoch
irgendwie abwertend. Im Grunde sei der Schamane doch ein ziemlich normaler Mensch,
dem es (zum Glück) gelang, seine psychopathischen Dispositionen durch Selbstheilung in
den Griff zu bekommen.
Damit kommt eine Anschauung zum Ausdruck, die
möglicherweise auf Heraklit zurückgeht. Heraklit, schreibt Ernst Cassirer, fragte nämlich
nach dem "Wie" und dem "Warum" und war der Meinung, daß die Wahrnehmung solche
Fragen nicht zu beantworten vermag, daß es vielmehr das Denken sei, das die Antwort
gibt,
«denn hier, und hier allein, wird der Mensch von der Schranke seiner Individualität
frei» (Anm.7).
Dies ist deshalb eine fatale Überzeichnung, weil durch sie die Wissensquelle
"Erfahrung" eliminiert und die Quelle "Logik-Logos" zur obersten Instanz gemacht wird.
Der Mensch folgt dann nicht mehr «der 'eigenen Meinung', sondern er erfaßt ein
Allgemeines und Göttliches» (ibid.S.4-5) - und schüttet auf diese Weise das Kind mit dem Bade
aus. Doch in der europäischen Geistesgeschichte tritt seit Heraklit ein universelles
Weltgesetz «an die Stelle der idiä fronäsis, der 'privaten' Einsicht», auf Grund derer der
Mensch «der mythischen Traumwelt und der engen und begrenzten Welt der sinnlichen
Wahrnehmung» (ibid.S.5) entrinnt. «Denn eben dies ist der Charakter des Wachens und
Erwacht-Seins, daß die Individuen eine gemeinsame Welt besitzen, während im Traum
jeder nur in seiner eigenen Welt lebt und in ihr befangen und versenkt bleibt. Damit war
dem gesamten abendländischen Denken eine neue Aufgabe gestellt und eine Richtung
eingepflanzt, von der es fortan nicht wieder abweichen konnte. Seit dieses Denken durch
die Schule der griechischen Philosophie hindurchgegangen war, war alles Erkennen der
Wirklichkeit gewissermaßen auf den Grundbegriff des 'Logos' - und damit auf die 'Logik'
im weitesten Sinne - verpflichtet» (ibid.S.5).
Ergibt sich also daraus ein unüberbrückbarer
Abgrund zwischen Erfahrung und Logik, zwischen individuellen und gesellschaftlichen
Bedürfnissen und Möglichkeiten? Oder, anders ausgedrückt, hat der alte König einen
absoluten Herrschaftsanspruch? Wer vom eigenen Erleben erzählt, tut gut daran, an die
"logischen" Ansprüche des absolutistischen Herrschers zu denken und diese auf
irgendeine Art mitzuberücksichtigen. Könnte es sein, daß manches Märchen gerade von
diesen Dingen berichtet? Ich würde diese Frage bejahen und meinen, daß es in unserer
Kultur speziell die Märchen sind, die immer wieder darauf hinweisen, wie wichtig es ist,
im persönlichen Erleben bewußtseinskontinuierlich zu bleiben. Nur so kommt die
Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, zum Tragen, nur so bleiben "Logos" und
"Logik" erhalten, ohne daß die "mythische Traumwelt" verloren geht. Gibt es einen
anderen Weg der Erlösung, einen anderen Weg der Einheit?
Wenn ich die Außerkörperlichkeit selbst erlebe, habe ich gefühlsmäßig die Gewissheit,
außerhalb meiner physischen Leiblichkeit zu existieren, denn meine personale Integrität
ist vorhanden. Das Ich verfügt über seine normale Stabilität und Koordinationsfähigkeit.
Das Wahrnehmungsvermögen, die Gedächtnisleistungen, die Lernfähigkeit, der Denkstil,
die Vorstellungs- und die Urteilsfähigkeit sowie die Beherrschung der Sprache bleiben
bestehen und sind im üblichen Rahmen - oder sogar in erheblich gesteigerter Form -
verfügbar. Die Kontinuität des Ichs, das Wissen um die eigene Ich-Identität und den
spezifischen Zustand ist keineswegs abgeschwächt, die emotionalen und kognitiven
Funktionen sind nicht gemindert oder sogar aufgelöst - sie bleiben auch im
außerkörperlichen Zustand vollumfänglich erhalten. Dies ist eine erstaunliche, die
menschliche Existenz bereichernde Tatsache, die unbedingt stärker beachtet werden
sollte, zumal im Umfeld des Sterbens (Anm.8)
oder in sonstigen Grenzsituationen (Anm.9) der
außerkörperlichem Zustand nicht immer angstfrei erlebt wird. - Vor allem der
Spontanaustritt ist für viele angsterregend, weil es meistens keinerlei Anhaltspunkte gibt,
die helfen, das Ereignis einzuordnen oder einfach als Erfahrungsmöglichkeit des In-derWelt-Seins zu akzeptieren.
Der Allgemeinheit kann die persönliche Erfahrungsgewißheit nicht viel gelten, zumal die
obersten Berater des alten Königs "Objektivität", "Wiederholbarkeit" und "Linearität"
heißen. Die mit ihnen verbundenen Einstellungen sind zusammen mit der sogenannten
"Beweisbarkeit" dafür verantwortlich, daß die Helden vieler Märchen verbannt,
ausgestoßen, mit scheinbar unlösbaren Aufgaben weggeschickt oder einfach nur entlassen
werden. Die genannten Berater werden auch das Einbringen des 'jenseitigen'
Erfahrungsraumes zu verhindern wissen, weil sie sich z.B. nicht um einen Wunsch wie den
der "Königin vom goldenen Berg" kümmern werden. Diese Herrscherin aus dem
Grimmschen Märchen hatte ihrem weltlichen Gemahl vor der Rückkehr in den Alltag
einen Ring geschenkt, mit dessen Hilfe der Kaufmannssohn Raum und Zeit überwinden
konnte. Bei der Übergabe sagte sie zu ihrem Mann, der den Wunsch hatte, seinen
weltlichen Vater wiederzusehen: «Nur mußt du mir versprechen, daß du ihn nicht
gebrauchst, mich von hier weg zu deinem Vater zu wünschen» (Grimms Märchen: "Der
König vom goldenen Berg"). - Doch der Vater glaubte die Geschichte seines Sohnes nicht.
Er bezweifelte sie vor allem deshalb, weil das äußere Erscheinungsbild (die Kleidung)
seinen Vorstellungen nicht entsprach: «Das ist mir ein schöner König, der in einem
zerlumpten Schäferrock hergeht» (ibid.). - Und was tat der zornige junge Mann? Er drehte den Ring,
ohne an sein Versprechen zu denken, und wünschte seine Gemahlin und
sein Kind zu sich.
Jene, die die Außerkörperlichkeit selbst nicht erlebt haben, werden sich wohl kaum einzig
aufgrund von Erzählungen persönlicher Erlebnisse zu einer ernsthaften
Auseinandersetzung mit dem Erleben schamanischer und märchenhafter Seelenfahrten
und den damit verbundenen theoretischen Implikationen und weltanschaulichen Fragen
veranlaßt sehen. Für sie dürften Hinweise, die die Märchen geben, als Indizien vielleicht
schwerer ins Gewicht fallen, weshalb ich mich vor allem auf Märchenaussagen
beschränke. Diese Einschränkung ist nur eine scheinbare, denn bei der Anführung von
Belegstellen wird es sich stets um Material handeln, das meinem persönlichen Erleben
sehr ähnlich ist.
Anm 1: Evans-Wentz (1935) 1958:62 (Übersetzung von mir).
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