Gedanken zum Verhältnis des Christentums zu den Märchen und den nächtlichen Erfahrungen
Werner Zurfluh
Erstmals veröffentlicht in: Die Märchenzeitschrift Nr. 6 1992 - 2. erw. Aufl. 1996 im HTML-Format
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  • dem Christentum sind Märchen eher suspekt
  • eine nicht zu vermeidende Begegnung, vor der viele "Fachleute" warnen
  • Spiritualität ist wichtiger als Theologie - das Herzstück der christlichen Botschaft
  • die persönliche Erfahrung ist die eigentlich sinngebende - der Einblick in die Christuswelt am 7. Januar 1974 - das Schauen des Sinn-Kristalles am 8. August 1976
  • die Suche nach dem Sinn und nach der mystischen Erfahrung
  • was tun mit der in das Alltagsleben übergreifenden Eigenerfahrung
  • die Schwierigkeit der Einordnung - vom Zustand des Körpers kann nicht in jedem Falle auf den Zustand des Bewußtseins geschlossen werden

Für das frühe Christentum sind Märchen bzw. Mythen wohl eher eine heikle Angelegenheit gewesen, geht doch die Tradition derartiger Erzählungen bis weit in heidnische Zeiten zurück. Die Überlieferung solcher Geschichten ist somit wesentlich älter als das Christentum selber! Gewisse Märchen- und Mythenfiguren dürften dem christlichen Denken über Jahrhunderte hinweg - und vielleicht bis zum heutigen Tage - irgendwie unpassend, bedenklich und sogar bedrohlich vorgekommen sein. Denn in manchen heldenhaften Geschichten werden die Göttergestalten der vorchristlichen Zeit mitsamt ihren Wesenszügen wieder lebendig. Bei den Zuhörern taucht mit einem Male "Heidnisches" auf, denn sie erinnern sich, und sei es auch nur andeutungsweise, an Dinge, die bislang unter der Oberfläche des christlichen Gedankengutes versteckt blieben und gebändigt schienen. Die alten Götter könnten somit - trotz Christianisierung - jederzeit aus der Dunkelheit des Vergessens heraustreten und möglicherweise Verwirrung stiften. Es stellt sich deshalb die Frage, ob und wie das verhindert werden kann. Etwa durch das Verbot, gewisse Geschichten weiterzuerzählen?

Nun ist es prinzipiell unmöglich, ein altes Erzählgut mitsamt den damit verbundenen Anschauungen einfach verschwinden zu lassen. Deshalb muß es irgendwie in die neue Vorstellungswelt eingebaut werden. Im Christentum geschah dies beispielsweise durch eine Abspaltung der lichten und freundlichen Seite verschiedener Gestalten von deren dunklen Seite.

Wenn aber beispielsweise die hellen und freundlichen Züge einer "Großen Mutter" wie der "Frau Holle" in die Gestalt der Jungfrau Maria eingeschmolzen werden, bleiben die schreckerregenden und furchtbaren sozusagen dem Teufel überlassen. Und mit ihnen eben jene Zauberinnen und Hexen, die der Göttin das Geleit geben und als Wildes Heer über den Himmel ziehen. Frau Holle muß jetzt unweigerlich als Unholdin auftreten! "Während sie früher die Seelen der Toten bergend aufnahm, wurde sie nun zu wilden Jägerin, die die Seelen ungetaufter Kinder mit sich riß", schreibt Sigrid Früh.

Wie ist es aber mit den Seelen von Getauften, die eines Nachts ohne eigenes Dazutun vom schlafenden Leib abgelöst und in unbekannte Sphären verbracht werden? Ich fürchte, diese Seelen werden in ihrem "außerkörperlichen Zustand" unweigerlich den (abgespaltenen) dunklen und unfaßlichen Seiten (Anm.1) begegnen, seien sie nun persönlicher oder kollektiver, geschichtlicher oder gegenwärtiger Natur. Vielleicht dem Wilden Heer oder dem Drachen und der Schlange, in jedem Falle aber dem eigenen Schatten und all dem sorgfältigst Verdrängten. Derartiges geschieht natürlich auch in "gewöhnlichen Träumen", die sich aus diesem Grunde wieder einmal als wesentlicher Bestandteil des Bewußtwerdungs- und Individuationsprozesses erweisen.

Wenn ich einerseits an die schrecklichen und horrorartigen und andererseits an die zutiefst beeindruckenden und umfassend friedvollen spirituellen "nächtlichen Erfahrungen" denke, wundert es mich nicht, daß manche "Fachleute" speziell vor dem luziden Träumen und dem "Astralwandern" warnen und davor abraten. Denn derartige Erlebnisse haben mich oftmals ganz massiv aus der Fassung gebracht. Es erstaunt mich in Anbetracht der teuflischen und der überaus erhabenen, ja heiligen Gestalten, die mir begegnet sind, auch nicht, daß viele ein eher merkwürdiges Verhältnis zu "archetypischen" Erlebnissen haben. Dazu gehören nicht zuletzt etliche Theologen, obwohl, wie Thomas Matus betont, es Theologie ohne Spiritualität, also ohne spirituelle Erfahrung, gar nicht geben kann. (Vgl. Fritjof Capra & David Steindl-Rast)

Aus dem bisher Gesagten läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, daß Spiritualität als Erfahrung, als Begegnung mit dem Mysterium, mit dem Sinn, mit dem, worin der Mensch Ruhe und Einsicht gewinnt, wichtiger ist als die Theologie! Es ist allerdings so, daß Spiritualität und überhaupt jede Form von Erfahrung den Menschen früher oder später unweigerlich dazu bringt, sich sehr kritisch mit jeder Art von Manipulation seiner religiösen Bedürfnisse und sonstigen Erfahrungsmöglichkeiten seitens der Kirche und des Staates auseinanderzusetzen. Allerdings kann die Ablehnung dessen, was den Autoritäten und dem Establishment als passend und damit konform erscheint, höchst schmerzhaft und fatal sein. Vielleicht sollte in diesem Zusammenhang der Kern der Botschaft von Jesus (wieder) einmal bedacht werden. Zu denken ist hier an Mt. 20.26. Denn "für das religiöse Establishment ist Jesus ein Umstürzler, da er die innere Autorität der Menschen stärkt, während die Autoritäten sie unterdrücken. Aus demselben Grunde ist er auch für das politische Establishment gefährlich. Dieses neue Verständnis von Autorität ist das Herzstück der christlichen Botschaft. Es geht auf Jesus zurück, den eigentlichen Ausgangspunkt des Christentums", betont David Steindl-Rast) (Seite 91).

Es ist praktisch eben schon so, daß die persönliche Erfahrung die eigentlich sinngebende ist und zudem diejenige, die den Menschen als verantwortliches Wesen in den gesamten Kosmos einbindet. Und zwar eine, die durchaus auf die Vermittlung durch Kirche, Priestertum und Staat verzichten kann. Zwar wird das Leben dadurch nicht vereinfacht, aber es wird maßgeblich durch etwas bereichert, was als Wirklichkeit jenseits der Zeit liegt. - Dazu die beiden folgenden Erlebnisse:

Die Christuswelt (Ausschnitt der Erfahrung vom 7. Januar 1974 - vollständiger Text in "Quellen der Nacht" Seiten 82-100. (Anm.2)
.

... Wiederum fliegen wir (d.h. der Psychopompos und ich) mit der gleichen Flugscheibe völlig lautlos über einem riesigen Planeten. Unter uns erstreckt sich in alle vier Himmelsrichtungen eine intensiv blaue Wasserfläche von einer unbeschreiblichen Klarheit. "Dies ist die neunte Welt, die Welt des Wassers und des Anthropos Christus", so vernehme ich gewissermaßen telepathisch die an mich gerichteten Gedanken des Psychopompos. Dieser Hinweis löst eine wahre Lawine von Assoziationen aus, die mir alle gleichzeitig bewußt werden und sich blitzartig zu einem sehr genau faßbaren Vorstellungskomplex zusammenfügen. Aus dem Erinnerungskristall, in dem auch all meine Fragen um die Zukunft des Christentums mitschwingen, tönt die wortlose Frage hinaus: "Wie soll die Menschheit ge(r)einigt werden?"

Diese Frage wirkt wie ein Auslöser für ein gewaltiges Schauspiel, das auf der Bühne der Wasserwelt abläuft, um mir die Antwort zu geben. Andererseits werde ich durch meine Fragestellung in die Lage versetzt, das Geschehen dieses Zeitalters zu schauen, und richte nun meine ganze Aufmerksamkeit darauf. Als erstes sehe ich plötzlich Christus in der Luft schweben, so als würde er auf festem Boden stehen. Er ist ganz allein, doch es dauert nicht lange, da tauchen überall Menschen auf - aber jeder ist völlig für sich allein und unfähig, mit einem anderen Kontakt aufzunehmen.

Jetzt beginnt Christus wie ein Magnet die in seiner Nähe schwebenden Menschen anzuziehen. Ein erster gibt ihm seine Hand, ein weiterer kommt dazu und dann noch einer und nochmals einer. Christus wirkt wie ein Kristallisationszentrum für die Menschheit, als Auslöser für eine wunderbare Kettenreaktion. Bald sind es mehr als hundert Menschen, die sich die Hände geben und auf diese Weise miteinander verbunden werden - und immer mehr kommen dazu. Erstaunlich ist die Tatsache, daß jeder Mensch vier Arme und damit vier Hände hat und deshalb jeweils wieder vier anderen Menschen die Hände geben kann. Es entsteht ein Gebilde, das von der Ferne aussieht wie ein Netz, das über dem Kontinuum des Wassers schwebt, wobei die Leiber der einzelnen Menschen gut sichtbare Knoten an den Stellen bilden, wo sich die "Fäden" überschneiden.

Es ist mir klar, daß dieser Zusammenschluß um das Christuszentrum herum die einzelnen Menschen zum höheren Ganzen des Anthropos vereinigt, frage mich aber, weshalb denn äußerlich keine eigentliche Ganzheitsform gebildet wird, ein Mandala z.B. in Form einer Kugel. Da sehe ich, wie das weiter anwachsende "Menschheitsgebilde" auf unerklärliche Weise vom Zentrum aus gesteuert auf die Wasseroberfläche absinkt und im Grundelement dieser Welt herumschwimmt.

Das "kristalline Gebilde" bleibt vorerst flächenartig und wird vom Wasser getragen, wobei die Wellen ein ständiges Auf und Ab erzwingen, von dem das Einheitswesen sich ruhig und gemessen tragen läßt. Langsam bildet sich ein Kreis aus, der in seiner geometrischen Form immer vollkommener wird. Auf dem Höhepunkt der Kreiswerdung geschieht etwas Unerwartetes: Blitzartig taucht das ganze Gebilde ab und schließt sich zu einer wunderbaren Kugel zusammen, indem sich die Menschen am Rande der sich schließenden Glocke die Hände geben. Ich bin sehr dankbar für das Schauspiel, das sich mir hier bietet, und bemerke erstaunt, daß es noch mehr zu schauen gibt.

Ich sehe in den unendlich weit scheinenden Gewässern unabsehbar viele dieser Kugelgebilde, größere und kleinere, die sich im Dämmerlicht des Wassers in der unbestimmten Ferne verlieren. Jede Kugel hat als Kristallisationszentrum einen Christus, der im flächenhaften Netz Mittelpunkt gewesen war und nun Bestandteil der Kugelperipherie geworden ist. Das scheint mir eine faszinierende Auflösung eines alten Paradoxes zu sein - Mittelpunkt und Peripherie zugleich. Aber es ist noch etwas Besonderes geschehen: Alle ehemaligen Zentren der Zweidimensionalität wurden freiwillig zu einem Bestandteil des Dreidimensionalen.

Für mich ist diese neunte Welt Abschluß und Vollendung einer langen Kette von Ereignissen. Meines Erachtens ist nun alles absolut vollständig geworden und zu einem friedvollen Abschluß gekommen, der keiner weiteren Steigerung mehr bedarf. Ja, es wäre Blasphemie, mehr zu wollen und außerdem unmöglich, sich ein Mehr zu denken - dessen bin ich mir gewiß. - Und mit dieser Gewißheit werde ich in die zehnte Welt versetzt, die es doch gar nicht geben kann und die nicht existieren darf. ... Die Tötung der Bären und die Evolution des Menschen

Der Sinn-Kristall (Ausschnitt der Erfahrung vom 8. August 1976 - vollständiger Text in "Quellen der Nacht" Seiten 244-251.) (Anm.3)

... Mitten in dieses Zweifeln und Hadern hinein spüre ich eine innere Stimme, die brutal all mein Wehklagen über unerfüllte Erwartungen, zerstörte Hoffnungen und verlorene Illusionen wegwischt und mich dazu auffordert, den Sinn des Lebens und des menschlichen Seins zu erkennen. Und dann zerreißt das Netz der ichbezogenen Vorstellungen und der kleinlichen, beschränkten Weltanschauung - und über mir öffnet sich der Himmel, eine andere Welt wird sichtbar, eine Wirklichkeit jenseits des Alltäglichen. Doch diese ist auch nur Durchgang zu einer noch ferneren und befremdlicheren Realität, die ihrerseits wiederum die Vorstufe für die nächste Dimension ist. Welten hinter Welten werden füreinander transparent. Mir erscheint alles wie ein unfaßbares Schichtengebilde mit räumlich und zeitlich gestaffelten Wirklichkeitsebenen.

Je entfernter eine Welt von meinem persönlichen Standpunkt und dem normalen Alltag ist, desto mehr liegt sie in der raumgewordenen Zukunft, d.h., die zeitliche Distanz ist in eine räumliche umgewandelt. Das Gefühl, hier Schichten zu sehen, die sogar einen hierarchischen Aufbau widerspiegeln, ist nur meinen beschränkten geistigen Fähigkeiten zuzuschreiben, die sich in einer raum- zeitlichen Gleichheit nicht zurechtfinden würden und das Geschaute irgendwie linearisieren müssen. Praktisch bedeutet dies, daß ich beinahe alles wieder vergesse, weil ich einfach nicht in der Lage bin, die Vision in eine mir verständliche Bildsprache umzusetzen.

Ich werde auf eine mir unerklärliche Weise an eine Gesamtschau herangeführt. Wegen der gestaffelten Hinführung werde ich nicht bewußtlos, sondern erkenne sogar die allgemeine Entwicklung, die sich auf die Offenbarung des Sinnes zu bewegt. Die Menschheit nähert sich von Dimension zu Dimension jenem kritischen Augenblick, in dem sich der Sinn am deutlichsten zeigt. Nun schaue ich ihn als Gebilde von kristalliner Beschaffenheit und Form. Seine Größe beinhaltet sowohl eine raum-zeitliche wie auch eine emotionale Komponente. Deshalb kann ich den Umfang des Sinn-Kristalls nicht abschätzen. Räumliche Ausdehnung, zeitliche Dauer und Gefühlsinhalt sind untrennbar ineinander verwoben - das Gebilde ist so groß wie viele Universen zusammen und gleichzeitig so klein wie ein Staubkorn. Mit der Schau dieses Wesenskernes wird in mir der letzte Erkenntnisschock ausgelöst: die Erkenntnis des Sinnes des menschlichen Lebens. Der Sinn ist das vereinigende Ganze, zu dem alles hinführt und von dem alles ausgeht. Dieses Wissen erfüllt mich mit einer kosmischen Freude.

Dann sehe ich eine unzählbare Menge einzelner Menschen auf irgendeinem Weg der Mitte des Sinnes zustreben. Die Lebensformen in den "hintereinanderliegenden" Weltenräumen sind Annäherungen an das Zentrum, das mit dem Grad der Nähe wächst. Dabei entsteht eine ungeheure innere Anspannung, die sich endlich in der "Endwelt" als unendliche Offenbarung des Sinnes entlädt. Strahlenmyriaden brechen hervor und erleuchten eine wüstenähnliche Umgebung. Auch ich werde erfaßt in der vollkommenen Befreiung und Erleuchtung und erkenne blitzartig den Sinn meines persönlichen Seins. Gleichzeitig existiere ich im Wissen, daß der "Kristall" die Menschheit in sich eint. Er ist der Anthropos, die Vereinigung der Selbste und der Ichs. In ihm sind alle Menschen ein einziger Mensch. In ihm bewahrt jeder einzelne Mensch seine Ich-ldentität und bleibt sich selbst und des Ganzen bewußt. Der Sinn des Lebens ist die zur Einheit hin sich entwickelnde Menschheit.

Die Pforten der Himmel schließen sich wieder, doch lange hallt das Geschaute in mir nach. Um mich herum herrscht die Geborgenheit spendende Finsternis der Ruhe und des Friedens, in der ich eingebettet bleibe, alleine, weder inner- noch außerkörperlich, bildlos und luzid, in Gedanken versunken, meine Erinnerungen sammelnd und neugestaltend.

Angelus Silesius sagt:

Die Seel ist ein Kristall, die Gottheit ist ihr Schein:
Der Leib, in dem du lebst, ist ihrer beider Schrein.
(Anm.4)

Sinn kann als Bewußtsein des Zusammenhanges und der Beziehungen aufgefaßt werden, womit die Stellung des Menschen in einem Geborgenheit und Liebe vermittelnden kosmischen Rahmen sichtbar gemacht wird. Das Suchen nach dem Sinn, nach Zugehörigkeit bedeutet, daß wir alle das Reich Gottes erkunden, sagt David Steindl-Rast. Und weiter: Die Ausmasse dieses Reiches sind derart gewaltig, daß endlos weitergeforscht werden kann, "ohne jemals auf Gruppen zu stoßen, die andere Teile erkunden". Nun zeigt die Kristallerfahrung auf ihre Weise, daß "Zugehören auf Gegenseitigkeit beruht. Wenn wir zu Gott gehören, dann gehört Gott zu uns." (Steindl-Rast Seite 151).

Es wird allzu schnell vergessen, daß Spiritualität wichtiger ist als Theologie, zumal ein Handeln aus der spirituellen Erfahrung heraus den Absichten des Kirchen-Establishments und dessen Machtansprüchen nicht immer genehm und nicht immer förderlich ist. Wenn nämlich aufgrund eigener, d.h. ganz persönlicher Erfahrungen, Sinn ins Alltagsleben einfließt, können die kirchlichen Institutionen Heilsvermittlung nicht mehr ausschließlich für sich reklamieren. Es ist also zu vermuten, daß die Kirche als Bewahrerin des Christentums den Eigenerfahrungen und den Märchen gegenüber eine zwiespältige Stellung einnimmt, ja einnehmen muß. Die Probleme, die sich nämlich aus der Möglichkeit, Spirituelles selbst zu erleben, ergeben, können ohne den kritischen Miteinbezug der kirchlichen Positionen nicht zu Sprache gebracht und diskutiert werden. Und das macht die in Frage stehende Sache auch nicht leichter.

Wenigstens habe ich dies in meiner Jugendzeit so erlebt. So wurde auch meinem Wunsch, über die Mystik mehr zu erfahren, niemals entsprochen - und zwar mit dem Argument, dafür sei ich zu jung. Tatsächlich ist es aber so, daß sich die Vertreter der Kirche, die Priester und die Theologen, mit der Mystik äußerst schwer tun, denn wegen des Erfahrungsmäßigen, das der Mystik nun einmal wesentlich sein muß, ist die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Mystik bzw. der Einschätzung des persönlichen Erlebens alles andere denn leicht. Und weil in jedem Falle bei derartigen Erfahrungen das Subjektive miteinbeschlossen bleibt, ist die z.T. recht schmerzhafte Bewußtwerdung beispielsweise des eigenen "Schattens" und der eigenen Vorstellungen nicht zu umgehen. Praktisch bedeutet dies aber den Einbezug tiefenpsychologischer und erkenntniskritischer Betrachtungsweisen, was nicht unbedingt das Wohlwollen höchster kirchlicher Instanzen findet, wie beispielsweise der Fall "Drewermann" zeigt. Irgendwie scheinen eben persönliche Erfahrungen für jede Art von Institution gefährlich zu sein, denn sie untergraben die axiomatisch festgefügten Fundamente und bringen selbst wohlproportionierte Gedankengebäude zur Auflösung. Wenn Dämme brechen, wird auch jede Form des Fundamentalismus weggeschwemmt.

Heute verstehe ich die manchmal direkt panisch zu nennende Angst gegenüber allen Erfahrungen, die von der Norm abweichen, besser. Denn Erlebnisse wie der "luzide Traum" (Klartraum) oder die "Außerkörperlichkeit" (Astralwanderung, OOBE, AKE) sind wegen der intakten Ich- Bewußtheit zunächst einfach mal total ungewohnt. Wegen der mit der Bewußtheit einhergehenden Notwendigkeit, nun auch die Verantwortung für das eigene Tun auf transalltäglichen und spirituellen Ebenen zu übernehmen, kommt es schnell einmal dazu, daß sich das (konventionelle und egoistische) Ich überfordert fühlt. Zumal solche Erfahrungen in das Alltagsleben übergreifen und sowohl dieses wie überhaupt die Weltanschauung zu verändern beginnen. Derartig schwerwiegende Änderungen sind den Mitmenschen oft nur schwer verständlich zu machen oder können meist nicht erklärt werden. Und sie werden allzu leicht von Gefühlsduselei, Kritiklosigkeit und inflationärem Gehabe überdeckt. Das Rezept lautet jedoch nicht: "Hände weg von all dem Zeugs!" Es müßte heißen: "Vorsicht und Zurückhaltung, gepaart mit Selbstkritik und Wachheit!"

David Steindl-Rast sagt in dem bereits erwähnten Buch auf Seite 30: "Haben wir ein Erlebnis, vor allem eines, das uns zutiefst bewegt und existentiell fordert, dann müssen wir darüber nachdenken, um es besser zu verstehen. Und hier sehe ich den Platz der Theologie." Theologie wird also, so Thomas Matus, zum "systematischen Studium der mystischen Erfahrung", zum "Eindringen in das unnennbare Mysterium". Denn eine intellektuelle Beschäftigung mit der religiösen Erfahrung ist allein schon wegen der ethischen Einstellung dem Anderweltlichen gegenüber unabdingbar. Sie darf jedoch nicht zum dogmatischen Schema verkommen, sondern muß gegenüber der andersartigen Erfahrung offen bleiben, auch wenn diese nicht zum tiefsten Erlebnisbereich gehört, dessen der Mensch gewahr werden kann. Denn wer weiß schon, wohin ein erster, harmlos scheinender Schritt zu führen vermag und welche vorherrschenden und liebgewordenen Anschauungen und Dogmen schließlich in Frage gestellt und umgestürzt werden. Unterwegs wird es sich kaum vermeiden lassen, zumindest für eine Weile zum Außenseiter zu werden. Und man und frau werden wie die Märchenhelden und -heldinnen mit dem Establishment unweigerlich Schwierigkeiten bekommen. Es gibt genug Märchen, die davon zu erzählen wissen. Doch in Anbetracht der Erfahrungspraxis ist alle Theorie "nur Stroh", auch wenn sie in theologische und andere Werke gegossen wurde.

"So war Thomas von Aquin fraglos ein großer Mystiker, ein Mann tiefer spiritueller Erfahrung. Doch lebte er sein mystisches Leben auf einer Ebene, die von seiner Theologie Welten entfernt war. Als die Spannung zwischen seiner Erfahrung und seiner Theologie am Ende seines Lebens unerträglich wurde, sagte er von seinem theologischen Werk: 'Das ist alles nur Stroh!'" (Thomas Matus in Capra/Steindl-Rast Seite 76).

Nein, soweit brauchen wir es nicht kommen zu lassen, denn schließlich lehren uns die Märchen, daß wir die "Studierstuben" und "Königshäuser" verlassen und in die weite Welt hinausgehen können und sollen. Und unterwegs auf der "Großen Fahrt" wird uns dann gar manches begegnen, das uns als Menschen gesamthaft fordert und eines Tages - egal, wo wir uns gerade befinden - sagen läßt: "Das ist sowohl mit meiner religiösen Erfahrung als auch mit meiner Lebenserfahrung vereinbar!"

Aber mit dieser Übereinstimmung hapert es manchmal, denn vor allem Außenstehenden ohne persönliche Erfahrung fällt es oft schwer, gewisse Aussagen richtig zu gewichten. Allein schon die Einteilung der verschiedenen Formen der visionären Erfahrung (um die es ja im Christentum vor allem geht) ist außerordentlich schwierig. "Bisher liegen nur theologische Schemata vor, für die die Unterordnung der visionären Erfahrungen und ihrer Bild- und Erkenntnisinhalte unter die Normen der Kirchenlehre und der im Sinn des kirchlichen Dogmas interpretierten Heiligen Schrift maßgeblich ist." (Ernst Benz)

Außerdem herrscht ein heilloses Durcheinander in bezug auf das Verständnis von "Bewußtheit". Bewußtheit und damit Ich- Bewußtseinskontinuität wird andauernd mit dem Wachheitszustand des physischen Körpers und der Funktionstüchtigkeit der leiblichen Sinnesorgane gleichgesetzt. Aus diesem Grunde heißt es dann, Bewußtheit bedeute Tagesbewußtsein. Ferner werden verschiedene Bewußtseinszustände unterschieden, ohne daß die Kontinuität des Ich- Bewußtseins in diesen verschiedenen Zuständen bemerkt und hervorgehoben wird. Das Erlöschen des Tagesbewußtseins und der sinnlichen Wahrnehmung ist nämlich nicht gleichbedeutend mit einem Herabsinken der Wachheit und Bewußtheit des Ichs (mit einem "abaissement du niveau mental").

Es kann natürlich sein, daß jemand unfähig ist, zu entscheiden, ob er oder sie im Leibe war oder nicht. Den Unerfahrenen kann so etwas leicht geschehen! Doch ist weder das völlige Erloschensein des sogenannten Tagesbewußtseins noch der kataleptische Zustand des physischen Leibes ein zuverlässiges Kriterium für die Bewußtheit derjenigen, die sich gerade auf einer "Seelenreise" befinden. Für den im "außerkörperlichen Zustand" weilenden Menschen stellt sich die Angelegenheit anders dar als für einen außenstehenden Beobachter, der (normalerweise) einzig und allein ganz lapidar festzustellen vermag, in welchem Zustand sich der physische Körper befindet. Nur darf eben vom Körperzustand nicht auf den Bewußtheitszustand geschlossen werden. Ein Fehler, den Ärzte bei ihren komatösen Patienten heutzutage meist zu vermeiden wissen. - Es ist nun mal so, daß in den allermeisten Fällen ein Mensch, der eine "Seelenreise" unternimmt, erst nach seiner Rückkehr in den Leib und nach dem Erwachen desselben über seine Fahrt und darüber berichten kann, wie es um seine Bewußtheit bestellt war. Deswegen ist es ratsam, mit einem definitiven Urteil abzuwarten und statt dessen das folgende Märchen zu lesen:

Es ist die anatolische Hirtenerzählung "Der Traum des Kara Ali Baba Imdatli": (Anm.5)
Der Einsiedler Kara Ali Baba hatte Träume, "die ihn weit fortführten bis hin an die Ufer fremder Meere, die er noch niemals erblickt hatte, und zu Bergeshöhen, welche ihm unbekannt waren. Er lag dann völlig steif und regungslos auf seinem harten Lager und wurde in dieses Leben der sichtbaren und fühlbaren Dinge immer wieder nur durch seine Ziege zurückgerufen, deren harte warme Zunge ihm das Gesicht leckte. Kara Ali, der ein kluger Kopf war, bereitete dieses Erwachen dadurch vor, daß er sich das Gesicht mit Salz einrieb, um solcherart der Ziege die Lockung für ihre Lebenserweckung zu geben."

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Anmerkungen

Anm 1: Vgl. die Begegnung mit dem "Teufel" vom 22. September 1978, die im 6. Kapitel von Außerkörperlich durch die Löcher des Netzes fliegen beschrieben wurde .
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Anm 2,3: Quellen der Nacht München: W. Ludwig, (1983) 1996 (427 Seiten - ISBN: 3778771590)
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Anm 4: Angelus Silesius Der cherubinische Wandersmann 1.Buch Nr.60 "Leib, Seele und Gottheit"
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Anm 5: Die Kenntnis dieses und anderer Märchen verdanke ich einem freundlichen Hinweis von Marcel Frei.
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Literaturverzeichnis

Benz, Ernst. Die Vision . Stuttgart: Klett, 1969:89.
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Capra, Fritjof & David Steindl-Rast. Wendezeit im Christentum. Bern/München/Wien: Scherz, 1991:26.
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Früh, Sigrid. Herausgeberin des Fischer TB Nr. 2858 (Frankfurt a.M., 1985) mit dem Titel Die Frau, die auszog ihren Mann zu erlösen Seite 13.
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von Kamphoevener, Elsa Sophia . Anatolische Hirtenerzählungen. rororo TB Nr. 4317:20-26.
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