Märchen als Schlüssel
zu den Quellen der Nacht

Teil 1/4
Werner Zurfluh
Geesthacht: Wolkentor, (1984) 2. Aufl. 1985
3. erw. Aufl. 1996 im HTML-Format
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Alptraum und Wandel zweiter Ordnung

Es wird kaum jemanden geben, der noch nie einen Alptraum erlebt hat. Schreckliches ereignet sich zwar auch im Alltag, aber in bezug auf Alpträume hat der Mensch eine besondere Methode entwickelt, der Gefahr zu entfliehen: das Erwachen. Diese Lösung entspricht einem «Wandel zweiter Ordnung», denn durch das Erwachen wird nicht ein Element des Traumgeschehens verändert, sondern der Zustand des Ichs. In einem Alptraum kann das Traum-Ich nämlich alles mögliche versuchen: fliehen, sich verstecken, sich verzweifelt wehren, aus dem Fenster springen usw.; doch führt bekanntlich kein Wechsel von einer dieser Verhaltensweisen zu einer anderen zur Lösung des Alptraums.
«Die Lösung liegt im Wechsel vom Träumen zum Wachen. Erwachen ist aber nicht mehr ein Element des Traums, sondern eine Veränderung zu einem vollkommen anderen Zustand.» (Anm.1)

Ein Alptraum
Die Gegend ist düster, der Boden zwischen den toten Baumstrünken aschgrau und trocken. Weit hinten das dumpfe Tappen von haarigen Füßen, das kratzende Scharren klauenbewehrter Zehen. Bei jedem Schritt wirbelt Staub hoch und erschwert das Atmen. Das rasche Gehen macht wegen der Steilheit des Geländes unsägliche Mühen. Spitze Steine reißen die Haut auf. Am liebsten würde ich den Schmerz hinausschreien, aber in der trostlosen Weite sind alle menschlichen Regungen sinnlos und bloße Energieverschwendung. Eine gräßliche Angst umklammert mein Herz. Hin und wieder schwappen Gedanken empor - sie überfluten das Gehirn wie faulige Schwaden, die aus abgrundtiefen Spalten hervorkriechen. Selbst die letzten Erinnerungsfetzen an bessere Zeiten werden vom Grauen des gegenwärtigen Zustandes erstickt, denn die Fremden, die Ganz-Anderen kommen immer näher.

Dann stoße ich an den Rand einer Schlucht. In der Tiefe wogen Nebel aus der totalen Schwärze und fließen träge über den scharfen Felsrand, um sich dann in der stickig-feuchten Luft aufzulösen. Nirgendwo gibt es eine Brücke, nirgends einen Abstieg in die Tiefe. Das Gestein ist feuchtnaß und glatt.

Das Stapfen der Füße wird lauter. Schmutzverkrustete Kleidungsfetzen scharren ekelhaft aufeinander. Der keuchende Atem der Verfolger verdichtet sich zu einem triumphierenden Geheul, als sie mich sehen. Nun sind sie derart nahe, daß sich ihre Ausdünstung wie eine scheußlich klebrige Masse auf meine Zunge und Nasenschleimhäute legt. Das blasphemische Grunzen der geifernden Meute steigert sich zu einem ohrenbetäubenden Gekreische. Die dunklen Gestalten stürzen sich auf mich. Vor mir der Abgrund, hinter mir die bestialischen Wesen und in mir Angst, Furcht und Panik ... (Inhalt)

Bewußtwerdung als Lösung zweiter Ordnung
Innerhalb des Traumgeschehens scheint es bei diesem Alptraum keinen Ausweg zu geben. Das Ich könnte vielleicht mit einem Sprung in die Tiefe oder durch Kämpfen die Katastrophe hinauszögern. - Eine befriedigende Lösung ergibt sich aber nur durch einen Wechsel vom Traumzustand in den Wachzustand.

Das Ich muß also unbedingt erwachen. Aber wie? Muß das dadurch geschehen, daß es zu einem Aufschrecken im Bett kommt, bei dem der Körper sich z.B. blitzartig aufsetzt? Ist es tatsächlich notwendig, daß mit der Bewußtwerdung des Ichs der körperliche Zustand vom Schlafen zum Wachen wechselt? Der normale Sprachgebrauch und sämtliche Gewohnheiten erzwingen sozusagen ein solches Verhalten. Dies gilt auch als völlig normal! Daß das Ich dabei «das Kind mit dem Bade ausschütten», weil es den Wechsel vom Träumen zum Wachen mit einem Zustandswechsel des Körpers vom Schlafen zum Wachen verbindet, wird nicht problematisiert. Die Sprache erzwingt gewissermaßen diese Gleichsetzung, weil sie das kontinuierliche Ich-Bewußtsein mit dem Wachheitszustand des physischen Leibes identifiziert.

Eine Identifizierung von Ich und Körper ist zwar wirksam und beendet auch schlagartig einen Alptraum, aber sie ist schwerfällig und vor allem unbefriedigend, denn Alpträume haben die unangenehme Eigenschaft, sich zu wiederholen. Besteht nun die Lösung darin, daß im Rahmen einer Psychotherapie beispielsweise nach einem kindlichen Trauma gesucht wird, das den Alptraum verursacht hat? Dies verlangt eine Bewußtwerdung. Und die kann durchaus zur Folge haben, daß der Alptraum 'verschwindet'. Aber diese Lösung ist nicht sonderlich elegant, meist langwierig und zudem teuer zu bezahlen.

Die Lösung zweiter Ordnung besteht in jedem Falle darin, daß das Ich erwacht - aber nicht im Bett. Das Ich muß sich bei einem alptraumartigen Geschehen bloß (das ist unter Umständen zwar schwierig, aber es ist nicht unmöglich) der Tatsache bewußt werden, daß es sich im Traumzustand befindet. Dann kann es als luzides Ich direkt an Ort und Stelle eingreifen und dem Geschehen eine andere Wende geben. Dies führt zu einer Lösung, die eine Wiederholung des Alptraumes prinzipiell verunmöglicht, denn aus der Bewußtwerdung und dem gleichzeitigen Verbleiben im traumartigen Geschehen ergibt sich eine völlig neue Ausgangssituation. Dies ist der erste Schritt zur Erlösung, von dem viele Märchen erzählen. Doch scheint dies vergessen worden zu sein. Dieser Text soll dazu dienen, die Erinnerung an diesen wesentlichen Sachverhalt zu wecken. (Inhalt)


Ein bißchen Theorie

Es ist mir ein Anliegen, daß dasjenige eine Neubewertung erfährt, was gering geschätzt und als traumartig beiseite geschoben wird. Auch die Meinung, zwischen Seelenreisen (Astralprojektionen, Außerkörperlichkeit) und luziden Träumen bestünde ein prinzipieller Unterschied, ist eher dazu angetan, von der Problematik der Kontinuität des Ich-Bewußtseins abzulenken. Bei den oft etwas vorschnell als unterschiedlich eingestuften Erlebnisbereichen 'Traum', 'luzider Traum' und 'Seelenreise' handelt es sich um Spielarten des «Yoga of the Dream State», des «Traum-Yoga», bei dem der 'Grad' der Bewußtheit zu beachten ist.

Auch wenn die folgenden Ausführungen abstrakt und theoretisch scheinen, ist zu bedenken, daß gerade Theorien unabsehbare praktische Konsequenzen haben. Die Vorstellung, zwischen Theorie und Praxis bestehe eine Alternative, ist eine Illusion. Der Ausdruck «Illusion der Alternativen» wurde von Weakland und Jackson eingeführt - als Kennzeichnung einer typischen Zwangslage von schizophrenen Patienten, die sich darum bemühen «die richtige Entscheidung zwischen zwei Alternativen zu treffen» (Anm.2). Aufgrund der Eigenart der Beziehung sind sie aber nicht in der Lage, eine 'richtige' Entscheidung zu treffen, den es gibt überhaupt keine eigentliche Alternativen, von denen die eine sich als die 'richtige' erweisen könnte - «die Annahme selbst, daß eine Wahl möglich ist und daher getroffen werden soll, ist eine Illusion» (Anm.3).

Der Mensch spielt z.B ein Spiel, das «Wachen-Träumen» genannt werden kann. Das Spiel kommt vor allem dann zum Einsatz, wenn der Mensch träumt und sich während des Traumgeschehens der Tatsache bewußt wird, mitten in einem Traum zu sein. Nun gibt es für ihn innerhalb des Spieles «Wachen-Träumen» keine Regel und keine Vorkehrung, mit deren Hilfe das Spiel als solches beendet werden könnte. (Inhalt)

Ein Aufhören in der Art eines Erwachens zur Ich-Bewußtseins-Kontinuität in einem Traum oder gar einem Alptraum ohne einen gleichzeitigen Wechsel des körperlichen Zustandes, ist nicht Teil des Spieles selbst. Die Möglichkeit, in einem Traumgeschehen wach zu werden und zu bleiben, ist kein Element der gewohnten Regelgruppe des Spieles «Wachen-Träumen» - und sie kann es auch gar nicht sein. Kommunikationstheoretisch läßt sich dieser Sachverhalt folgendermassen ausdrücken: Das «Aufhören ist META zum Spiel, es hat einen anderen, höheren, logischen Abstraktionsgrad als irgendein regelbedingtes Ereignis innerhalb des Spieles.» (Anm.4)

Für einen Spieler, d.h. einen ernsthaft sich mit seiner Existenz auseinandersetzenden Menschen, der den Sprung zur Metaebene des Konzeptes der Ich-Bewußtseins-Kontinuität nicht vollzogen hat, weil er es nicht kann oder nicht will, kommt der Wechsel zur Luzidität im Schlafzustand des physischen Körpers völlig unerwartet. Diese Möglichkeit scheint ihm sogar unlogisch, paranormal oder krankhaft - wenn nicht sogar sinnlos - zu sein. Dies muß ihm so erscheinen. Denn es ist unmöglich, ihm die Folgerichtigkeit dieses Wandels jemals innerhalb seines eigenen Rahmens und in seiner eigenen Sprache zu beweisen.

«Seit Gödel 1931 sein berühmtes Unentscheidbarkeitstheorem auf der Basis der PRINCIPIA MATHEMATICA veröffentlichte, müssen wir ein für allemal die Hoffnung aufgeben, daß irgendein System, dessen Komplexität wenigstens der der Arithmetik entspricht (oder wie Tarski nachwies, eine Sprache derselben Komplexität), jemals seine eigene Geschlossenheit und Folgerichtigkeit innerhalb seines eigenen Rahmens (in seiner eigenen Sprache) beweisen kann. Dieser Beweis kann nur von außen erfolgen und beruht dann auf Axiomen, Prämissen, Begriffen, Vergleichen, usw., die das ursprüngliche System weder entwickeln noch beweisen kann, die aber selbst wiederum nur durch Rekurs zu einem noch weiteren Begriffsrahmen beweisbar sind, und so fort in einem unendlichen Regreß von Metasystemen, Metametasystemen, usw.» (Anm.5)

Nun ist der Satz «Die Ich-Bewußtseins-Kontinuität kann unabhängig vom Zustand des physischen Körpers bestehenbleiben» ein Satz über eine Gesamtheit, die vierundzwanzig Stunden des Tages umfaßt. Der Nachweis der Geschlossenheit und Folgerichtigkeit dieses Satzes kann aber nicht Teil der Gesamtheit sein - und ist deshalb nicht zu erbringen. Dieser Satz ist ein Axiom, ein nicht mehr weiter hinterfragbarer Grundsatz, aus dem sich weitere Aussagen ableiten lassen. Eine dieser Aussagen wäre dann die, daß es möglich sei, in einem Alptraum zur Luzidität zu erwachen ohne gleichzeitig auch den physischen Körper zu wecken. Auch die Möglichkeit, außerkörperliche (Anm.6) Erfahrungen zu machen, gehört zu den logischen Schlußfolgerungen, die sich aus dem Axiom der Ich-Bewußtseins-Kontinuität ableiten lassen. Deshalb kann man jetzt - ohne sich dabei in logische und theoretische Widersprüche zu verstricken - ruhig zu Bett gehen und einschlafen, ohne deshalb gleich unbewußt zu werden. Wie heißt es doch im Märchen: "Er legte sich unter den Baum, wachte und ließ den Schlaf nicht Herr werden." (Inhalt)


Das Erleben schamanischer und märchenhafter Seelenfahrten (Anm.7)

Es war einmal im Jahre 1959, da hat Luise Resatz in Kiel am Internationalen Kongreß der Volkserzählforscher ihren Vortrag «Das Märchen als Ausdruck elementarer Wirklichkeit» mit folgender Bitte beendet: «Als Volkserzählforscher nicht immer nur der forschenden Tätigkeit den Vorrang, sondern ebenso dem Erleben genügend Raum» (Anm.8) geben, und begründet ihr Anliegen so: «Gäbe es nur mehr Märchenforscher, aber keine Erlebenden der 'unendlichen Substanz' mehr, die ihre ekstatischen Schauungen weiterreichen an das Lebendige, so hätte auch das Forschen seinen Sinn verloren, denn es brächte nur Unbelebbares den lebendig Toten. Den Sinn der Arbeit unserer Gesellschaft zur Pflege des Märchengutes sehe ich darin, alles daranzusetzen, daß den Menschen die von der Forschung so verdienstvoll neu erschlossenen Quellen so aufgeschlossen werden, daß sie wieder aus dem Erleben heraus zu ihnen einen Zugang gewinnen». (Anm.9)

Gab es nicht früher einmal eine Zeit, da waren die Leute fähig, ans Ende der Welt zu gehen und zum Himmel hinaufzusteigen? Damals glaubten die Menschen eben noch an die Möglichkeit, «durch ekstatische Visionen dem Wesen und der Ordnung der Dinge nahe» (Anm.10) kommen zu können, denn es bestand ein «Hang zur phantasmagorischen Schau» (Anm.11).

Man kann - zumindest arbeitshypothetisch - davon ausgehen, daß gewisse 'Jenseitserfahrungen' einzelner Menschen allmählich in das Erzählgut bestimmter Volksgruppen eingegangen sind und dann als Märchen bezeichnet wurden. Wenn es also um die Erschließung von nichtalltäglichen Wirklichkeitsbereichen und um die Frage nach den adäquaten Hilfsmitteln geht, müssen demnach die Märchen ganz besonders berücksichtigt werden. Denn das im Erzählgut der Völker bewahrte und überlieferte Wissen vermittelt eben systematische Kenntnisse über die Wirklichkeit nichtalltäglicher Bewußtseinszustände. Und es gibt Orientierungshilfen, wie man sich in einem 'Jenseits des Alltäglichen' zu verhalten hat. Für mich wird es nun im folgenden darum gehen, einige Hinweise zu diesem Thema zu geben - Impulse für eigene Betrachtungen und Überlegungen.

Die Bitte von Luise Resatz führt weiter als man zunächst meint. Auch der Vorschlag von Heino Gehrts, es müßte darum gehen, «uns die Augen zu öffnen für eine zugleich neue und seit alters geübte Kunst, Welt und Erde und Lebenssinn unmittelbarer und tiefer zu erfassen - auf eine zugleich wirklichkeitsangemessenere und märchenhafte Weise», (Anm.12) hat erstaunliche Konsequenzen, vor allem in bezug auf die Erfahrungsgewißheit. (Inhalt)

Aber wo bleibt da die Objektivität, wenn dem subjektiven Erleben ein Mitspracherecht eingeräumt wird? Als Wissenschaftler kann man nicht anders und wird zunächst eher unwillig und verärgert reagieren - und dabei allzu schnell vergessen, daß sowohl der Motivvergleich, der sozial- und tiefenpsychologische Ansatz, die strukturalistisch-formalistische Methode und das anthropologische Vorgehen als auch die parapsychologischen Betrachtungsweisen von ganz bestimmten Prämissen ausgehen, die mindestens ebenso frag-würdig sind wie die Bitte von Luise Resatz und der Vorschlag von Heino Gehrts. - Schließlich sind sämtliche Mittel, die man benutzt, um Kenntnisse zu erwerben, innerhalb eines bestimmten und bestimmenden Rahmens entwickelt worden. Dieser Rahmen "definiert" die Randbedingungen des persönlichen und gesellschaftlichen Anschauungsfeldes. Innerhalb dieser implizit vorgegebenen Grenzen hat sich die Welt des Kindes zu bilden - und an diese Grenzen haben sich die Erwachsenen zu halten. Anschauungsmuster bilden sich innerhalb einer "Zivilisation" aus. Und dann bestimmen sie als Paradigmen sowohl die Art der Fragestellung als auch die Arbeits- und Forschungsrichtung und die benutzbaren Methoden.

Nun erlaubt es das Weltbild, in dem ich aufgewachsen bin, nicht, z.B. beim Einschlafen wach zu bleiben. Es besitzt auch keine Paradigmen, welche die methodischen Grundlagen und Hilfsmittel liefern, bewußt einzuschlafen und im Schlafzustand luzid zu sein. Hätten sich alle Märchengestalten damit abgefunden, wäre gar manche Geschichte ganz anders ausgegangen. Ich erinnere nur an das Grimmsche Märchen "Der Trommler". Dort ist es dem jungen Trommler nur deshalb möglich, seine Aufgabe zu erfüllen, weil er an der Grenze zum Einschlafen wach bleibt. Und in "Die zertanzten Schuhe" hängt das Leben des Soldaten davon ab, daß er im kritischen Augenblick nicht einschläft. Sogar in jenen Märchen, in denen das wache Bewußtsein nicht ausdrücklich betont wird, zeigt das überlegte, situationsgerechte Verhalten der weiblichen und männlichen Figuren, daß sie die zauberische Welt mit wachem und klarem Bewußtsein betreten. Trotz - oder gerade wegen - der Luzidität verlagert sich jeweilen die Handlung in die märchenhafte "Anderwelt", werden die Schranken und Grenzen der gewohnten Wirklichkeit aufgehoben. (Inhalt)

Die Welt der Märchen gehört zum Erfahrungsbereich der Nacht und gehorcht anderen Regeln als die Welt des Alltags. Die dafür verwendete Bezeichnung 'traumartig' droht vor allem eines zu unterschlagen, nämlich die Tatsache, daß das Ich auch im sogenannten Schlafzustand oder in 'Trance' stabil und koordinationsfähig sein kann - und zwar ohne jegliche Abstriche. Bis heute wurde vielfach übersehen, daß schamanische und märchenhafte Seelenfahrten nicht nur ganz bewußt erlebt werden können, sondern sogar mit einem intakten, hellwachen Bewußtsein vollzogen werden müssen. Die Berechtigung dieser Aussage wird sich leicht mit Hilfe eines Motivvergleichs feststellen lassen. Doch bleiben die auf diese Weise gewonnenen Schlußfolgerungen immer noch vom persönlichen Erleben isoliert. Aus dem (wissenschaftlichen) Wissen allein ergibt sich nämlich nicht zwangsläufig eine Erweiterung des Erfahrungsbereiches, die den Menschen in seiner Ganzheit betrifft. Ein Wissen, das persönlich nicht mit- und nachvollzogen wird, verursacht nur eine Zerstückelung der personalen Existenz - und zurück bleibt ein in seine Einzelteile zerlegter, atomisierter Zauberlehrling, dessen Initiation mit der analytischen Zergliederung beendet wurde. In diesem Augenblick wird das subjektive Erleben zu einer Frage des Überlebens, und das Verbot, ein bestimmtes Zimmer zu betreten, muß seine Wirksamkeit unter allen Umständen verlieren. (Inhalt)


Das Wissen um den verbotenen Raum

Im Chandogya-Upanishad 6.1.2f wird - man gestatte mir diesen Zeitsprung ins 6.Jhd.v.Chr. - von Svetaketu gesagt, er habe die gesamte, sehr umfangreiche alte Tradition der Brahmanen, d.h. den Veda, gekannt. Aber es gab einen Mann namens Uddalaka, der Svetaketu etwas beibringen konnte, was der Veda-Kenner vorher niemals gehört hatte, (Anm.13) obwohl der Veda als «die ewige Wahrheit selbst, unfehlbare Autorität, Richtschnur im Leben, Quelle aller Erkenntnis» (Anm.14) galt - und dennoch schien es ein "höheres Wissen" zu geben, das im Traditionellen nicht enthalten war.

Nun findet sich die gleiche Problematik wie bei Svetaketu und Uddalaka - trotz räumlicher und zeitlicher Distanz - im rätoromanischen Märchen "Die Prinzessin aus alter Zeit" (Anm.15): Prinz Gian, so heißt es in der Geschichte aus dem Bündnerland, sei ein junger Mann mit einer Lebenseinstellung gewesen, die vielen aus eigener Anschauung bekannt sein dürfte. Sein Vater hatte ihn nämlich «studieren lassen, so viel und so lange, daß kein Schulmeister ihm mehr etwas beibringen konnte» (Märchen). Prinz Gian war demnach so etwas wie ein "summa-cum-laude Absolvent", der die besten Aussichten hat, in die Grundlagenforschung einzusteigen. Sein Vater, der König (und gleichzeitig ein böser Hexenmeister), ließ «alles bekannt geben, was der Prinz wußte und bemerkte dazu, wenn irgend einer wäre, der mehr wüßte als sein Sohn, der Prinz Gian, so solle der sich bei ihm melden. Diese Mitteilung ist auch dem Prinzen Gundi unter die Augen gekommen und er hat sich hingesetzt und hat dem König geschrieben, er wisse drei Worte mehr als der Prinz Gian. Sofort hat der König den Prinzen Gian zum Prinzen Gundi geschickt, damit er diese drei Worte lerne. Und es ist nicht lange gegangen, da hat er sie gewußt.» (Märchen)

Ich selbst kam aufgrund meiner nächtlichen Erfahrungen und der Auseinandersetzung mit der Weltanschauung der Mystiker, Schamanen und Tantriker zur Einsicht, daß es Wissensquellen geben mußte, deren Rauschen nur außerhalb des traditionellen universitären Rahmens bzw. irgendeines offiziell anerkannten Paradigmas und Weltbildes gehört werden konnte. Ferner stellte ich mit großer Bestürzung fest, daß dieses scheinbar bizarre und gespenstische Summen durch die fortschreitende Entwicklung der Technik und die exaktere Anwendung der "digitalisierenden Rationalität" - z.B. in Form der statistischen Analyse unter Ausschluß nicht-relevanter Randbedingungen - immer mehr unterdrückt und schließlich sogar vollständig ausgeschlossen wurde. Dennoch hat es bei mir lange gedauert, bis ich die Konsequenzen aus der Tatsache zog, daß andere Menschen "drei Worte mehr wußten" oder "Dinge hörten, von denen selbst die Gelehrtesten keine Ahnung hatten". Daß es sich dabei vor allem um Erfahrungsbereiche handelte, die nur mit der entsprechenden erkenntnistheoretischen Fragestellung erschlossen werden konnte, merkte ich erst später.

(Teil 2)

Anmerkungen

Anm 1: Watzlawick, Weakland und Fisch 1974:29.
Ich verdanke dem kommunikationstheoretischen Ansatz viele Einsichten und Formulierungen.
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Anm 2: Watzlawick, Beavin und Jackson 1969:214.
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Anm 3: Watzlawick, Beavin und Jackson 1969:215.
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Anm 4: Watzlawick, Weakland und Fisch 1974:41-42.
Anm.4 Ende - zurück zum Text
Anm 5: Watzlawick, Weakland und Fisch 1974:43 Anm.5.
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Anm 6: 'Außerkörperlich' ist die Bezeichnung für eine Erfahrungsgewißheit. Außerkörperlichkeit als ein Sein 'außerhalb des physischen Körpers' ist mit den zur Verfügung stehenden Mitteln der Naturwissenschaft nicht nachweisbar. Aber das spielt auch keine Rolle, denn die Erfahrungsgewißheit genügt vollauf.
Anm.6 Ende - zurück zum Text
Anm 7: Vortrag, gehalten am 25. September 1983 in Bad Karlshafen im Rahmen der Internationalen Tagung vom 21.-25.09.1983 des Europäischen Märchenvereins e.V.
Anm.7 Ende - zurück zum Text
Anm 8: Luise Resatz 1959:41.
Anm.8 Ende - zurück zum Text
Anm 9: Luise Resatz 1959:41.
Anm.9 Ende - zurück zum Text
Anm 10: Hetmann (1981) 1983:75.
Anm.10 Ende - zurück zum Text
Anm 11: Hetmann (1981) 1983:75.
Anm.11 Ende - zurück zum Text
Anm 12: Einladungsprospekt zur Internationalen Tagung des Europäischen Märchenvereins e.V. in Bad Karlshafen vom 21.-25.09.1983.
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Anm 13: Jayatilleke 1963:417.
Anm.13 Ende - zurück zum Text
Anm 14: Gonda 1960:16.
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Anm 15: in: Märchen aus dem Bündnerland 1935:26-33 (die Kenntnis dieses Märchens verdanke ich einem freundlichen Hinweis von Marcel Frei). - Das Märchen ist im Anhang abgedruckt. Für die Erlaubnis, das Märchen im vollen Wortlaut wiedergeben zu können, sei an dieser Stelle dem Verlag Helbing & Lichtenhahn in Basel gedankt.
Die Prinzessin aus alter Zeit.
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Literaturverzeichnis

Gonda, Jan. Die Religion Indiens I. Veda und älterer Hinduismus (Die Religionen der Menschheit Bd. 11). Stuttgart: Kohlhammer, 1960.
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Hetmann, Frederik. Die Reise in die Anderswelt - Feengeschichten und Feenglaube in Irland. Köln: Diederichs, (1981) 2.Aufl. 1983.
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Jayatilleke, K. N. Early Buddhist Theory of Knowledge. London: Allan & Unwin, 1963.
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Resatz, Luise. «Das Märchen als Ausdruck elementarer Wirklichkeit.» In: Jahrbuch der Gesellschaft zur Pflege des Märchengutes der Europäischen Völker e. V., 1959/II.
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Watzlawick, Paul, Janet H. Beavin und Don D. Jackson. Menschliche Kommunikation - Formen, Störungen, Paradoxien. Bern: Huber, 1969.
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Watzlawick, Paul, John H. Weakland und Richard Fisch Lösungen: Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Bern: Huber, 1974.
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