Auf Messers Schneide -
die Kostbarkeit des Kôan "Mû"

Synchronizität und Kundalini


Werner Zurfluh
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Manchmal geschehen in der Gegenwart Dinge, deren Ursprung sowohl räumlich wie auch zeitlich sehr, sehr weit auseinander liegt. Da sie auch ursächlich nichts miteinander zu tun haben, kann das Zusammentreffen im Hier und Jetzt synchronistisches Ereignis genannt werden.

Im folgenden Text geht es nicht darum, das Problem Synchronizität unter Berücksichtigung der Vorstellungen von C.G. Jung, des quantenmechanischen Konzeptes von Wolfgang Pauli und der Wellenfronttheorie, der morphogenetischen Felder eines Rupert Sheldrake oder des Holographie-Konzeptes eines im menschlichen Gehirn "eingefalteten Universums" gemäss David Bohm zu diskutieren.

Es sei bloss von einem Durchschimmern der Traumzeit berichtet, bei dem sich die überschneidenden "Zeitlinien" wie ein sanft wogendes Nordlicht in der Gegenwart verdichten.


Konstellation einer Synchronizität

Am 23. Dezember 1999 publizierte ich den Text Die Tötung der Bären und die Evolution des Menschen im Internet. Darin wird die Entschlüsselung der Ereignisse in der "zehnten Welt" (Erfahrung vom 7. Januar 1974), die mir 25 Jahre ein Rätsel gewesen sind, beschrieben.

Am 24.12.1999 wurden die Protokolle vom Dezember 1972 eingescannt (47 A4-Seiten). Mitten im Korrekturlesen der Erfahrung vom 12.11.1972 "schneite" am 27.12.1999 folgende Email von MR rein:

Hallo Herr Zurfluh,

ich hoffe, Sie hatten ein schönes Weihnachtsfest. Bei mir tobt gerade ein Wahnsinnsorkan, Bäume knicken ab wie Streichhölzer ... Mit großem Interesse habe ich die beiden Texte von Paul Tholey gelesen, die Sie in Ihrer Homepage veröffentlicht haben (Blick-Varianten im Wach- und Traumzustand und Die Entfaltung des Bewusstseins als ein Weg zur schöpferischen Freiheit - vom Träumer zum Krieger).

Mich würde Ihre Sicht zu Tholey's These interessieren, die AKE sei lediglich das Abrufen holografisch veranlagter Informationen und die Hypothese, daß etwas den Körper verlasse, sei nicht haltbar und aus Sicht des kritischen Realismus widerlegbar.

Meine Antwort :

Guten Morgen MR,

Tholey geht von einer Hypothese bzw. einer Theorie aus (Gestalt-Theorie von Metzger, kritischer Realismus) und muss demnach zu diesem Schluss kommen. Ansonsten bestünde keine Theoriekonformität. Da er jedoch auch die These vertritt, dass das gesamte Universum im Gehirn "eingefaltet" ist (David Bohm), lässt sich der Holografieansatz sozusagen beliebig erweitern.

Beim Briefwechsel mit Paul Tholey hat es sich gezeigt, dass das Gespräch mit ihm zu einer ekzessiven Theoriediskussion wird. Mich interessiert jedoch primär die praktische Seite. Deshalb halte ich mich in meinen Texten theoretisch eher stark zurück. Schlussendlich scheint es mir belanglos, welche Theorie angewendet wird.

Wichtig ist natürlich die Offenheit einer Theorie. Aber jede Theorie ist ein Prokrustesbett. Das eine ist "grösser", das andere "einengender". Tholeys theoretischer Ansatz ist bestimmt x-mal besser als der psychiatrische. - usw. usf. Man könnte ellenlang über die Theorie disputieren, z.B. über deren erfahrungseinschränkende Wirkung oder eben darüber, wie die Theorie bestimmt, was beobachtbar ist. Dafür wäre es notwendig, sich mit logischer Propädeutik, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie auseinanderzusetzen.

Nun, das ist etwas für Leute, die in das wissenschaftliche Denken einsteigen und sich in den universitären Gefilden behaupten müssen. Tholey musste das Letztere tun, denn er war Professor. Ich kann mich da raushalten und bin sehr froh darüber, mich nicht innerhalb dieses Systems bewegen zu müssen, wo mir die Leute wie Schachfiguren vorkommen, die sich gegenseitig schachmatt setzen. Täten sie das nicht, könnten sie ihre Karriere vergessen.

Als es mir eines Tages gelang, das universitäre Denk-System sozusagen von einem Metasystem aus zu betrachten (dazu verhalfen mir einerseits die Kommunikatîonstheorie (z.B. Watzlawick, von Foerster, von Glasenapp, Varela) und andererseits die nächtlichen Erfahrungen), zog ich mich definitiv aus diesen Gefilden zurück.

Nachtrag:
Was den Theoriedisput und letzten Endes die Begriffslosigkeit betrifft: Ich bin gerade (synchronistisches Ereignis) dabei, die Erfahrung vom 12.11.1972 zu sichten und stosse auf folgendes:


Die Erfahrung vom 12. November 1972

Zum Tagesgeschehen vom 11.11.1972: Neben den normalen Lehr-Verpflichtungen ging es beim Gespräch mit dem Direktor vor allem um schulische Probleme: Kurse für Erwachsene, Koordination des Niveaus der Progymnasialklassen mit der Gymnasialstufe. Ausserdem kam die Versetzung von Schülern aufgrund psychischer Unverträglichkeit mit Mitschülern und wegen vegetativer Störungen bedingt durch Überforderung zur Sprache.

Im ersten (luziden) Traum in der Nacht auf den 12.11.1972 lässt sich der Wutanfall eines mächtigen Stieres nur dadurch besänftigen, dass keine Gegenmassnahmen ergriffen werden. Zudem wird dem Tier, das eine instinktiv agierende Stufe der Emotionalität zu verkörpern scheint, ein wesentlich grösserer Freiraum zur Verfügung gestellt. Die damit verbundene Bewegungsfreiheit macht den Stier in der Folge friedlich.

Die Gefahr unkontrollierter, stark emotional gefärbter Wutausbrüche tritt plötzlich in Gestalt eines Mannes auf, der extrem gefährlich ist. Sein Vernichtungstrieb ist derart grenzenlos, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als ihn zu erschiessen. ...

Obwohl mehrfach von Kugeln getroffen, stirbt der blindwütig Tobende nicht. Immerhin kann er keine Gegenmassnahmen ergreifen. Aber dieser Zustand wird nur von kurzer Dauer sein, denn seine Vernichtung ist unvollständig.

Meine Frau reicht mir in dieser vertrackten Situation einen Becher mit einer klaren, hellen Flüssigkeit. Ohne Zögern schmeisse ich den Inhalt - es ist eine hochentzündliche Flüssigkeit - auf den Mann. Doch ich habe weder Feuerzeug noch Zündhölzer. Aber Cathy hat welche und reicht sie mir! Ich entflamme ein Streichholz und werfe es in die über den Mann verspritzte Flüssigkeit. Sogleich beginnt alles zu brennen. Um die Flammen zu schüren, werfe ich Kerzenwachs nach. Das Wachs schmilzt und spritzt dem Mann ins Gesicht.

Das Werk des Feuer ist wahrlich grausig. Das Gesicht des Mannes verfärbt sich, die Haut wird schwarz, wirft Blasen und beginnt sich abzulösen, das Fleisch quillt auf und die Knochen treten hervor.

Es ist erstaunlich, aber der Brand bleibt einzig und allein auf den Körper des Mannes beschränkt. ... Die menschliche Fackel brennt aus und sinkt in sich zusammen. Schlussendlich bleibt nichts - aber auch nicht der geringste Rest - übrig. Der Mann ist vollständig ausgebrannt.

Die Gefahr ist vorbei.

Dies zeigt deutlich, welch wichtige Rolle meiner gefühlsbetonten Gattin bzw. meiner eigenen Gefühlskomponente zukommt. Dass der Tobsüchtige mit gewissen Komponenten des Kollektivschattens, der Becher mit dem Gral, die Flüssigkeit mit dem Lebenswasser, dem aqua permanens bzw. dem hydor theion und das Wachs mit dem Bienengesumm der erwachenden Kundalini zu tun haben, sei bloss am Rande erwähnt. Diese Hinweise deuten zumindest an, dass die folgende Erfahrung eine Art Fortsetzung darstellt.


Der zweite luzide Traum vom 12. November 1972

An einem See mitten im Gebirge wird ein Wettbewerb ausgetragen, bei dem es darum geht, über eine Seilbrücke zum anderen Ufer hinüberzugehen. Der schmale, ziemlich gefährlich aussehende Steg besteht aus zwei schienenartigen Strängen, die in einem Abstand von etwa 60 Zentimetern parallel nebeneinander verlaufen. Die "Schienen" schwanken leicht hin und her, wodurch die Breite des Spalts sich andauernd ändert.

Die Brückenkonstruktion erinnert mich heute, d.h. 1999, an ein stark verlängertes Rückgrat und damit an den Weg jener Schlange, die als Repräsentantin des "hellsehenden Bewusstseins" gilt und auch als "Höchste Kraft" bezeichnet wird - die Kundalini. Auf die beiden Schienenstränge, die mit den Kanälen Ida und Pingala zu vergleichen sind, möchte ich hier nicht eingehen, denn die eigentliche Schwachstelle ist der mittlere Kanal. Dieser wird in den tanrischen Texten als Sushumna bezeichnet

Der Weg der Kundalini (28.12.1999 - 9.1.2000)

Die folgenden Ausführungen beruhen vor allem auf dem Kapitel Schlangen-Kraft und Mystisches Feuer im Buch Tantra, Mantra, Yantra von S.K. Ramachandra Rao (New Delhi: Arnold-Heinemann, 1979 S. 35-40). Auch Gedanken von Lama Anagarika Govinda, Heinrich Zimmer, J.W. Hauer, C.G. Jung und Werner Bohm sind in den Text eingeflossen.

Es ist daran zu erinnern, dass das Cakra-Konzept im wesentlichen esoterisch, d.h. nur einem Kreis von Eingeweihten zugänglich gemacht wird. Der Grund hierfür ist der, dass es ohne "meditative Erfahrungspraxis" (sadhana) unmöglich ist, die physischen und psychischen Auswirkungen nachzuvollziehen. Im Grunde aber sind es keine absichtlich verschwiegenen, sondern offene Geheimnisse. Sie sind eigentlich nur geheim, weil niemand sie versteht. Um sich jedoch verständlich auszudrücken und zu begreifen, worum es geht, ist ein Wissen erforderlich, das in der eigenen Erfahrung wurzelt. Wenn im folgenden also versucht wird, die mit dem Cakra-Konzept verbundenen Vorstellungen der Kundalini zu erörtern, kann dies nur annähernd und mit grösstem Respekt geschehen.

Wichtig ist, sich darüber klar zu sein, dass die Gegenüberstellung eines "bloss Physischen" zu einem "rein Geistigen" im Zusammenhang mit den Cakra und der Kundalini überhaupt keinen Sinn macht. Und völlig sinnlos wäre es, Yoga- und Tantrapraktiken 1:1 zu übernehmen - zumal sowohl der kulturelle Hintergrund als auch die Wortbedeutungsfelder verschieden sind. Aber es ist durchaus möglich, vorsichtig zurückhaltend die Vorstellungen zu visualisieren - unter Berücksichtigung der eigenen Erfahrungen. Ein sorgfältiges Studium vermittelt viele Einsichten und Erkenntnisse - und es verfeinert die introspektiven Methoden enorm.

Die Erweckung der Kundalini führt zur Bewusstwerdung überpersönlicher Geschehnisse und zu Erfahrungenn, die "transalltäglich" und "metaphysisch" sind - der Keim des Göttlichen, die Buddhanatur, schlummert in jedem Menschen. Allerdings darf es dabei nicht zu einer Identifizierung mit diesen Inhalten kommen, sonst zerbirst das Ich und fliegt mit einer Inflation in die Luft.

Die grösste Schwierigkeit besteht darin, dass das Ich normalerweise mit bestimmten Bewusstseinsinhalten identisch ist. Zu diesen Inhalten gehören beispielsweise Beruf, sozialer Status und Konfession - aber auch der physische Körper. Zudem hat das Ich die Gewohnheit, sich fortlaufend mit bestimmten Inhalten zu identifizieren, sei dies nun eine Sportart, eine politische Ideologie oder eine Kunstrichtung.

Ist das Ich durch bestimmte Inhalte definiert, wird es sich vom Nicht-Konformen, Ungewohnten, Fremden und "Ganz-Anderen" rigoros abschotten müssen. "Träume sind Schäume", "Ausländer raus" und "Alles soll bleiben wie es ist" werden zu Parolen. Das sture Beharren auf dem Bekannten führt nicht nur zur totalen Sinnentleerung, sondern auch zu Depressionen und ausserdem zu manchmal völlig irrationalen Reaktionen. Viele werden extrem leichtgläubig, andere sichten UFOs und werden von Ausserirdischen gegen ihren Willen entführt und wieder andere verheddern sich in Verschwörungstheorien. Dichte Rauchschwaden trüben die Sicht und verunmöglichen manchmal schon die Annäherung ans offene Feuer!

Eine Sache lässt sich nicht verstehen, wenn das Ich völlig darin aufgeht und mit ihr identisch ist, wenn es nur noch handelt und nicht mehr beobachtet. Doch seit jeher schlummert ein Funke im grauen Staubhaufen der Alltagsdinge. Ein Windstoss mag genügen, um die Asche aufzuwirbeln. Jetzt endlich kann der Bewusstseinsfunke befreit auffliegen. Die Kundalini erwacht, der Phönix breitet seine Schwingen aus. Das Ich kommt ins "Licht der Höheren Gefilde" und gewinnt eine neue Sicht der Dinge.

Das Ich sollte also ruhig und gelassen am Geschehen der Erweckung der Kundalini teilnehmen. Dabei hat es die ungemein faszinierenden Ereignisse sehr sorgfältig zu beobachten. Dies ist mit sehr viel Arbeit verbunden und lässt sich keineswegs nebenher erledigen. Denn falls es zu Umwälzungen kommt - und es wird zu Umwälzungen kommen - wird das Ich zutiefst davon betroffen sein.

Zunächst ist daran zu denken, dass die Cakra mitsamt ihren "Blütenblättern" Dimensionen einer seelischen Erfahrungswirklichkeit bzw. von Bewusstseinsstufen darstellen, deren Beschreibung nicht auf imaginativ-theoretischen Überlegungen, sondern auf meditativer Versenkung und damit auf praktischer Erfahrung beruht. Denn erst mittels Visualisierung lässt sich die in den Cakra ausgedrückten Dynamik der im Innern wirkenden Energien bewusst erspüren.

Das Cakra-Konzept ist nicht zu verstehen ohne den Hinweis auf die eigentliche Quelle der Energie, die Kundalini. Diese Quelle ist der Ursprung eines Energiefeldes, das in seiner Gesamtheit den psycho-physischen Raum bzw. das Mandala in Gestalt des einzelnen Menschen bildet. In den Cakra werden die verschiedenen energetischen Niveaus dieses dynamischen Feldes dargestellt. Wenn die den energetischen Prozessen zugrunde liegende Quelle verborgen und unerkannt bleibt, lässt sich das volle Potential des Menschen nicht ausschöpfen. Die Energie bleibt sozusagen in einem riesigen Lager in ihrem ursprünglichen Zustand ungenutzt liegen. Ein Abbild dieser Situation ist die schlafende Schlange, die ihr eigenes Schwanzende packt. Sie blockiert zudem - den Körper in dreieinhalb Windungen zusammengerollt - den Eingang zum zentralen Kanal (sushumna). Die sushumna entspricht dem Wirbelsäulen-Kanal und verbindet die Hauptzentren des psychophysischen Organismus. Die Rückenmarksäule wird auch der "innere Weltberg" genannt, den es zu erklimmen gilt.

Das Wort ‚Kundalini' bedeutet ‚spiralförmig zusammengerollt' - d.h. ‚gewunden' in der Art einer Uhrfeder oder eines Ohrringes. Mit dieser Bezeichnung wird das ungenutzte Energiepotential zutreffend charakterisiert. Erst mit dem Erwachen ändert sich der Latenzzustand. Die bislang unbemerkt vorhandene Energie wird aktiv. Doch normalerweise ruht die Kundalini unerkannt im Verborgenen und wirkt im Versteckten. Dies ist durchaus in Ordnung. Die Schlange bleibt lebenslang in sich selbst eingerollt, wenn sie nicht mittels bestimmter Tantra- und Yoga-Praktiken aufgeweckt wird. Sie kann aber auch spontan erwachen und aufsteigen. In diesem Fall ist es von Vorteil, sich gewisse Kenntnisse erarbeitet zu haben. Nicht zuletzt deswegen, weil die Kundalini nach jedem Aufstieg unbedingt wieder nach unten zurückkehren muss, weil sich sonst schwere Störungen für den Einzelnen ergeben. In Das Erstrahlen des Diamantkörpers - Mandala der Fünf Dhyâni-Buddhas wurde dieser Kreislauf - ohne Nennung der Cakra und der Kundalini - thematisiert.

Der Ausgangsstoff des alchemistischen Prozesses ist der Ouroboros, der "Schwanzfresser". Und in der Gestalt der sich selbst in den Schwanz beissende Schlange werden in der Alchemie die sechs Planeten im siebenten geeint. Dies ist eine Parallele zum Cakra-Konzept mit seinen sechs bzw. sieben Energiezentren.

Die "inmitten" des untersten Zentrums, dem "Wurzelgrund des Lebens", bzw. der "eigentlichen Stütze der Lebens", dem Mulâdhâra-Cakra, schlafende Kundalini liefert in ihrem Ruhezustand weitaus genügend Energie, um den Ablauf der Lebensprozesse zu gewährleisten. Diese keimhaft angelegte, unentfaltete vitale Urenergie wird "Samenkorn des Lebens" (bindu) genannt.

Das Wort bindu hat viele Bedeutungen - z.B. Punkt, Null, Tropfen, Keim, Same - und bezeichnet sowohl den eigentlichen Ausgangspunkt der körperlichen und meditativen Raumentfaltung wie auch den letzten Punkt ihrer Einschmelzung. Das bindu ist jenes 0/0, jenes "seiende Nichtsein", in dem Raum und Zeit, Innen- und Aussenwelt zu einem dimensionslosen Punkt eingeschmolzen sind. Es ist der undifferenzierte, potentielle und allumfassende Ursprung aller Bewusstheit und Erkenntnis.

Die keimhaft angelegten Kräfte vereinigen und differenzieren sich zu einem einzigen tragenden Ton (nada). In ihm kommt das Leben des Menschen hörbar zum Erklingen. Doch erst wenn die Kundalini erwacht, hat dieser Ton genügend Substanz, um eine Umstrukturierung und Neuorientierung der eigenen Energien zu bewirken. Sein Klang verdichtet sich schliesslich zu einer einzigartigen und ganz persönlichen melodischen Klangfülle.

Mit ihrem gewundenen, zartgestaltigen Leib, der an einen feinen Blumen-Stiel erinnert, blockiert die Kundalini sanft und unaufdringlich den Eingang zum zentralen Kanal. Sie scheint zwar träge und schläfrig, aber sie glänzt und funkelt wie eine Kette heller und summender Lichter in der Dunkelheit der Nacht.

Die funkelnde Lichterkette erinnert an die Lichtfunken (scintillae). Damit ergibt sich - neben dem Bild der Glühwürmchen - eine weitere Parallele zu gewissen, in Europa beheimateten Vorstellungen. Der Unterschied der westlichen zu den östlichen Bildern ist letztlich der, dass die östlichen wesentlich differenzierter ausgestaltet sind. Selbstverständlich sind in sie andere kulturelle Gegebenheiten eingeflossen. Aber diese sind leicht zu identifizieren und können deshalb ohne grosse Schwierigkeiten "eliminiert" werden. Die Tatsache, dass es immer nur um die Eigenerfahrung geht und niemals um die Übernahme kanonisierter theoretischer Konzepte, sollte dies möglich machen.

Das grösste Hindernis besteht allerdings darin, dass die eigenen theoretischen Vorstellungen und Paradigmen dies manchmal auf subtile Art und Weise zu verhindern wissen. Oder es werden die eigenen Erfahrungen zu einer mehr oder weniger neuen Theorie umgekrempelt. Es dürfte beispielsweise ein Leichtes sein, den Lotus durch eine Seerose zu ersetzen, aber es wird schon schwieriger sein, den praktischen Aspekt der Kundalini-Schlange zu realisieren, ohne dabei in die Fallstricke psychologischer Betrachtungsweisen zu geraten und in einem Theorienetz hängen zu bleiben.

So lange die Kundalini schläft, ist das Ich strikt nach aussen hin orientiert. Es handelt sich dabei um eine als erzwungen zu bezeichnende Extraversion. Dies hat zur Folge, das die Subjekt-Objekt Dualität hartnäckig bestehen bleibt und nicht aufgelöst werden kann. Die Bindung an die Aussenwelt ist von einem Wechselbad der Gefühle begleitet, denn draussen herrscht permanent ein ständiges Auf und Ab. Die Ereignisse brechen ungebrochen und in Wellen über das Ich herein und lassen es - und damit auch den Körper, mit dem das Ich in diesem Zustand allemal identisch ist - hin und her schwanken. Abwechslungsweise kommt es zu Hitzewallungen und dann wieder zu kälteartigen Schüben. Dies strapaziert den Körper und verschleisst ihn allmählich, denn unablässiger Stress führt letzten Endes zu einem "Burnout".

Wenn die Kundalini geweckt wird, entrollt sie sich. Dieses Erwachen kann spontan und relativ sanft geschehen oder beispielsweise durch einen Schock. Erschütternde Ereignisse (z.B. Unfall, Krankheit, Pensionierung) reissen die fest in sich ruhende Schlange unweigerlich und sehr abrupt aus dem Schlaf. Die Kundalini richtet sich sofort kerzengerade auf und schlüpft blitzartig in den zentralen sushumna Kanal, in dem sie nun aufzusteigen beginnt. Damit wird die Fliessrichtung der Energie geradezu explosionsartig umgekehrt. Plötzlich sieht sich das Ich nicht mehr auf die Aussenwelt bezogen, sondern wird zur Innenschau gezwungen. Für viele bricht damit eine Welt zusammen - im wahrsten Sinne des Wortes ein katastrophales Ereignis. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass Weltuntergangsszenarien derart faszinieren.

Aber eigentlich wäre alles nur halb so schlimm, denn das Erwachen der Kundalini kann auch sanft und in milder Form geschehen. Wer zu meditieren beginnt oder sich mit der Welt der Träume auseinandersetzt oder eher besinnliche Texte liest, der wird die Kundalini kaum erschrecken und nach dem Wachwerden der Schlange von der Kehrtwende des Energieflusses nicht sonderlich überrascht werden. Sogar Fantasy-Romane - z.B. die "Unendliche Geschichte" von Michael Ende -, Trickfilme, Comic und Science Fiction können ein behutsames Einschwingen bewirken. Deswegen erzähle ich auch von meinen nächtlichen Erfahrungen.

Kaum ist die Kundalini erwacht, kriecht sie steif wie ein Stab in die Höhe und durchquert dabei die sechs Zentren. Die nach unten hängenden Blütenblätter der Cakra kommen in Berührung mit dem Leib der Schlange. Der Kontakt bewirkt, dass die Blätter umgedreht werden und sich aufrichten. Mit dieser Kehrtwendung wird die stufenweise geschehende Verwandlung der Orientierung des Individuums angedeutet. Der in einem menschlichen Körper geborene Geist, der sich im Ich auskristallisiert, vermag seine in den Blütenblättern verborgenen Qualitäten erst zu entfalten, wenn er die trüben Fluten der Leidenschaften und des Nichtwissens durchstossen hat. Nun wird es ihm möglich, die dunklen Kräfte der Tiefe in die lichte Reinheit des nektargleichen Erleuchtungsbewusstseins zu transformieren. Es ist wie bei einer Lotusblüte (padma), die aus der Dunkelheit des Schlammes zur Oberfläche des Wassers emporwächst und sich über dem Wasser entfaltet. Obwohl aus Erde und Wasser geboren und in der Tiefe wurzelnd, erblüht sie in der strahlendsten Fülle des Lichtes.

In einigen Texten wird davon gesprochen, dass die Kundalini die Lotusblumen derart vehement durchstösst, dass dabei die Spitzen der Blütenblätter entflammt werden. Dies ist gemeint, wenn die Kundalini als "mystisches Feuer" bezeichnet wird. Auf jeden Fall werden die einzelnen Cakra-Zentren in dem Moment zum Leben erweckt, wenn die "Schlangenkraft" sie durchquert. Sie leuchten auf und beginnen zu wirken.

Das Erwachen der Kundalini macht sich nicht nur körperlich, sondern auch im nächtlichen Erleben bemerkbar. Letzteres scheint weniger dramatisch, vor allem für jemanden, der sich als luzides Ich in einem (Klar-) Traum einredet, ihm könne nichts geschehen und es müssten keine Konsequenzen gezogen werden. Dies ist richtig und gleichzeitig eine der wohl grössten und folgenschwersten Täuschungen, weil das Geschehen letztlich blockiert wird und die möglichen Auswirkungen auf das Individuum und das gesellschaftliche Umfeld falsch eingeschätzt werden.

Eine enorme Zunahme der körperlichen Hitze, übermässiges Schwitzen und punktförmige, willkürlich über den ganzen Körper verteilte stechende Schmerzen können ziemlich unangenehme Zeichen des Erwachens der Kundalini sein. Aber diese und andere körperliche Sensationen wie Kribbeln, Jucken und Beissen, Rötungen und Schwellungen sind - meistens, aber nicht immer - ebenso vorübergehend wie die im Traum auftretenden Empfindungen. In erster Linie müssen sie bewusst durchlebt und sorgfältig beobachtet werden. Zur Sicherheit kann ein Arzt konsultiert werden, aber wenn keine physische Ursache festgestellt werden kann, handelt es sich um einen "Kundalini-Effekt" - also sozusagen um ein echtes psychosomatisches Ereignis.

Auf der physischen Ebene sind die Nebeneffekte anders als auf der psychischen. Die zunehmende innere Hitze wird von den einen wie Fieber behandelt, während andere selbst bei kalten Aussentemperaturen nur mit einem Hemd bekleidet rumlaufen - und zwar mit hochgekrempelten Ärmeln und mit Sandalen ohne Socken. Der Effekt ist in beiden Fällen der selbe - die Hitze wird gemildert. Fiebersenkende Mittel lassen die Kundalini wieder eindösen. Parallel zum Geschehen in der Aussenwelt, dem Körper, wird auch die Innenwelt aktiviert, und es gilt, sich mit ihr auseinanderzusetzen, beispielsweise durch das Protokollieren des Traumgeschehens und/oder mit Hilfe von Yoga-Übungen, asiatischen Kampfsportarten und Meditation.

Schwitzen und stechende Schmerzen als anfänglich auftretende Begleiterscheinungen sind einigermassen zu ertragen, auch wenn - vor allem - die Schmerzen manchmal unerträglich scheinen. In einem luziden Traum wollte mich z.B. eine Schlange ins Scrotum beissen. Ich hätte das verhindern können, tat es aber nicht. Es war fürchterlich!

Der Prozess muss nicht notwendigerweise gestoppt werden. Es braucht allerdings schon eine gehörige Portion Mut und Vertrauen, ihn fortzusetzen, zumal in "unseren Breitengraden" hilfreiche Hinweise fehlen. Was mich selber betrifft, ist zu betonen, dass ich wenigstens die Möglichkeit hatte, Buchhandlungen und Bibliotheken abzuklappern und mich mit der Tiefenpsychologie zu beschäftigen. Daraus ergaben sich zwar keine wirklich brauchbaren und handfesten Hinweise, aber der Gang zum Psychiater und anderen gesellschaftskonformen Institutionen liess sich vermeiden. In allererster Linie waren es aber die Traumerfahrungen, die mich nicht verzweifeln liessen! Der Arbeitsaufwand war enorm, aber an ein Aufgeben war nicht zu denken.

Mit der Zeit verflüchtigen sich die aufdringlichen Zeichen. Andere, eher abstrakte und weniger störende treten an ihre Stelle. Interessanterweise handelt es sich dabei vor allem um Halluzinationen und Auditionen

Halluzinationen sind sogenannte Trugwahrnehmungen ohne entsprechende Umweltreize, d.h. Wahrnehmungserlebnisse, denen in der Alltagswirklichkeit kein realer Gegenstand entspricht. Solche Schauungen haben manchmal sogar "visionären Charakter", und es ist zu vermuten, dass Geisterkontakte und UFO-Sichtungen hierher gehören. Dabei ist vor allem wichtig, zu erkennen, dass es sich um Dinge handelt, die "anderweltlich" bzw. in einer anderen Wirklichkeit beheimatet sind. Es wäre überaus töricht, sie allein deswegen abwertend als illusionär zu bezeichnen, weil sie nicht zur materiell-physischen Realität gehören.

Auditionen, das inneren Hören von Worten und das Vernehmen von Botschaften einer höheren Macht, haben keinen Bezug zu äusseren akustischen Reizen. Und doch verbinden sie sich zuweilen mit äusseren Dingen beispielsweise zu hörbaren Farbempfindungen (audition colorée) oder zu riechbaren Tönen.

Auch andere - synästhetische - Wahrnehmungen treten häufiger auf, wobei mehrere Sinneseindrücke miteinander verschmelzen. Innere Stimmungen werden regelrecht spürbar, Gefühle sind zu hören und Ahnungen zu riechen. Die Sensibilität nimmt derart zu, dass sie die Schmerzgrenze überschreitet. Viele dieser Phänomene sind bekannt, werden aber kaum jemals in Zusammenhang mit dem Erwachen der Kundalini gesehen und hinterfragt. Plötzlich auftretendes Meeresrauschen, Donnergrollen, quietschende Geräusche oder kreischendes Brüllen sind weitere Auditionen, die eher aufschrecken und beunruhigen.

Doch selbst die schrillsten Töne und härtesten Paukenschläge werden nach und nach weicher und angenehmer. Über den Körper huschen bimmelnd und klirrend zierliche Ornamente, aus denen gedämpfte Flöten- und Lautenklänge erklingen. Oder es streicht ein Geigenbogen sanft über die Haut und bringt sie zum Singen und in der Ferne sind leise Klaviertöne zu hören. Und schliesslich werden alle Klänge äusserst fein und unaufdringlich wie das Summen von Bienen.

Es kann vorkommen, dass es in dieser Phase zu Schwindelgefühlen und vermehrtem Speichelfluss kommt. Auch können die Herzschläge schwächer und gleichzeitig fester bzw. schärfer und deutlicher voneinander abgegrenzt sein. Oft scheinen die körperlichen Empfindungen wie betäubt und die unmittelbare Umgebung löst sich auf, verliert ihren bestimmenden Charakter und entschwindet. Es ist, als sähe man sich aus der Distanz, z.B. von oben oder von hinten. Beim Einschlafen fällt der Körper durchs Bett oder schnellt in die Höhe.

Musik erklingt aus dem Innern und verdichtet sich allmählich zu einem ausserordentlich subtilen und feinen Klang. Dies ist der Ton, in dem sich der eigentliche Wesenskern des einzelnen menschlichen Individuums widerspiegelt. In diesem Ton erklingt die einzigartige und unaussprechlich klare "Stimme des inneren Schweigens".

Häufig sind optische Effekte. Diese treten - wenigstens bei mir - vor allem im Zusammenhang mit ausserkörperlichen Erfahrungen auf, denn vor und während der "Ablösungsphase" sind ausser kinästhetischen Empfindungen auch hypnagogische Bilder zu beobachten. Dass all diese Dinge mit dem Erwachen der Kundalini zu tun haben, ist insofern beruhigend, als damit ein Wissen in die eigenen Erfahrungen miteinbezogen werden kann, dass nicht nur sehr alt, sondern auch sehr umfassend ist.

Zu den optischen Erscheinungen gehören helle Lichtpunkte, züngelnde Flammen, glänzende Kugeln, farbige Linien und geometrische Muster jeglicher Art und Leuchtkraft. Zu den eher in späteren Stadien auftretenden Effekten sind - neben dem Sichtbarwerden des Sternenhimmels - die hellen, wirbelnden Kreise, die wallenden Nebel und die ziehenden Rauchschwaden zu zählen. Ausserdem sind fremde Landschaften zu erblicken. Kleinste, stark blendende Farbtupfer in allen Schattierungen schwirren hell glänzend zwischen den Augenbrauen hin und her. Zuweilen ziehen sie langsam über die Stirn und verschwinden im Nichts. Ein Funke wird zur Flamme. Kein Wind - und sei er noch so stark - kann dieses Licht zum Flackern bringen. Die Dunkelheit leuchtet schliesslich auf und alles wird strahlend hell.

Selbstverständlich gibt es - in Abhängigkeit von den individuellen Voraussetzungen - z.T. beträchtliche Unterschiede sowohl in der Abfolge als auch im Erscheinungsbild all dieser Anzeichen. In erster Linie ist die Persönlichkeitsstruktur als solche massgebend. Weitere Faktoren sind z.B.: die natürliche Begabung; die zur Erweckung der Kundalini verwendete Technik; der Aufwand bei den Vorbereitungen; die früheren (Traum-) Erfahrungen; das persönliche, familiäre und gesellschaftliche Umfeld; die Anweisungen des Lehrers; die zur Verfügung stehenden Kenntnisse und der bereits erfolgte Abbau jener Blockaden, die durch Zweifel, Skepsis und gesellschaftliche Zwänge erzeugt wurden.

Abschliessend sei zur Kundalini-Erweckung folgendes angemerkt:
Was meine Person betrifft, scheint in erster Linie eine natürliche Begabung vorhanden gewesen zu sein. Diese wurde allerdings beinahe vernichtet. Die Kundalini ist vergiftet und in den Schlaf versetzt worden. Ich bin überzeugt, dass die meisten diese harte "Schulung" haben erdulden müssen.

Wer einmal seine Kindheit verloren hat, sollte lernen, wieder "wie ein Kind" zu werden und zu erkennen, dass die Wirklichkeit wesentlich mehr umfasst als bloss die physisch-materielle Realität. Wenn es mir gelungen ist, die Schranken der eindimensionalen Sichtweise zu durchbrechen, wird es auch anderen Menschen gelingen . In jedem Menschen schlummert eine Kundalini, in jedem Menschen wartet die Buddha-Natur nur darauf, bewusst zu werden.

Die Leichtigkeit des Seins kann für einen Erwachsenen zur schweren Bürde werden, zu einer Last, die regelrecht abgearbeitet werden muss. Denn ohne Aufarbeitung wird es kaum gelingen, die Kundalini "wachzuküssen". Das Wissen hierfür steht zur Verfügung. Einerseits im nächtlichen Bereich, denn in den Träumen kommt ein Wissen zum Ausdruck, das geradezu kosmische Dimensionen umfasst. Man kann versuchen, es schulkonform deutend zu erfassen, man kann aber auch versuchen, den aufgezeigten Spuren nachzufolgen. Die Annäherung an "ganz-andere" Erfahrungsbereiche wird aber auch durch Märchen und asiatische Schriften erleichtert.

Was hier in bezug auf das Erwachen der Kundalini geschrieben wurde, ist bloss ein geradezu lächerlich kleiner Teil von dem, was tatsächlich an Wissen in den tantrischen Schriften zur Verfügung steht. Zum Schluss sei nur noch darauf hingewiesen, dass die Kundalini bei ihrem Aufsteigen neben den sechs Cakra-Zentren noch drei "Knoten" (granthi) zu durchstossen hat. Diese haben damit zu tun, dass es gewisse Schwierigkeiten gibt, wenn versucht wird, sich aus den Verstrickungen in die Welt der Erscheinungen zu lösen. Es ist bereits relativ problematisch, die Fesseln der alltäglichen Gewohnheiten abzuschütteln und sich von den festgefahrenen Anschauungen zu befreien. Ein weiteres Problem besteht darin, dass es gilt, bei der Erschliessung transalltäglicher Dimensionen gelassen zu bleiben und ein Gleichgewicht zwischen der Innen- und der Aussenwelt zu finden. Und schliesslich sind auch die neugewonnen Erkenntnissse zu relativieren, und es ist der Anspruch auf Besitz der absoluten Wahrheit aufzugeben.

Sind Knoten und Zentren durchstossen, schlängelt sich die Kundalini in den 1000-blättrigen Lotus. Hierauf beginnt dieser Nektar auszuschütten. Dies besagt u.a., dass die "inneren Werte" nunmehr definitiv zur Verfügung stehen. Aber damit ist der Prozess keineswegs zu Ende! Der Aufstieg der Kundalini führt wohl zur Erleuchtung bzw. zur Erkenntnis der Zusamenhänge, aber noch bleibt alles in der Schwebe und ohne Bezug zur Schöpfung. Demzufolge muss die Kundalini wieder absteigen. Bei ihrem Abstieg wird der Mensch von tiefster innerer Ruhe und einer geradezu göttlichen Freude erfüllt.

Im untersten Zentrum ist das schöpferisch Weibliche (Sakti - sozusagen die Repräsentantin der BK m/n) beheimatet, im obersten die Bewusstheit (Siva - der Repräsentant der BK 0/0). Schöpfung ohne Bewusstsein ist ein Leerlauf, Bewusstheit ohne Inhalt wäre sinnlos. Kommen Eros und Logos nicht zusammen, bleibt alles total chaotisch und undifferenziert. Eigentlich existieren die Dinge erst wesenhaft, wenn die totale Transformation mittels Auf- und Abstieg der Kundalini vollzogen ist.

Der zweite luzide Traum vom 12. November 1972

Nach den Ausführungen zur Kundalini-Erweckung beginne ich mit der Erzählung nochmals von vorne:

An einem See mitten im Gebirge wird ein Wettbewerb ausgetragen, bei dem es darum geht, über eine "Seilbrücke" zum anderen Ufer hinüberzugehen. Der schma-le, ziemlich gefährlich aussehende Steg besteht aus zwei schienenartigen Strängen, die in einem Abstand von etwa 60 Zentimetern parallel nebeneinander verlaufen. Die "Schienen" schwanken leicht hin und her, wodurch die Breite des Spalts sich andauernd ändert.

Sieger ist derjenige, der das andere Ufer erreicht. Da ich selber keine Ambitionen habe, schaue ich nur zu. Der erste Mann startet, zündet eine Antriebsrakete und kommt auf ein recht hohes Tempo. Problemlos gleitet er über die "Schienen" bis weit in den See hinaus. Aber dann nimmt die Geschwindigkeit ab, er verliert sein Gleichgewicht und droht abzustürzen. Zunächst kann er sich an den beiden Drahtseilen festhalten. Aber er stützt sich zu stark darauf ab, so dass sie nach unten weggedrückt werden. Nun verliert er seine Balance und kippt über eines der Seile. Für einen Moment scheint es, als bliebe er mit einem Bein hängen. Das hätte sehr gefährlich werden können. Erst im letzten Augenblick zieht er sein Bein an. Der Mann fällt mit den Füssen voran ins Wasser und taucht elegant ab. Kurz darauf wird er von einem Motorboot an Bord genommen und wieder an Land gebracht.

Der nächste Kandidat kommt kaum über den Startpunkt hinaus, verliert den Halt, stürzt ins Wasser und schwimmt ans Ufer. Da sich niemand mehr meldet, entschliesse ich mich, selbst einen Versuch zu wagen. Vorsichtig und bewusst setze ich einen Fuss nach dem anderen auf die glatten Schienen und rutsche langsam voran. Ab und zu balanciere ich mich am Drahtseil aus oder halte mich an einem Holzpfosten fest und lege eine Pause ein.

(10.1.2000) Jener Kandidat, der kurz nach dem Start ins Wasser stürzt, kann mit einem "Träumer" verglichen werden, der versucht, luzid zu träumen. Es kommt aber nur zu einem momentanen "Aufflackern" der Luzidität. Diese bricht sogleich wieder zusammen, und das subtile Gleichgewicht des Ich-Bewusstseins geht verloren. Er stürzt in die "Fluten des Unbewussten" und damit in einen normalen Traum mit einem nicht-luziden Traum-Ich.

Der andere Wettbewerbsteilnehmer benutzt ein technisches Hilfsmittel. Das kann eine Droge sein. Aber oft ist es einfach "nur" eine egoistische Einstellung, welche die Luzidität einzig und allein dafür einsetzt, Ziele zu erreichen, die den eigenen Vorstellungen entsprechen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sei betont, dass die eben zur Sprache gekommenen beiden Fälle auch subjektstufig gelten. Ich versuche übrigens stets, als erstes eine Erlebnissequenz auf meine persönliche Situation zu beziehen und die Lehren daraus zu ziehen.

Mein Vorgehen war in diesem Fall - er entspricht der Situation von 1972 - weder vom Ehrgeiz noch vom Wunsch bestimmt, mühelos und möglichst schnell die Sache hinter mich zu bringen. Der Strecke war - bewusst bzw. luzid - Schritt für Schritt und ohne Hast zu begehen.

Die Schienen liegen manchmal unter der Wasseroberfläche. Dann lässt sich der Weg bloss noch mit den Füssen ertasten. Dies ist ganz besonders schwierig und muss äusserst behutsam angegangen werden.

Nach über einer Stunde - die ich in voller Länge und Minute für Minute erlebe - ist das Endstück erreicht. Es ist der schwierigste und gefährlichste Teil der ganzen Strecke, denn der Steg liegt hoch über der Wasseroberfläche. Hier wird die Brücke von ziemlich starken Winden zum Schaukeln gebracht. Es dauert eine Weile, aber schliesslich ist auch das geschafft. Nach einem kurzen und überaus tückischen Schlussteil ist das Ziel erreicht! Zwar bin ich Sieger, aber das ist mir völlig egal.

Nach einer kurzen Bahnfahrt durch eine tief verschneite Landschaft mit mehreren kleinen Dörfern kommt es zum Zusammentreffen mit jenem Alten, den ich bereits nach dem Überqueren der schmalen Seilbrücke gesehen hatte. Auf den Dächern der kleinen Häuser lag übrigens meterhoher Schnee. Manchmal wurde dieser vom Sturmwind als kompakte Masse aufgehoben und wie ein Blatt umgedreht. Ich wunderte mich, dass die Dächer dabei nicht einstürzen. Das eine oder andere kompakte Schneebrett wurde auch auf die Strasse geschleudert. Nicht ganz ungefährlich!

(10.1.2000) Beim Aufstieg der Kundalini werden die nach unten hängenden Blütenblätter der Cakra umgedreht und aufgerichtet. Die Kehrtwendung deutet die Verwandlung der Orientierung des Individuums an. Gerade harmlos dürfte das nicht sein, besonders deswegen nicht, weil Luzidität bzw. Bewusstseinsklarheit (hier als Schnee) daran beteiligt ist.

Nach Beendigung der Rundfahrt gehe ich zum Alten, einem Gelehrten von grosser Weisheit und Menschlichkeit. Der Mann überreicht mir den "Siegespreis". Es ist allerdings mehr ein persönliches Geschenk, nämlich eine goldene Statue. Sie ist etwas grösser als eine Faust und stellt einen Mann mit einem dickem Bauch dar, der lächelnd mit überkreuzten Beinen auf dem Boden sitzt. Es ist eine ausserordentlich ausgewogene, uralte chinesische Arbeit. Ein sehr seltenes Stück, vielleicht weltweit das einzige in seiner Art.

"Nein, ich bin dieses Geschenkes keineswegs würdig!"
Aber der Weise sagt: "Nimm das Geschenk an! Aber hüte es sorgfältig! Ich werde bald sterben - und die Aasgeier warten schon."

Ich bedanke mich herzlich, gehe über die Seilbrücke zurück zum anderen Ufer und nach Hause. Daheim betrachte ich in Ruhe die goldene Figur. Trotz der Wohlbeleibtheit der sitzenden Gestalt ist die Statue unglaublich ausgewogen gearbeitet. Plötzlich erinnere ich mich wieder daran, dass für die Chinesen der Sitz der Seele im Bauchraum ist.

Wie ich die Statue umdrehe, sind auf den Boden eingeritzte Schriftzeichen zu erkennen. Sie sind gut lesbar und weisen darauf hin, dass die Statue von einem Mann namens "Wilhelm" aus China rausgeschafft und nach Europa gebracht wurde.
"Könnte das Richard Wilhelm gewesen sein?" frage ich mich.
Jedenfalls hat er das Kleinod jemandem geschenkt!

Darunter sind noch ein paar Zeilen, u.a. anderem steht geschrieben, dass der Besitzer der Statue das Mû erreichen werde, wenn er den Saft trinke, der in den Hohlraum eingeschlossen ist. Und weiter ist noch zu lesen, dass er dies tun soll, wenn ihn schwere Sorgen plagen und er keinen Ausweg mehr wisse. Die gelbe Flüssigkeit, die etwa die Hälfte der Statue ausmacht, ist gut im Innern sehen. Der Boden ist rundum fast vollständig aufgerissen, aber dennoch läuft der Saft nicht aus. Sehr erstaunlich!

Nach einiger Zeit stelle ich den sitzenden Mann ins Regal zu den anderen wertvollen orientalischen Arbeiten, die mir nach und nach geschenkt wurden.
Ein Gefäss aus China. Es ist eine unwahrscheinlich feine und schöne Arbeit in Gestalt eines grün-goldenen Drachen.
Eine aus Indien stammende Statue aus edelstem Holz, die ähnlich aussieht wie die Buddha-Statue im Buch "Indische Sphären" von Heinrich Zimmer. (Buddhastatue: 5. Jhd. n.Chr. - Mathurâ, Vorderindien). Es ist eine sehr schlanke Frau mit einem nur halb so grossen mandalaförmigen Halo um den Kopf wie auf der Abbildung im Buch.

(10.1.2000) Es handelt sich um die Abb. 5 nach S. 80 im Buch "Indische Sphären" von Heinrich Zimmer (Zürich: Rascher (1935) 1963). Damals las ich das Buch und schrieb viele Randbemerkungen, etwa solche in Zusammenhang mit der Bewusstseinskontinuität (BK m/n; BK m'tar t'ug (= BK 0/0)) und solche zu Tonal und Nagual. So chrieb ich z.B. "Zimmer versucht fälschlicherweise, das Nagual in Tonal-Worte zu fassen." (S.80) oder - zum Problem des Hungerfastens S.81: "Besser wäre hier Wu-Wei!" - (Wu-Wei = handelndes Nichthandeln).

Auch ein oder zwei weitere äusserst wertvolle Arbeiten stehen im Regal. Sie alle erhielt ich als Geschenk! Es sind Stücke, die von Museum gesucht werden. Ich erhielt sie zur Verwahrung, als Auftrag und Verpflichtung. Es ist meine Aufgabe, sie vor dem Zugriff der profanen Welt und der musealen Verstaubung zu schützen.

Niemand weiss, dass die Dinger bei mir zu Hause im Regal stehen. Unsere beiden Kinder hatten bislang ihre Plastik- und Plüschtiere zwischen die Statuen gestellt. Beide wissen natürlich nichts über den Wert der Statuen - weshalb sollten sie auch, sie sind erst sechs und sieben Jahre alt. Nun bitte ich sie, ihr Spielzeug woanders hinzustellen, damit die Statuen besser zu Geltung kommen. Sie tun dies ohne Murren und ganz selbstverständlich.

Zum Kôan Mû (12.11.1972)

Das Mû hat mit der "leeren Ich-Bewusstseinskontinuität" (BK 0/0) zu tun. Im Verlauf des Tages beschliesse ich, das Mû zu amplifizieren bzw. dem Mû nachzugehen.

In "Die drei Pfeiler des Zen" von Philip Kapleau (Zürich: Rascher, 1969) steht im Index: Mû bedeutet wörtlich "nichts, nicht, das Nichts, kein, un-...". Mû ist das berühmteste Kôan seit jeher und wird noch heute am häufigsten den Anfängern aufgegeben (S.103). Dieses Kôan ist unübertroffen, um den Geist des Unwissenden aufzubrechen und das Auge der Wahrheit zu öffnen. - Die Entstehung dieses Kôans war folgende: Jôshû, einer der grössten chinesischen Zen-Meister der T'ang-Zeit wurde von einem Mönch gefragt, ob ein Hund Buddha-Wesen habe. Jôshû antwor-tete: "Mû!"

Kapleau schreibt (S.118f): Wir müssen uns der Frage "Hat ein Hund Buddha-Wesen?" mit Vorsicht nähern, da wir nicht wissen, ob der Mönch wirklich unwissend ist oder nur Unwissenheit heuchelt, um Jôshû zu prüfen. Jôshû kann weder "Er hat" noch "Er hat nicht" antworten, weil das, worum es hier geht, gar nicht eine Sache von "haben" oder "nicht haben" ist. Da sowieso alles Buddha-Wesen ist, wäre jede der beiden Antworten sinnwidrig. Das hier ist ein "Dharma-Gefecht". Jôshû muss den Stoss parieren. Das tut er, indem er scharf versetzt: "Mû!" Hier endet der Dialog.

Mû ist die Schranke, das Tor, das zur Selbst-Wesensschau führt. Mû realisieren heisst, seinen Wesenskern realisieren bzw. das Selbst verwirklichen! So führt Mû zur Begriffslosigkeit, weil in ihm alles eingeschmolzen wird (S.124). Man darf sich einzig nur noch auf Mû konzentrieren, auf das Selbst konzentrieren. Alles muss Mû werden.

(S.106) Mû hält sich vom Intellekt wie von der Vorstellungskraft fern. Mit dem Verstand ist Mû nicht beizukommen. Mû auf rationalem Wege lösen zu wollen, ist so, als "versuche man, mit der Faust eine eiserne Wand zu durchstossen". Mû schneidet das bösartige Gewächs von "Ich" und "Nicht-Ich" aus dem tiefsten Unbewussten heraus, jenes Gewächs, das die dem Geist eigene Reinheit vergiftet und die ihm zugrunde liegende Ganzheit beeinträchtigt.

Nach diesem Teil der Amplifikation denke ich, dass Mû auch etwas damit zu tun haben könnte, dass die Ausrichtung auf das Denken allein aufzugeben ist, damit es zu einer Neueinstellung kommt. Das Mû ist zu verwirklichen.

(11.1.2000) Mû hat mit BK m/n - BK 0/0 zu tun. Es geht nicht darum, dass das bewusstseinskontinuierliche Ich (BK) sich mit irgend etwas identifiziert, z.B. mit der Denk-Funktion, dem Gefühl, der Intuition oder der Empfindung, oder sonst mit einem Inhalt. Bezüglich der Funktionen geht es darum, die "transzendente Funktion" zu leben, bezüglich eines sonstigen Inhaltes darum, sich der Formlosigkeit in der Form bewusst zu bleiben.

Abends fahre ich mit der Amplifikation weiter und lese mit Verblüffung:
(S.157) "Um den geistigen Gehalt von Mû klar zu erkennen, müssen Sie, ohne sich ablenken zu lassen, eine Eisenschiene, die sich ins Unendliche erstreckt, entlangwandern. Eine Rast wird der Erleuchtung entgegenwirken, und viele Pausen werden es umso mehr. Die geringste Ahweichung von Mû wird zu einer Entfernung von Meilen. Passen Sie also auf! Seien Sie auf der Hut! Lassen Sie Mû auch nicht für einen Augenblick los, weder beim Sitzen, noch beim Stehen, Gehen, Essen oder Arbeiten."

Meine Verblüffung ist verständlich, denn ich hatte auf Eisenschienen wie auf des Messers Schneide zu gehen - und dies mit vollster Konzentration und äusserster Vorsicht. Jeder Fehltritt und jede Unaufmerksamkeit hätte zum Sturz geführt - und damit zum Verlust der Statue mit dem Mû.

(S.158) "Die Forderung ist gebieterisch, die Vorstellung von einem ‚ich selbst' im Gegensatz zu ‚anderem' aufzugeben. Das ist eine Täuschung, die durch eine falsche Sicht der Dinge hervorgerufen wird. Um zur Selbst-Wesensschau zu kommen, müssen Sie sich und das Weltall unmittelbar als Eins erleben."

Meine persönliche Problematik steht nicht im Gegensatz zu der von anderen - dies zu meinen, wäre eine falsche Sicht der Dinge. Was sich als persönliches Problem anderer Menschen zeigt, ist ebenso auch das meine. Der einzige Unterschied liegt im Graduellen - von mir scheint mehr verlangt zu werden. Denn die Übergabe der wertvollen goldenen Statue ist Aufgabe und Verpflichtung zugleich!

Der Kern der Probleme ist immer derselbe. Nur die spezifische Ausarbeitung ist von Individuum zu Individuum verschieden. Ähnlich hingegen ist die Art und Weise der Problemlösung - hier ist die Brücke des Verstehens und Miterlebens, des Mitleidens und der gemeinsam erarbeiteten Lösung.

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