Vereinigung differenziert Werner Zurfluh |
Erstmals veröffentlicht in: Die Märchenzeitschrift Nr. 6 1993 - 2. erw. Aufl. 1996 im HTML-Format |
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Liebe durchglüht den
Kosmos. Ein Ausdruck dieses wundervollen Geschehens ist die Vereinigung der
Geschlechter. Wenn allerdings das Herz zum Schweigen gebracht wurde, weil der "Kopf"
meinte, sich vom Rest des "Körpers" abtrennen zu müssen,
verselbständigen sich die "Triebe". Sie reißen die
Vorherrschaft an sich - oder versuchen es zumindest und lauern stets im
Hintergrund auf ein Nachlassen der Wachsamkeit des "Kopfes". Die der
Vereinigung innewohnende Möglichkeit des gegenseitigen Erkennens ist damit
vernichtet. Was bleibt, ist eine einseitig auf körperliche und geschäftseinträgliche
Vorgänge beschränkte Sexualität.
Manche Psychologen betrachten das "luzide Träumen"
als nicht ganz ungefährlich und warnen sogar davor, bewußt in das nächtliche
Geschehen hineinzugehen. Es sei aus diesem Grunde klar festgehalten, daß
es keineswegs darum geht, Träume unmittelbar zu überwachen und nach
eigenem Gutdünken zu beeinflussen. Zwar kann ein Eingreifen des Bewußtsein
unter Umständen notwendig sein, etwa um eine aggressive Traumgestalt zu
einem Gespräch zu bewegen. Wenn allerdings das (bewußte) Ich als Ego
meint, dominieren zu müssen und glaubt, beliebig schalten und walten zu dürfen,
weil es ja "nur ein Traum" ist, wird die Reise in die Anderwelt
scheitern. - Tatsächlich ist die Angelegenheit wegen der Möglichkeit
zu sexuellen Beziehungen (auch) im "außerkörperlichen Zustand"
ziemlich kompliziert, läßt sich jedoch nicht dadurch aus der Welt
schaffen, indem dem Menschen Bewußtheit abgesprochen wird. Gerade die
Sexualität ist auf allen Ebenen eine große Herausforderung und
bietet Gelegenheit zum Durchbruch zu einer bewußten und wahren Liebe. Es wäre
sogar leichtfertig, alles einem "inneren Regisseur" zuzuschreiben und
der Luzidität zu entraten.
Vordergründig mag ja am
luziden Träumen am meisten die Möglichkeit der Erfüllung eigener
Wünsche (Sex, Macht, Magie, Abenteuer) faszinieren. Dazu hat Stephen
LaBerge in "Lucid Dreaming - The Power of Being Awake and Aware in your
Dream" geschrieben:
"Nach zu vielen Träumen der
Wunscherfüllung, in denen die Handlungen von mit dem Ich verbundenen
Trieben, Leidenschaften, Wünschen, Erwartungen und uns ach so vertrauten
Zielen geleitet sind, wird eine Sättigung erreicht. Luzid Träumende
werden müde, Nacht für Nacht ähnlich zu träumen und ebenso,
immer derselbe zu sein. An diesem Punkt kann das Bedürfnis nach
Selbst-Transzendenz entstehen. Von da an wissen die Betreffenden nicht mehr
genau, was sie wollen, sondern lediglich, daß es nicht das ist, was sie für
gewöhnlich anstreben. Also hören sie auf, im Traum
bewußt zu entscheiden und lassen die bewußte Traumbeeinflussung
sein."
(Anm.1)
Für mich
war es dank der Kontinuität des Bewußtseins im sogenannten
Traumzustand stets relativ leicht, auch die eigenen sexuellen Wünsche zu
realisieren - allerdings mit dem Resultat, daß ich die Bewußtheit
im Verlaufe der "außerkörperlichen Exkursionen in
anderweltliche Gefilde" während des Beischlafs verlor! Ich mußte
deshalb einsehen, daß es unbedingt notwendig ist, nicht stur den eigenen
Neigungen zu folgen und einfach zu meinen, die "Traumszenerie" könne
beliebig zur Befriedigung der eigenen sexuellen (und anderer)
Wunschvorstellungen benutzt werden. Wer dies tut, lernt zwar, daß es
weder Traumentstellung noch Traumzensur gibt, entbindet sich jedoch seiner persönlichen
Verantwortung, verpaßt die Gelegenheit zur Einswerdung und mißachtet
die Tatsache, daß Sexualität als verbindende Kraft Seele und Geist
miteinschließt!
Le Château Merveil
17. Januar 1979:
.
Nach dem Einschlafen gerate ich merkwürdigerweise sofort in ein "sexuelles Feld", an welchem auch meine Frau beteiligt ist. Der Beischlaf ist hier selbstverständlich, aber nicht Hauptsache. Zarte Berührungen wechseln ab mit gegenseitigem Anschmiegen und Reiben, Liebkosen und innigem Küssen. Ich fühle mich - gelinde gesagt - nicht unwohl bei diesem Treiben, das zeitlos scheint! Vor allem wegen der sehr befriedigenden Sinnesempfindungen verspüre ich keinerlei Lust, damit aufzuhören. Es fällt mir ungemein leicht, im Geschehen zu verbleiben. Der andauernde Wechsel der mir unbekannten und sehr hübschen Frauen ist anregend. Zwischenhinein komme ich zwar "zur Besinnung", doch diese Momente lasse ich zumeist verstreichen, denn - was soll's? Was könnte ich sonst tun? Das Geschehen stellt mich vollauf zufrieden. Keine mühsame Arbeitsleistung in Richtung Bewußtwerdung ist gefordert. Stets tauchen andere, sehr reizvolle Frauen auf. Es genügt der bloße Gedanke - oder die konzentrierte Betrachtung eines Bildes. - Sanft verklingt die Erinnerung und leise dämmert das Vergessen.
Ich werde mir bei all den Freuden aber derart der Situation und ihrer hervorragenden Vorzüge bewußt, daß ganz am Rande - für mich kaum faßbar - eine andere Erinnerung aufglimmt. Nämlich die Erinnerung daran, daß mich an diesem Ort langsam ein ewiges Vergessen aufzusaugen droht! Aus irgendwelchen Gründen scheint es mir nicht fair, mich einfach diesem Entschweben zu überlassen. Was für Gründe das sein mögen, weiß ich nicht, weil ich mich zunächst nicht an sie erinnern kann. Trotzdem ist mir klar, daß es nicht richtig sein kann, hier auf immer zu verweilen. Das beunruhigt mich zusehends! Ich bekomme sogar ein schlechtes Gewissen. Das allerdings hat sofort Auswirkungen auf das Geschehen. Es wird irgendwie "harziger". Mit den Frauen will es nicht mehr so recht klappen, denn die Bildbelebungen funktionieren nicht reibungslos und die Begegnungen verblassen. Das allerdings hat einen positiven Rückkoppelungseffekt auf das Erinnerungsvermögen. Und dies wiederum vergrößert mein schlechtes Gewissen. Es braucht meinerseits noch mehr Anstrengungen, um die Situation zu "halten". Aber genau dieses Eingreifen verfälscht sie zusehends. Dies hat zur Folge, daß ich mich noch genauer erinnere und meine Unruhe weiter zunimmt.
Trotzdem gelingt es relativ lange, zur "alten" Situation zurückzukehren. Aber dann merke ich endlich, daß ich mich aktiv zu entscheiden habe! Soll ich nun hierbleiben und alles andere vergessen? Oder soll ich gehen und mich wieder erinnern! Die Entscheidung fällt mir unsagbar schwer, denn ich werde einen wahrhaft paradiesischen Zustand verlassen und hinaus in eine unbekannte Welt voller unvorhersehbarer Ereignisse gehen müssen. Von einer "Geborgenheit" kann draußen bestimmt keine Rede sein, denn in der anderen Welt jenseits dieser Gefilde wird es ganz andere Dinge geben als diese Art von Eros, in den ich mich nun während Stunden habe einspinnen und einlullen lassen. Oder wie lange war's denn eigentlich? Waren es Tage, Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte?
Mit Tränen in den Augen, schmerzdurchflutet und voller Pein beschließe ich endlich, aus dem seligen Geschehen auszusteigen. Dabei - und das ist besonders interessant - hilft mir die Erinnerung an meine geliebte Gattin. Sie ist als Frau doch eigentlich diejenige, der meine Zuneigung in hervorragendem Masse gilt - auch auf der körperlich-sexuellen Ebene. Wir haben uns ein Recht auf Ausschließlichkeit der körperlichen Verbindung im Eheversprechen gegeben! - Gerade diese Erinnerung ist für mich eine gewaltige Hilfe beim Ausstieg. Ich erkenne hier ein erstes Mal klar, was Ehe eigentlich meint und bedeutet.
Es ist die Ehe (in irgendeiner Form, also auch in der nicht institutionalisierten), welche die Erinnerung an das Andere und damit die Verantwortung weckt, weil sie Sexualität auf einen einzigen Partner fokussiert und damit eine Beziehung überhaupt erst zur Entfaltung bringt. Gerade diese Konzentrierung wirkt über Zeiten und Räume hinweg und damit über das rein Physische hinaus. Körperliche Sexualität sieht sich in Form der Ehe auf einen einzigen Partner in der materiellen Welt beschränkt. Diese Beschränkung ist freiwillig und wirkt sich auf alle Ebenen aus - auch auf die seelisch-geistigen - und sie erlaubt ein "vertikales Durchziehen" der monogamen Ehe auf andere Erfahrungsebenen. Dadurch wird jenseits des Alltaglebens im "Traumerfahrungsbereich" das Erinnerungsvermögen merklich gestärkt, was eben Auswirkungen auf die Aufrechterhaltung der Kontinuität des Ich-Bewußtseins und damit der Luzidität hat. Das ist ein höchst interessanter Aspekt der Ehe - denke ich mir. Promiskuität wäre dann gleichbedeutend mit Vergessen, Ehe mit Erinnern, Liebe mit Erkenntnis! - Scheitert Parcival, so überlege ich weiter, etwa deswegen, weil er die Ehe nicht eingegangen ist? Er mußte doch von der Erde gehen, ohne den Gral mit der Alltags-Welt verbinden zu können, schien also ein wesentliches Pfand nicht beigebracht zu haben. Etwa das in Form des Ehe-Ringes? Hätte ihm nicht gerade solch ein Ring ein "Invarianzfaktor" und damit ein Verbindungsfaktor sein können? Wie beispielsweise der Quarz es gewissen Schamanen ermöglicht, sich auf ihrer Fahrt in die Ober- und Unterwelt zu erinnern und damit bewußtseinskontinuierlich zu bleiben. - Es scheint eben nicht zu genügen, bloß das Château Merveil zu verlassen, es gilt auch, die daraus sich ergebenden Konsequenzen zu ziehen und unter Umständen eine Ehe einzugehen und der Ehefrau die Treue zu wahren!
Deshalb steige ich aus, was in diesem konkreten und damit typischen Falle bedeutet, daß ich wieder im Bett erwache und dabei luzid bleibe. Jetzt bin ich eben bewußt im physischen Leib und damit im Alltag!
Das vorsätzliche Hinabsteigen
Das eben beschriebene Erlebnis hängt
mit dem Château Merveil des Grünen Ritters und den Galanterien jener
Gefilde zusammen. Damit hat es folgende Bewandtnis:
In einer
Silvesternacht kam der Grüne Ritter, ein schreckerregender und
riesengestaltiger Mann, an die Tafelrunde gezogen und forderte die Anwesenden
zu deren Entsetzen auf, ihm den Kopf abzuschlagen! Unter all den Rittern war
Gawan der einzige, der es wagte, der unheimlichen Herausforderung Folge zu
leisten. - Der Grüne Ritter, der den abgeschlagenen Kopf unter dem Arm
tragen und ihn mühelos wieder an die rechte Stelle setzen konnte, hatte König
Artus' mutigem Neffen allerdings zuvor das Versprechen abgenommen, sich übers
Jahr in der Grünen Kapelle einzufinden.
Gawan löste sein Versprechen ein und gelangte bei
seiner Suchfahrt zu einem Schloß, dem Château Merveil, in dem es
galante Abenteuer zu bestehen galt. (Anm.2)
Dieses Château Merveil ist eine gar wunderliche Burg.
Sie hat möglicherweise mit dem "Kastell der Korkeichen", "Kalaat-el-Ballut"
(Caltabellotta) auf Sizilien
(Anm.3) zu tun, das Wolfram von
Eschenbach in der Parcival-Geschichte (XIII/913) "Kalot- Embolot"
nennt. Dort hielt der Zauberer Klinschor über 400 Frauen gefangen. Auf der
Burg geschah Okkultes, die Frau wurde prostituiert und das Hellsehen mißbraucht.
Dies alles hängt mit der Bewußtwerdung und der Kontinuität des
Ich- Bewußtseins zusammen und ist ein Problem der Macht und des Machtmißbrauchs.
Der Grüne Ritter ist - nach Heinrich Zimmer - niemand
anderer als der "Schnitter Tod", dessen berückend schöne
Frau den Pokal der Lust reicht und - wie Mârâs liebreizende Töchter
- zum alles vergessenden Genuß verführt. (Anm.4)
Wenn ein lebendiges Gebilde sich
seiner Wurzeln beraubt, weil es sie willkürlich abschneidet, dann fehlt
die Rückverbindung zur eigenen Existenzgrundlage in einer
partnerschaftlichen Umgebung. Die Lockungen des Lebens, die den Menschen
umringen und umstürmen, stürzen ihn unter Umständen in ein total
egozentrisches Vergessen, denn ein Geschehen wie das auf dem Venusberg ist -
wie die Erfahrung vom 17. Januar 1979 zeigt - wirklich sehr reizvoll und
anmutig - und deshalb äußerst verführerisch. Wer sich dem
lustvollen Tun allzu willfährig überläßt, droht "einzuschlafen"
und damit das Gedächtnis zu verlieren - im wahrsten Sinne des Wortes. Das
Leben in einer partnerschaftlichen Gemeinschaft muß in der Folge verarmen
und verdorren. Daß auch meine Gattin bei dieser nächtlichen Fahrt
mitbeteiligt gewesen, zeigt, daß für die Frau prinzipiell dieselbe
Gefahr besteht.
Jene, die für immer im Schloß der Wunder
verweilen, können durchaus gefahrlos, beglückt und voller
Zufriedenheit darin leben. Da sie aber alles andere nach und nach vergessen,
sind mit der Zeit keine Vergleichsmöglichkeiten mehr da, die es erlauben würden,
das Wunderbare als solches überhaupt zu erkennen. Das Leben im "Venusberg"
ist dann ganz selbstverständlich weder schrecklich noch unangenehm und
weder gut noch böse. Es gibt keinerlei Verpflichtungen und nicht die
geringste Verantwortung lastet. Ein wahrhaft unbeschwertes und naives Geplänkel
findet in aller Unschuld und fern jeder Zeit statt! Es ist ein
neugierig-unverbindliches Betasten und Berühren, ein wohliges
Aneinander-Reiben und inniges Sich-Vereinen! Ein Sich-Freuen an berückend-belangloser
Schönheit, an verwehenden Düften und Wohlgerüchen. Alles wird
umhüllt von sanft-schummrigem Licht. Prächtigste Farben und Formen
erquicken das Auge! Trüblos ist die Freude, ausschweifend die Glückseligkeit,
unbeschreiblich der ästhetische Genuß! Was will man und frau mehr?
Es ist ein Leichtes, die eigenen Wünsche und Vorstellungen umgehend zu
realisieren (das Problem der Ideoplastie als einer okkulten Praxis sei hiermit
angedeutet) - bis hin zur Ermattung in der Selbstvergessenheit, die kein Du
mehr erinnert!
Ist eine solche Glückseligkeit nicht genug? Das
ist eine wahrhaft "harte Frage"? Gibt es tatsächlich einen
Grund, sich nicht mit dieser kontur- und schattenlosen Zufriedenheit
abzufinden? Ist es überhaupt erstrebenswert und notwendig, eine
eleusinische und paradiesische Welt zu verlassen? Oder täuscht sich der
Mensch, wenn er glaubt, bloß deshalb unbefleckt zu sein, weil er mühelos
in einer Welt ohne Intrige und Bosheit lebt, in der weder Arroganz noch Macht
sichtbar werden? Ist Unschuld einfach deswegen gewährleistet, weil einer
Entscheidung aus dem Weg gegangen wird? Wohl kaum!
Wird die Kontinuität
des Ich-Bewußtseins, die Bewußtheit, als Teil des Schöpfungsgeschehens
angenommen und zugelassen, wird das Wissen um die "Gegensätze"
lebendig und als Herausforderung akut. Weigert sich der Mensch allerdings, das
enge Tor in die Welt hinaus zu durchschreiten, bleibt er für alle Ewigkeit
sozusagen im Mutterschoß eingeklemmt. Er verharrt in einem schöpfungs-
und begegnungslosen Raum und bleibt in der Ereignislosigkeit stecken! "Das
Schloß der Frauen", das Château Merveil, ist also (auch von
der Frau) wieder freiwillig zu verlassen, denn sonst wird es zu einem
selbstgemauerten Gefängnis. Das Hinausgehen ist für den Menschen
gleichbedeutend mit einer Geburt in die Welt und den Schöpfungsprozeß
hinein - aber das ist der Preis für seine definitive Bewußtwerdung
und die Beibehaltung der Bewußtheit! Ich frage mich allerdings, ob Bewußtheit
diesen Preis rechtfertigt. Eine Antwort darauf kann nur die Erinnerung geben -
diese allerdings erfordert wiederum Bewußtheit. Gesellt sich zur
Erinnerung Bewußtseinsklarheit, öffnet sich ein ansonsten bloß
kreisartig verlaufendes Geschehen zur Spirale, bei dem neben der persönlichen
Erinnerung auch das Menschheits-Gedächtnis aufdämmert. Es läßt
sich nichts mehr verdrängen, sonst bleiben Bewußtheit und Erinnerung
bloß partiell und damit bruchstückhaft. - Geburt erweist sich
allemal als ein schwieriges Unterfangen!
Neben den Wundern des Château
Merveil wird in der Erinnerung beispielsweise auch die Frage nach der "Wunde
des Amfortas" auftauchen und damit die Frage nach dem Mitleid. Denn die
bloße Neigung hin zur Vereinigung genügt nicht. Lieben heißt
eben mehr als bloß "in Vereinigung schwelgen", sondern heißt
- wie Pierre Teilhard de Chardin sagt - "sich selbst in
einem anderen wiederfinden und vollenden".
(Anm.5)
Das liebende Erfragen
Es war mir am 17. Januar bereits während
des wonnevollen Geschehens klar, daß ein Platz des Vergessens kein Ort
des Verweilens sein darf, weil er früher oder später von
Lieblosigkeit und Erbarmungslosigkeit überschatten wird und nur unter
Anwendung brutalster Macht als Besitztum beibehalten werden kann! So konnte es
also nicht gehen, denn es wäre verantwortungslos und unmenschlich
gehandelt, in Isolation und Abkapselung zu verharren. Andere Menschen bleiben
derweil draußen in der Welt schändlich ihrer Qual und ihrem Leiden überlassen.
Wer die Frage nach dem Befinden der Mitgeschöpfe nicht stellt, verdammt
sie zur Geschichtslosigkeit! Eine Kommunikation wird verweigert, ein Teilen
verwehrt, jede Form von Zuwendung ausgeschlossen! Nur auf diese Weise läßt
sich der eigene Zustand in aller Selbstzufriedenheit beibehalten. Erlösung
ist nur noch Selbstzweck. Ohne Mitleid kommt es zur Entfremdung von den
Mitgeschöpfen und zur Einengung und Vereinsamung! Bedingungslose Liebe
wird nicht gewährt, ein umfassendes Wissen um die personale Existenz des
Partners abgelehnt. Zuwendung und gegenseitige Sensibilisierung durch die Liebe
und mit der Liebe sind abgestorben. Ohne Liebe, d.h. ohne wechselseitige
Anziehung, wird der Mensch dem kosmischen Fühlen und Sehnen entfremdet. Er
stürzt in die Beziehungslosigkeit hinein und damit in Finsternis, Kälte
und Unwissenheit.
Erotik auf einer bloß selbstbezüglichen
und damit egoistischen Stufe erfordert das totale Vergessen! Denn nur durch das
Vergessen der durch die Sexualität (und damit den Beischlaf) möglich
werdenden Wechselwirkungen läßt sich ein erinnerungsloser Zustand
absolut setzen. Ein derartiger "Verlust" des Gedächtnisses ist
eine höchst aktive Leistung, die, wie jeder Verdrängungsvorgang, viel
Energie erfordert. So etwas kann nur "wider besseren Wissens" und
damit "wider den Geist" geschehen. Die durch die Liebe angestrebte
Einung auf allen Ebenen (horizontal) und durch alle Ebenen hindurch (vertikal)
wird bewußt verhindert. Manchmal sogar deswegen, weil die materielle Ebene
absolut gesetzt und das Sexuelle ausschließlich zu einem arterhaltender
Faktor gemacht wird.
Gerade wegen der physischen Komponente ist es für
die Liebe ein Leichtes, offen für die seelisch-geistigen Dimensionen des
Partners mitsamt all seinen Erinnerungen zu bleiben. Dazu gehört auch das Älterwerden
des Leibes. Die Liebe hat stets die Kraft, das bloß Sexuell-Körperliche
zu transzendieren und das Spirituelle miteinzuschließen.
Mir fiel es auf der "Insel der Frauen" (eine
Art "Reich der Mütter" und damit ein Mutterschoß, aber
auch ein Reich ewiger Jugend und Stagnation) außerordentlich schwer, dem
Vergessen und der Unverbindlichkeit der Beziehungen eine klare Absage zu
erteilen und mich für die Erinnerung (und damit die Kontinuität des
Ich- Bewußtseins und das Wissen) zu entscheiden. Ich ging zwar bewußt
aus der Sache, erlag also der lockenden Versuchung des ewigen Vergessens bzw.
des selektiven "Erinnern- Wollens" nicht. Eine wesentliche Frage blieb
trotzdem unbeantwortet! Was eigentlich bringt das "Hinuntersteigen"
vom Venusberg außer Leiden und Schmerzen? - Eine Antwort darauf kann
wieder nur die Liebe geben!
Das Mysterium des
Absterbens der vergänglichen Individualität, die sich aus "Lust
und Furcht zusammensetzt" (Anm.6),
beinhaltet offensichtlich auch die Frage nach der Bereitschaft der Zulassung
von Erinnerungen. Der Schatz des ewigen Lebens birgt Gedächtnisinhalte,
welche sowohl die Welt des Alltags wie auch andere Reiche umfassen. Diese
werden allerdings von Furcht oder Lust hinweggefegt. Die jeweils andere Welt
wird im Reigen egoistischen Bestrebens vergessen! Im Alltag mag dann die
Erinnerung an die nächtlichen Fahrten verschüttet sein, im Reich
jenseits der Schwelle ist es die Welt des Alltags, die vom Vergessen zugedeckt
bleibt. Wenn jedoch drüben das Hüben und hüben das Drüben für
das Gedächtnis verloren ist, gibt es keine bewußte Wiedergeburt,
denn dem "Wieder" fehlt die Erinnerung an das jeweils Andere. Und
genau das trifft auch auf jenes sexuelle Geschehen zu, das nicht dem
gegenseitigen Erkennen dient, sondern einzig persönliche Befriedigung
(oder Arterhaltung) zum Ziel hat. Wenn im Sexualakt nicht das Be-Frieden zweier
zuvor getrennt gewesener Wesenheiten in mystischem Einssein zugelassen, sondern
die Ausnutzung des Anderen zum Zweck egoistischer Luststeigerung angestrebt
wird, verblaßt das Mysterium der Sexualität zur Belanglosigkeit. Wer
sich der Erinnerung verweigert, obwohl ein Sich-Erinnern möglich wäre,
macht sich schuldig.
Begegnen sich hingegen zwei unterschiedliche, vom Band der Liebe
umflossene Wesen, werden diese verknüpft, verbunden und vereint. Die zuvor
getrennt gewesenen Systeme brechen auf wunderbare Weise füreinander auf
und wachsen zu einem neuen Gebilde zusammen, dessen qualitative Eigenschaften
weder vorhersehbar noch berechenbar sind. Manchmal entsteht daraus als
Leibesfrucht ein Kind - gewissermaßen als äußerlicher Ausdruck
des Geschehens und als biologische Vergegenwärtigung des
seelisch-geistigen Ereignisses. Manche brauchen wohl diese "Materialisierung",
um wenigstens am Rande zu erahnen, was Liebe bewirkt. Liebe läßt
gerade durch die Sexualität die materielle Ebene aufleuchten und macht sie
durchscheinend. Die Ebenen werden füreinander durchlässig. Sie werden
von Licht (und damit von Bewußtheit) durchströmt. Die Partner
differenzieren sich in der Vereinigung, denn sie wissen um sich selbst und den
anderen - und das Gemeinsame.
Anmerkungen
Anm 1: Leider kann ich die genauen Literaturnachweis, d.h. in diesem
Fall die Seite, nicht erbringen. Interessierte seien jedoch auf die Homepage
des The Lucidity Institute
hingewiesen. The Lucidity Institute is dedicated to the advancement of
research on the nature and potentials of consciousness and to the application
of the results of this research to the enhancement of human health and
well-being.
Stephen LaBerge schreibt im
Lucidity Institute Catalog
allerdings etwas, das im Zusammenhang mit einer prinzipiellen Vorentscheidung
steht, nämlich: "Lucid dreams are dreams in which you know that you
are dreaming, and are aware that the dream is your own creation." Meine
Auffassung ist hingegen, daß der Traum sowohl von den
subjektiven, ideoplastisch wirkenden Vorstellungen als auch von objektiv
Gegebenem abhängt. Das Traumgeschehen unterliegt also dem, was unter dem
Stichwort selektiver Subjektivismus (vgl.
Glossar) gesagt worden ist. Meine
Vorentscheidung besteht darin, daß ich der Traumwelt als Wirklichkeitsbereich
auffasse.
Vgl. auch den Artikel
OTHER WORLDS: OUT-OF-BODY
EXPERIENCES AND LUCID DREAMS by Lynne Levitan and Stephen LaBerge: "Spiritual
teachings tell us that we have a reality beyond that of this world. The OBE may
not be, as it is easily interpreted, a literal separation of the soul from the
crude physical body, but it is an indication of the vastness of the potential
that lies wholly within our minds. The worlds we create in dreams and OBEs are
as real as this one, and yet hold infinitely more variety. ... Freed of the
constraints imposed by physical life, expanded by awareness that limits can be
transcended, who knows what we could be, or become?"
Anm.1 Ende - zurück zum Text
Anm 2: Vgl. Heinrich Zimmer, Abenteuer und Fahrten der Seele, Zürich:
Rascher, (1948) 1961:79-104).
Anm 4: S. 87.
Anm 6: S. 89.
Anm.2 Ende - zurück zum Text
Anm.4 Ende - zurück zum Text
Anm.6 Ende - zurück zum Text
Anm 3: Vgl. Hans Gsänger, Sizilien - Insel des Kain,
Freiburg i.B.: Die Kommenden, 2. Auflg. 1968:110-138.
Anm.3 Ende - zurück zum Text
Anm 5: Pierre Teilhard de Chardin, Zukunft des Menschen, Olten:
Walter, (1959) 1963:125.
Anm.05 Ende - zurück zum Text
Konvertierung zu HTML März 1996, März 2001
Homepage: http://www.oobe.ch
e-mail: werner.zurfluh@oobe.ch
©Werner
Zurfluh