Höhle und Däumling
Werner Zurfluh
Erstmals veröffentlicht in: Die Märchenzeitschrift Nr. 4 1994 - 2. erw. Aufl. 1996 im HTML-Format
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Aus Träumen läßt sich nicht nur im nachhinein und aus zweiter Hand etwas lernen. Das unterscheidet sie von den Märchen, sind diese doch zuerst zu erzählen oder zu lesen, damit sie bedacht, gelebt, verinnerlicht und als Lehrstück nachvollzogen werden können. Träume hingegen sind Ereignisse, welche den Menschen als erlebende Person ganz direkt und unvermittelt miteinbeziehen. Zwar gibt es die Möglichkeit, einen Traum sozusagen distanziert von außen wie einen Film zu betrachten, denn es besteht keine zwingende Notwendigkeit, sich vollumfänglich in das Geschehen miteinbeziehen zu lassen. Notfalls kann ein Traumereignis, das sich zu einem gräßlichen Albtraum entwickelt, abrupt mit einer Flucht ins Bett abgebrochen werden. Auf diese Weise entzieht sich das Ich scheinbar elegant dem Geschehen, denn es erwacht wieder in der gewohnten und vertrauten Umgebung - mit pochendem Herzen zwar und manchmal verstört und schreckensbleich, aber doch erleichtert und entlastet!

Der Entschluß, aus einem Albtraum im Bett zu erwachen, statt ganz bewußt in ihm zu verbleiben und aktiv zu handeln, ist die allgemeine und durchwegs gebilligte Regel. Und wer sich während eines mehr oder weniger normalen Traumgeschehens dessen bewußt werden sollte, daß es sich um einen Traum handelt, wird sich ebenfalls an die übliche Verhaltensnorm halten. Und diese besagt: Das Erwachen im Traum ist gleichbedeutend mit dem Erwachen im Bett. Bewußtwerdung ist mit einem ganz bestimmten Wechsel des Körperzustandes verbunden! Nur wenige denken daran, daß das "Erwachen des Ichs zur Bewußtheit" keineswegs das Aufwachen des schlafenden Körpers bedingt. Eigentlich könnte das allgemein bekannt sein, denn es gibt genügend Hinweise zur Frage des Wachseins in den Zaubermärchen und viele Aussagen von Schamanen, die das Wachbleiben im Schlaf betreffen. Der Nagual Don Juan sagt beispielsweise - wie Carlos Castaneda schreibt - daß es eines systematischen Trainings der Traum-Aufmerksamkeit (diese entspricht in etwa der Kontinuität des Ich-Bewußtseins) bedarf, damit wir nicht "in dieser uns bekannten Welt aufwachen" und in der zweiten Aufmerksamkeit (und damit in der Anderwelt) verbleiben. Außerdem betont er mit Nachdruck, daß die "Traum-Aufmerksamkeit der Schlüssel zu jedem Schritt in der Welt der Zauberer sei" (ibid. S. 40).

Immerhin ist die Tatsache allgemein bekannt, daß zwischen der Bewußtwerdung in einem Albtraum (dem Erwachen des Ichs zu Bewußtheit) und dem "eigentlichen" Erwachen im Bett eine gewisse - wenn auch minimale - Zeit verstreicht. Sie genügt jedenfalls, damit sich das Ich seiner Lage vollumfänglich bewußt wird. Jetzt ginge es nur darum, diese Zeitspanne zu hinterfragen, die zwischen dem Erwachen des Ichs zur Bewußtheit im Traum und dem Erwachen des Ichs im Bett bzw. dem Aufwachen des schlafenden Körpers verstreicht. Das ist nämlich eine Periode der Kontinuität der Bewußtheit des Ichs und ein (bewußt erlebter) Übergang zwischen zwei Erfahrungsebenen! Nur am Rande sei darauf hingewiesen, daß in der Phase des Einschlafens dasselbe in umgekehrter Reihenfolge geschieht. Die Bewußtheit bzw. die Bewußtseinskontinuität des Ichs erlöscht. Dies braucht nicht in totaler Übereinstimmung mit dem Einschlafen des Körpers zu geschehen. Der hypnagogische (zum Schlaf hinführende) Zustand ist also bestens für die Einübung der Beibehaltung der Bewußtheit geeignet.

Nun kann es - kehren wir zurück zum Thema "Traum und Moment der Bewußtwerdung während eines Traumgeschehens" - durchaus geschehen, daß das Traumereignis dem bewußt gewordenen Ich nicht nur wie eine klare Spiegelung des Alltags und damit der eigenen Auffassungen und Einstellungen vorkommt, sondern auch als bislang ungelebte und völlig unbekannte Möglichkeit. Das ist ungewohnt und in höchstem Masse verwirrend, denn bereits im Traum (!) ist es dem luziden Ich entgegen allen geltenden Vorstellungen und Meinungen möglich, sich bewußt zu entscheiden! Es hat die "einmalige" Gelegenheit, absichtlich im Traumgeschehen zu verbleiben und den Traum - ohne den Umweg über den Wachzustand des Körpers - zu einem Lehrstück und zu einer effektiven Lebens-Schulung sich auswachsen zu lassen.

Einem zu sich selbst erwachten Ich, das während eines Traumgeschehens nicht versucht, gängigen Meinungen nachzuleben, wird es egal sein, ob es sich beim Erlebten um ein sogenanntes Traum-Ereignis handelt. Es ist sich seiner selbst und der Traum-Situation, in der es sich befindet, vollumfänglich bewußt und weiß sehr wohl, daß dieses Wissen den allgemein geltenden Vorstellungen widerspricht! Blitzartig trifft es eine Entscheidung wider den "gesunden Menschenverstand", denn es geht ihm bloß darum, bewußt im Traumgeschehen als solchem zu verbleiben. Praktisch hat es damit auf das Erwachen im Bett verzichtet.

Mit dieser Entscheidung ist allerdings auch die Tatsache zu akzeptieren, daß die Entwicklung der unter Umständen albtraumartigen Ereignisse keineswegs vorhersehbar ist. Das ist oft ein recht schwieriger Entschluß für ein verwirrtes und mutloses Ich, dem es so vorkommt, als würde ein "furchterregender Hüter der Schwelle" vor ihm stehen. Daß Mutlosigkeit und mangelndes Selbstvertrauen in derartigen Fällen meist zu einem vorzeitigen Abbruch der Erfahrung und damit zu einem "Erwachen aus einem Albtraum" führen, darf nicht weiter verwundern. Das Erwachen im Bett und damit der Wechsel auf die gewohnte materielle Ebene bietet eben allemal eine gewisse Sicherheit.

Fremdes und Unbekanntes wirkt angsterregend und bedrohlich. Ein Ich, das im Verlaufe eines Traumes luzid wird, kennt diesen Zustand und die ihm innewohnenden Möglichkeiten für gewöhnlich nicht. Wenn bildhaft gewordene Erinnerungen in diesem Moment das Gemüt anwehen, drohen alte Wunden aufzureißen. Beispielsweise erscheint eine wüste und schreckerregende Gestalt mit zornigem Gesicht. Oder es geht ein krankes Wesen in zerfetzten Kleidern und mit trauriger Miene vorbei. Das bewußte Ich könnte sich mit diesen Gestalten direkt auseinandersetzen und mit ihnen sprechen. Das erfordert aber die Bereitschaft, sich mit dem, was sie repräsentieren, auseinanderzusetzen. Vielleicht müssen im Verlaufe der Begegnung gewisse Dinge eingesehen werden, die nicht sonderlich schmeichelhaft sind. Im Zusammenhang mit Traumwesen entsteigen eventuell Schuldgefühle aus der Vergangenheit oder aus der Gegenwart. Das kann schmerzhaft sein.

Aus einem Albtraum, der nicht abgebrochen wird, indem das Ich sich ins Bett flüchtet, ergeben sich unter Umständen schwerwiegende Probleme. Das Traumgeschehen wächst sich mit einem Male zu einem sehr anspruchsvollen Ereignis mit initiatorischem Charakter aus. Und dieses Lehrstück kommt nicht aus Schulbüchern, findet nicht im gewohnten Rahmen statt und ist nicht theoretisch abgesichert.

Mich selber hat die Angst, in eine unbekannte Wirklichkeit hineinzugehen, jahrelang daran gehindert, meine Rolle innerhalb des nächtlichen Geschehens zu hinterfragen und meine Anschauungen den nächtlichen Ereignissen gegenüber zu überdenken. Wenn ich mir während eines heiklen und eher albtraumartigen Geschehens der Tatsache bewußt wurde, in einem Traum zu sein, zwang ich mich stets dazu, im Bett zu erwachen, mich regelrecht und regelkonform aus dem Traumgeschehen herauszustehlen und die Bewußtheit in den physischen Körper zu verlagern. - Mit der Zeit erschien mir diese Lösung unbefriedigend, weshalb ich mir vornahm, einem albtraumartigen Moment nicht mehr auszuweichen und die Bewußtheit nur dazu zu benutzen, um aus einer mir unbehaglichen Situation auszusteigen. Was aber sollte ich tun? Ich hatte einfach Angst, als bewußt reagierende und verantwortlich handelnde Person in der nächtlichen Wirklichkeit des anderweltlichen Bereiches bzw. des sogenannten Unbewußten zu verbleiben und weiter in das Unbekannte hineinzugehen.

Erst nach vielen Anläufen und etlichen vergeblichen Versuchen war es mir in der Nacht auf den 20. Oktober 1965 möglich, die Angst zu überwinden und endlich das tun, wozu mir bislang der Mut gefehlt hatte:
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Durch die Straßen einer Stadt renne ich einem gleichaltrigen Manne nach, weil dieser einer Freundin ein Unrecht angetan hat. Nun will ich ihn unbedingt zur Rede stellen und setze alles daran, den Burschen einzuholen. Schon habe ich ihn beinahe erreicht, als er um eine Hausecke sprintet, ohne sein Tempo zurückzunehmen. Ich verlangsame meine Schritte, um beim Richtungswechsel auf dem Straßenbelag nicht auszurutschen. - Aber es ist eine Täuschung! Hinter der Hausecke gibt es keine Straßen mehr. Die Stadt ist hier zu Ende.

Ich sehe gerade noch, wie der Verfolgte in ein Loch am Fuß einer gigantischen Felswand schlüpft und darin verschwindet. Zwischen dem steil aufragenden Fels und den letzten Häusern ist ein offenes Stück Land - gute 50 Meter breit. Ich beschleunige und stehe wenig später schnaufend vor dem Höhleneingang. Beim Anblick des kleines Loches von kaum 60 Zentimetern Durchmesser, der Dunkelheit der Höhle und den wenigen Spuren frage ich mich ernsthaft, ob das Wagnis, hier hineinzugehen, nicht zu groß ist. Aber ich will nicht aufgeben und krieche nach kurzem Zögern durch das Loch in den unscheinbaren und dunklen Höhlengang.

Nur in geduckter Haltung komme ich vorwärts. Der Gang wird mit jedem Schritt niedriger und enger. Erst jetzt werde ich mir der vertrackten Lage bewußt. Eine Welle der Angst brandet heran - der riesige Fels, die Finsternis, die Ungewißheit! Ich bleibe stehen.
"Was jetzt? - Eine Traumsituation wie diese ist schon oft aufgetreten! Aber - statt mich der Angst zu stellen und weiterzugehen, habe ich mich stets dazu gezwungen, im Bett zu erwachen und so dem Albtraum zu entrinnen."
Derartige Erinnerungen sind ein schmerzhafter Nachhall meines andauernden Versagens.
"Nicht schon wieder! - Dieses Mal muß es anders sein!"
Aber die Angst ist viel zu groß! Ich wage es einfach nicht, weiter mit dem Kopf voran durch den engen Gang zu kriechen.
"Es muß eine andere Lösung geben! Aber welche? - Rückwärts!"
Nach einer mühsamen Kehrtwendung schiebe ich mich mit Händen und Füßen rückwärts durch den engen Gang. Auf diese Weise vermindert sich die Angst wenigstens ein bißchen.Doch nach etwa zehn Metern bleibe ich stecken!
"So ein ...!", denke ich. Mein Hinterteil ist festgeklemmt. Es gibt kein Fortkommen mehr, kein Vorwärts und kein Zurück - auch kein Umdrehen. (Anm.1)Unmöglich ist es also, zum Höhleneingang zurückzukehren. Ich bin ein Gefangener in der Finsternis. - Es würde immer noch die Möglichkeit geben, ins Bett zurückzukehren, aber das will ich trotz der langsam anwachsenden Panik nicht. Aber irgendetwas muß geschehen! Voller Verzweiflung und mit aller Kraft stemme, stoße und drücke ich mich nach hinten. ... Es gibt einen heftigen Ruck. Ich stolpere und falle - und erschrecke maßlos. Nach einem halben Meter freien Falles pralle ich auf weichen Boden, drehe mich vom Rücken auf die Seite und stehe auf.

Erleichtert schaue ich mich um und staune. Erst jetzt ist das wahre Ausmaß der Felswand wahrzunehmen. Links und rechts verschwindet sie im Dunst der Ferne - und sie ragt derart weit in den Himmel, daß keines Menschen Auge ausreicht, um ihr Ende zu erblicken. Die 30 bis 40 Meter dicke Felsmauer bildet eine unüberwindliche Grenze. Zwischen den beiden Welten scheint es nur den einen, engen Durchlaß zu geben. Den kennen wohl nur wenige, denn auch auf dieser Seite sind kaum Spuren auszumachen. Ohne hartnäckige Verfolgung wäre ich niemals auf den Höhlendurchgang gestoßen. Weshalb kannte gerade der Gleichaltrige diesen Durchgang?

Am Fuß der Felswand stehend blicke ich über einen unermeßlichen Dschungel in einer menschenleeren Welt - über ein grünes Meer wogender Baumkronen. In der Ferne auf einem Bergkamm ist die winzig kleine Gestalt eines rennenden Mannes zu sehen, dessen Umriß sich dunkel vom stahlblauen Himmel abhebt und im Dunst zerfließt.
"Meint der Kerl etwa, ich würde mich scheuen, tiefer in dieses Gebiet hineinzugehen? Jetzt, da ich endlich den Durchbruch geschafft und meine Angst überwunden habe!"
Ich laufe los, den Abhang hinunter. Bald wird der Rand des Dschungels erreicht sein.

Es ist mir nach dem Durchbruch vom 20. Oktober 1965 immer besser gelungen, einen irgendwie gearteten Tunnel zu durchqueren oder sonstwie auf die andere Seite zu gelangen. Mit den Jahren lernte ich jenes Land, die Anderwelt (das "Unbewußte"), besser kennen. Um jedoch bewußt in den Welten jenseits des Alltäglichen zu verbleiben, galt es immer wieder, die Angst zu überwinden und die eigenen Vorurteile zu erkennen. - 15 Jahre nach dem 20. Oktober 1965, am 13. Januar 1981, ging es wiederum um einen Höhlegang durch eine mächtige Felsmauer. Dieser Fels war allerdings wesentlich dicker als jener, durch den ich mich rückwärts hindurchgezwängt hatte. Zudem war das Gestein nicht einfach nur grau, sondern es bestand aus einem blaßroten, "warmen" Konglomerat. Beim Hindurchgehen bin ich mir meiner Situation voll bewußt.

Seit langer Zeit lebe ich nun mit ein paar wenigen Leuten in einem sehr dichten Urwald. Dieser Dschungel erinnert mich entfernt an einen tropischen Regenwald.

Jetzt haben wir unverzüglich das uns lieb gewordene Gebiet zu verlassen, denn eine große Herde Wasser- oder Kaffernbüffel stürmt in unsere Richtung. Vermutlich wurden die friedlichen Tiere von kannibalischen Eingeborenen zusammengetrieben und aufgehetzt.

Wir beeilen uns, jene große Felsmauer zu erreichen, von der ich weiß, daß sie diesen 'jenseitigen' Wirklichkeitsbereich von einem eher alltäglichen trennt. Trotz der relativen Dunkelheit kommen wir im Wald gut voran und erreichen bald den hohen Fels. Mit einem ziemlich flauen Gefühl betrete ich die Höhle. Vermutlich ist der Durchgang versperrt! Nach wenigen Metern biegt der Gang scharf nach links. Geradeaus geht es weiter. Dann macht der Weg einen Knick nach rechts und mündet unvermittelt in einen ziemlich großen Felsenraum. Eine Sackgasse! Die Büffel werden uns unter ihren Hufen zermalmen! Verzweifelt suche ich nach einem Ausweg.

Eineinhalb Meter über dem Boden an der linken Felswand entdecke ich eine Einbuchtung, sprinte hinüber, klettere hinauf und krieche ganz nach hinten, damit die anderen noch Platz finden. Schließlich kauern wir zu sechst auf dem Felssims und warten auf die Büffel. Nach gut einer Minute kommen die massigen Tiere laut schnaubend in raschem Tempo hereingestürmt. Schnell drängt sich in der Höhle Leib an Leib. Wir wären zerquetscht worden!

Die warme, stark beissende Ausdünstung der Büffel erfüllt den Raum. Nach bangen Minuten trottet etwa ein Drittel der Herde wieder hinaus. Die verbleibenden Tiere sind aber nach wie vor extrem unruhig. Es ist nicht daran zu denken, zwischen ihnen durchzuschlüpfen oder sie hinauszutrteiben. Und wenn wir in der Höhle bleiben, werden uns die Kannibalen erwischen. Wir hocken in der Falle!

Mit einem Male steigt das Wissen in mir hoch, wie die Tiere dazu gebracht werden können, friedlich hinauszugehen. Auf meine Bitte, mich zum Rand der Felseinbuchtung durchzulassen, machen mir die anderen Platz.
"Nur keine hastigen Bewegungen!" flüstere ich ihnen zu.Die schwarzen Büffel werden trotz unseres Bestrebens, ganz gemächlich die Positionen zu wechseln, unruhiger. Beinahe bricht eine neue Stampede aus. Diese könnte überaus gefährlich werden, denn die in Panik geraten Tiere werden bei ihrer wilden Flucht gegen unsere Plattform anrennen. Die vordersten müßten bei dem Gedränge auf diese "raufspringen". Glücklicherweise geschieht das nicht.

Endlich ist der Rand der Einbuchtung erreicht. Vorsichtig und langsam stehe ich auf und winke sanft die unter dem Sims stehenden Büffel zum Höhlendurchgang hinüber. Zum Erstaunen aller, die wir furchtsam in der Einbuchtung ausharren, befolgen die Tiere dieses Winken. Sie trotten hinaus - Pulk für Pulk. Kurze Zeit danach ist der Höhlenraum beinahe leer. Erleichtert steigen wir von unserem Zufluchtsort hinunter und gehen hinter den letzten Büffeln - den Umständen entsprechend sehr leise und behutsam - durch die Höhle zurück in den Urwald.

In der Zwischenzeit ist es wesentlich dunkler geworden. Dumpf dröhnen Todestrommeln durch den Wald - unheimlich und beängstigend. Von überall her schallt es heran. Die Eingeborenen haben uns eingekreist und werden, da die Büffel nicht mehr in der Höhle sind, die Suche nach uns aufnehmen. Was tun? Hier können wir nicht bleiben. Der Weg zurück wird vom Felsen blockiert. Also bleibt nur die Flucht nach vorne in die Wildnis. Ich nehme all meinen Mut zusammen, husche zwischen den Bäumen hindurch, halte Ausschau nach den Verfolgern und suche angestrengt nach einem Ausweg bzw. nach einem Durchschlupf.

Nichts ist zu sehen. Monoton schlagen die Trommeln. Nein, ich fühle mich nicht besonders gut und versuche - angesichts meines Todes - nicht in Panik zu geraten. Beim Ansichtigwerden einer dichten und offenbar trockenen Dornenhecke kommt mir die Idee, diese als Versteck zu benutzen, abzuwarten und später im dichten Dschungel unterzutauchen. Die Stacheln des Gestrüpps sind gerade noch zu sehen. Pechschwarz und drohend stehen sie von den Ästen ab. Trotz der Verletzungsgefahr krieche ich unter den Busch, schiebe mich ganz hinein und staune, daß dies ohne irgendwelche Kratzer gelingt. Heftig und laut geht mein Atem. Erst nach und nach beruhigt er sich. Angestrengt starre ich in die Nacht hinaus.

Zwei furchterregende Gestalten sind zwischen den mächtigen Bäumen als Umrisse zu sehen. Sie kommen unaufhaltsam näher. Mich durchzuckt blankes Entsetzen, doch versuche ich mich damit zu beruhigen, daß ich mir sage:
"Die kommen ja nicht direkt auf mein Versteck zu und werden deshalb am Dornengestrüpp vorbeigehen."
Doch dann ändern sie ohne ersichtlichen Grund die Richtung - und laufen zielstrebig auf die Hecke zu. Das dichte Gebüsch scheint ihre Aufmerksamkeit erregt zu haben!
"Aber die können mich nicht gesehen haben", versuche ich mich zu beruhigen. "
Und doch laufen die beiden geradewegs zu dieser Stelle.
"Weshalb bloß?"
Am Rande des Gestrüpps bleiben die gespenstigen Wesen stehen, strecken ihre Arme aus, brechen ein paar Äste, stopfen sie in den Mund und verspeisen sie genüßlich.
"Unglaublich! Die fressen geradezu den mit Stacheln vollbesetzten Busch, als wären sie süchtig nach dem Zeugs. Und das ohne schwerwiegende Verletzungen."
Im Nu ist die Hälfte des Gestrüpps verschlungen. Es wird nicht mehr lange dauern, und die wohlig vor sich hin schmatzenden Kerle werden und müssen mich sehen. Meine Lage wird zusehends ungemütlich.Da schießt mir der Gedanke durch den Kopf:
"Diese Wilden sind wohl ziemlich abergläubisch. Das ist meine Chance!"
Leise rapple ich mich hoch und stehe halb auf. Ein letzter Ruck und ein schauerliches Geräusch, das meiner Kehle entfährt - und schon rage ich aus dem kläglichen Rest des Busches, recke meine Arme und packe unsanft die beiden Kannibalen.

Die beiden erschrecken zutiefst, erstarren und glotzen mit weitaufgerissenen Augen in den lebendig gewordenen Dornenbusch. Der Schreck muß gewaltig sein, denn mit einem Male - das spüre ich überdeutlich - ist ihre ursprüngliche Absicht, mich gefangennehmen zu wollen, verflogen. Von diesem Moment an werde ich akzeptiert.

In Windeseile und auf mysteriöse Weise verbreitet sich die Nachricht der Begegnung. Aus allen Richtungen kommen die Kannibalen gelaufen. - Ein langes Palaver beginnt. Wie sich die Ansammlung auflöst, bleibt eine Eingeborene zurück. Wie ich sie sehe, erinnere ich mich blitzartig an das Ergebnis dieser Reden: Diese Frau wurde vom Rat dazu bestimmt, mit mir zusammenzuleben. Durch die Verbindung soll sich das Verhältnis zwischen mir, dem Fremden, und den Bewohnern dieser Welt endgültig zum Positiven wenden. Das ist der unumstößliche und für uns beide absolut verbindliche Wille der Dschungelbewohner. - So nimmt mich die Frau in ihre Hütte!

Es ist mir, als würde die Frau nach ungewöhnlich kurzer Zeit ein Kind gebären! Wahrscheinlich aber ist mir jedes Gefühl für einen normalen Zeitablauf abhanden gekommen. Das Neugeborene ist sichtbarer Ausdruck der Verbindung zwischen mir und den Eingeborenen - und deswegen sehr bedeutend. Trotz seiner außergewöhnlichen Kleinheit von gut 15 Zentimetern ist es lebensfähig. Nach der Geburt geht die Mutter, ohne sich weiter um das Baby zu kümmern, mit den anderen Eingeborenen einfach weg - hinaus in den Dschungel.

Ziemlich verdutzt bleibe ich zurück - in den Armen ein Kind, das in ein primitiv gewobenes Tuch gewickelt ist. Das winzige Wesen ist meiner alleinigen Obhut anvertraut! Beim genaueren Hinsehen spüre ich eine tiefe und liebevolle Empfindung für das Kleine. Es ist mir unbegreiflich, was da geschieht. Wurde ich etwa deshalb allein mit dem Kind zurückgelassen, weil ich es auf die andere Seite der Felsmauer, ins 'Diesseits', mithinüberzunehmen habe? In eine Welt, in welche die Eingeborenen nicht hineingehen können und hineingehen wollen? Aber womit soll ich das gut daumengroße Wesen ernähren?

Mir bleibt nichts anderes übrig, als zum Felsen zu laufen und damit zu jenem Durchgang, der nunmehr - dessen bin ich mir gewiß - offensteht. Später zeigt es sich, daß die Höhle tatsächlich passierbar ist. Die Kannibalen haben sie geöffnet. Wie sie das getan haben, ist mir schleierhaft.

Die Rückkehr entwickelt sich zu einer ziemlich dramatischen Angelegenheit, denn plötzlich lodert ein Buschbrand auf, der sich rasend schnell ausbreitet. Und das in einem Regenwald! Mir ist das unerklärlich. Brüllend faucht das Feuer hinter mir hoch, als ich mit dem Kind davonrenne. (Anm.2) Noch vor dem Felsen sehe ich die anderen Gruppenmitglieder, die nun ebenfalls in Eile versuchen, die neugeschaffene Passage zu erreichen.

Ich glaube allerdings nicht, daß die Felsmauer die gewaltige Lohe daran hindern wird, auf die andere Seite überzugreifen. Tatsächlich stehen dort - der Pflanzenwuchs ist hier ein völlig anderer - bereits die ersten Bäume und Büsche lichterloh in Flammen. Uns ist sofort klar, daß wir auch auf dieser Seite dem Feuertode nicht entrinnen werden - egal wie sehr wir uns anstrengen und wie schnell wir rennen.

Da - ein warmer Tropfen klatscht auf meine Wange. Unmöglich! Ein zweiter! Kein Zweifel! Ein heftiger Sommerregen setzt ein - derart stark, daß er die Flammen erstickt. Das vom Himmel strömende Naß ist ein Genuß und eine wahre Freude, für das Kleine, für mich und für die anderen. Wir sind gerettet und gehen auf einem etwa fünf Meter breiten Naturweg bis zu einer Missionsstation! Nach einigen hundert Metern haben wir sie erreicht. Sie steht in einer Lichtung unten rechts am Wege und besteht aus einer Kirche und zwei anderen Gebäuden. Die Kirche brennt - und zwar von innen heraus! Auf eine mir völlig unverständliche Weise sind die Flammen bis hierhin gelangt! Sofort ahne ich die Bedeutung dieses Geschehens - das Feuer galt allein der Kirche.

Alle außer mir gehen zu den Missionsgebäuden zurück und schließen sich der Gemeinschaft wieder an. Von der Straße aus winke ich den Missionaren und den ehemaligen Kollegen zu und verabschiede mich damit von ihnen - für immer. Von diesem Moment an bin ich auch auf dieser Seite allein auf mich gestellt und laufe - das Kind an meiner Brust - durch eine menschenleere Gegend bis zu einem größeren Dorf.

Es ist höchste Zeit, das Baby hygienisch und ernährungsmäßig zu versorgen. Bald ist eine Kleinkinderstation gefunden. Freundlicherweise ist eine der Frauen damit einverstanden, dem Baby Windeln anzugelegen. Ich schaue ganz genau hin, denn in Zukunft werde ich es selbst wickeln müssen.

Als das Kleine aber zusätzlich noch "steril" verpackt wird - d.h. in Plastik eingeschlagen, dann in ein steriles Tuch und nochmals in einen Plastik - weigere ich mich und nehme das Zeugs zum Entsetzen der Kinderschwester sofort weg.
"Alle Kleinkinder werden in unserer zivilisierten Gesellschaft auf diese Weise versorgt", zetert die Frau.
"Aber nicht meines!" sage ich. " Ich weigere mich, da mitzumachen. - Das Baby muß einen möglichst engen Kontakt zu mir haben!"
Ein großes Lamento beginnt, da mein Tun einem Sakrileg gleichkommt. Ich schere mich einen Deut darum. Sollen die mir doch den Buckel runterrutschen!

Bevor die Schwester Alarm schlagen und die Leute zusammentrommeln kann, gehe ich aus dem Gebäude und beeile mich, außer Reichweite der herbeigerufenen Gesetzeshüter zu kommen. Ich bin fest davon überzeugt, daß das Kind den körperlichen Kontakt braucht. Nie würde ich es deshalb sozusagen steril verpacken oder, wie es hier üblich ist, in einen Kinderwagen legen und vor mir herschieben!

Mit dem Kind ziehe ich mich ganz an den Rand des bewohnten Gebietes zurück und lebe von nun an in aller Abgeschiedenheit in einer von der Gesellschaft vergessenen Hütte. Hier löst sich das Problem mit der Ernährung irgendwie ganz von alleine. Ich kann das Kind in aller Ruhe aufziehen und in der folgenden Zeit mit großer Freude zusehen, wie es heranwächst.

Es ist ein wirklich liebes Kind - aber es ist auch irgendwie fremd, nicht nur wegen seiner Kleinheit. Nicht für mich, sondern für diese Welt - obwohl es ein Teil dieser Welt ist, denn schließlich bin ich der Vater. Meine Beziehung zu ihm ist sehr gut, wir verstehen uns prächtig.

Wie es etwa vier Jahre alt ist, kommt eines Tages ein älterer Mann. Er hat den offiziellen Auftrag, das Kind zu untersuchen und herauszufinden, wie viele "Antikörper" das Kind von sich aus zu bilden vermag. Das Resultat ergibt überdurchschnittlich hohe Werte. Das läßt sich sogar optisch in Form einer grobkörnigen Masse sichtbar machen. Bei einem Vergleich mit den Normalwerten zeigt es sich, daß die Antikörper meines Kindes kompakter, heller und vor allem in wesentlich höherer Anzahl vorhanden sind. Praktisch bedeutet dies, daß mein Kind nicht wie vorgeschrieben in absoluter Sterilität aufgezogen wurde - ein schwerwiegendes Sakrileg.

"Wichtiger als jede Sterilität und Abgeschirmtheit ist der enge Kontakt mit dem heranwachsenden Kind ", betone ich.
Der Mann wird echt gehäßig und tobt: "Ihr Kind ist nicht normal! Sie müssen es weggeben!"
Ich denke: "Aha, das Kleine soll normalisiert werden!" und sage: "Nein, sie bekommen es nicht!"

Meine Weigerung erbost den Mann vollends, aber es gibt - zu meiner großen Erleichterung - für den Vertreter des Gesetzes keine Möglichkeit, mir das Kind gewaltsam wegzunehmen.

Der wütende Mann beginnt zu drohen: "Wir werden Ihr Haus an der Grenze von modernsten Flugzeugen bombardieren lassen!"

Er meint das Haus, das ich früher bewohnt habe und das einen gewissen Wert darstellt, nicht diese armselige Hütte.

Zur totalen Verblüffung des Mannes sage ich emotionslos: "Es ist mir völlig egal, was mit dem Haus geschieht."

Im Gegensatz zu ihm und der Gesellschaft, die er vertritt, bedeutet mir toter Besitz nichts. Seit Jahren bin ich deshalb nicht mehr auf das Gebäude und den aktuellen und potentiellen Reichtum, den es darstellt, angewiesen. Mir ist nur das Kind als lebendiges Wesen wichtig. Nur es und die Liebe zwischen uns zählt. Unter keinen Umständen würde ich es weggeben - nicht für allen Besitz und alles Ansehen dieser Welt - und schon gar nicht für eine 'Umerziehung'. So wächst das Kleine weiterhin bei mir heran, und der Mann muß unverrichteter Dinge abziehen!

Dieses Geschehen dokumentiert in geraffter Form meine Auseinandersetzung mit der Anderwelt, dem sogenannten Unbewußten - und damit auch mit der Tiefenpsychologie. Mein Verhältnis zu diesen Bereichen ist nicht ganz unproblematisch gewesen - trotz oder gerade wegen der Schulanalyse. Es ist mir erst nach Jahren gelungen, mich von den eher missionarisch zu nennenden Annäherungsversuchen an das Unbewußte zu distanzieren und den Weg der Luzidität zu gehen und die damit gegebene Verantwortung zu akzeptieren.

Für mich war es, um wirklich mit der anderen Seite in Kontakt zu kommen, unerläßlich, daß ich mich bewußt dafür entschied, in einem Traumgeschehen zu verbleiben. Aufgrund dieser Bereitschaft und meiner sich aus der Luzidität ergebenden Verhaltensweise wurde von den anderweltlichen Wesen - wie das die Erfahrung vom 13. Januar 1981 zeigt - beschlossen, daß ich mit einer der ihren zusammenlebe und mit ihr ein Kind zeuge. Dann hatte ich - mit dem Kind - wieder in die "Alltagswelt" zurückzukehren, wo es galt, nicht alles in ein Schema einzugliedern, steril zu verpacken und vom Leben abzuschotten.

Bei mir hat sich die Bewußtheit im Traum, d.h. die Luzidität, als die eigentliche Crux erwiesen, aufgrund deren es zu Konflikten mit Vertretern der Komplexen Psychologie gekommen ist. Rückblickend gesehen, haben sie es sich wohl ein bißchen zu einfach gemacht, wenn sie Ich-Bewußtheit im Traum als überaus seltenes Ereignis oder als Ausdruck uneingestandener Schattenaspekte bezeichneten - oder sie einfach stillschweigend übergingen und mein Beharren auf dieser Möglichkeit als Widerstand titulierten.

Die luziden Träume hatten mich gelehrt, daß es Dinge gibt, die sich nicht in irgendwelche theorie- und gesellschaftskonformen Konzepte einwickeln lassen. Die Weigerung, dies zu tun, hat mich an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Das Kind konnte sich dabei allerdings prächtig entwickelt!

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Anmerkungen

Anm.1: Die Enge ist eine Parallele zum Symplegaden-(= Klappfelsen-) Motiv "Nun gelangt er in eine enge Wegstrecke, auf der er nicht mehr vorausschauen kann; denn am anderen Ende dieses Abschnittes 'schlugen die Wände des Ganges in gleichmäßigen Zeitspannen mit gewaltigem Krachen zusammen; doch als er sich ihnen näherte, hielten sie sich auseinander, bis er hindurch war'." (Heino Gehrts, Das Symplegaden-Motiv S. 15) - vom Autor zuWeihnachten 1982 erhaltenes Manuskript)
Anm.1 Ende - zurück zum Text

Anm.2: Vgl. hierzu:Heino Gehrts Das Symplegadenmotiv S. 22: Maui kann "die Federn (der Taube) bei dem Ruckflug nicht wieder aufnehmen kann, diesmal, weil das Feuer der Unterwelt sich nach dem Raube und einer Brandstiftung Mauis rasend ausbreitet." Zudem ist zu beachten, dass der Fels bzw. der Höhlendurchgang eine Art Symplegadenmotiv repräsentiert! Und: "Daß ... der Schamane wie Maui in Vogelgestalt in die andere Welt fliegt und dort eine Kostbarkeit gewinnt, ist ein weitverbreiteter Zug" (S. 22). Hier ist die Kostbarkeit eben das Kind.
Anm.2 Ende - zurück zum Text


Literaturverzeichnis

Castaneda, Carlos Die Kunst des Träumens. Frankfurt a.M.: S.Fischer, 1994:51
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