Naturreligion, Märchen und nächtliche Erfahrungen Werner Zurfluh |
Erstmals veröffentlicht in: Die Märchenzeitschrift Nr. 4/1992 - 2. erw. Aufl. 1996 im HTML-Format |
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"Religio" -
ein Wort, das Tiefstes in sich trägt und Höchstes zum Ausdruck
bringt. Und wenig zu tun hat mit dem "confessio", d.h. dem Bekenntnis
zu irgendeiner bestimmten Religionsform. Für mich weht mit dem "religio"
sogar Märchenhaftes heran. Nicht als rituelle Bestimmung eben - oder gar
als benennbarer Kult -, sondern als tiefe Ehrfurcht vor dem Ungefaßten
und Unfaßbaren, als heilige Scheu vor dem geheimnisvoll Waltenden und
stets wieder neu zu Beachtenden. Denn es fragt sich grundsätzlich, auf
welche Art und mit welcher Einstellung der Mensch in die Welt hinausgehen
soll, vor allem in eine, die nicht die angestammte ist. In die unbekannte Welt
eines fremden Volkes oder in die unbekannter Mitmenschen beispielsweise - oder
in jene Anderwelten, von der Märchen und Träume Kunde geben. Wer eine
Reise über das Ende der gewohnten Welt hinaus unternimmt, wird sich dabei
klugerweise um eine tief religiöse Haltung bemühen!
Aber was ist unter "Naturreligion" zu
verstehen? Etwa eine "natürliche" Religion? Eine, die
gewissermaßen im Gegensatz zum Christentum steht und nicht zu unserer
vermeintlich ach so fortschrittlichen Kultur gehört? Christus wird ja von
manchen als "das Ende aller Religionen" verkündet. Ist "Naturreligion"
also eine Religion, die bloß in der Natur - was auch immer das sein mag
- eingebettet ist, oder einfach eine, die nicht zu dem Kulturkreis gehört,
dem wir uns verbunden fühlen. Genauer gesagt, zu dem Weltbild, in dessen
Rahmen wir aufgewachsen und erzogen worden sind. Und überhaupt - hat die
Bezeichnung "Natur" in unseren Breitengraden nicht einen etwas
exotischen, fremden und manchmal sogar befremdenden Beigeschmack? Aber auch
einen Klang, dem wir eher wehmütig nachtrauern und dessen melodiöse
Verwirklichung wir immer wieder erwartungsfroh suchen und - endlich wieder - zu
finden hoffen. Aber was hoffen wir denn zu finden? Heißt es nicht: "Macht
euch die Erde untertan!" - Wie soll das geschehen? War damit etwa das
Zertrampeln, Abholzen, Zubetonieren und Verstrahlen gemeint?! Dies würde
denn alles andere denn eine religiöse Haltung zum Ausdruck bringen
Naturreligionen? Sind das nun die Religionen der Naturvölker? Ein
Nachschlagen im Index verschiedener Bücher ergibt, daß "Naturvölker"
unter dem Stichwort "Primitive" zu finden seien. Aha! Bei den ursprünglichen
Menschen also, bei jenen, die von den "Segnungen" der Hochkulturen
(noch) nichts abbekommen haben. Ist somit "Naturreligion" eine "Religion
der Primitiven", eine "Primitivreligion"? Höchst bedenklich
und zugleich entlarvend ist's, das Bedeutungsfeld des Wortes "primitiv"
aufscheinen zu lassen. Im Hintergrund warten bereits Missionare und
Entwicklungshelfer, Straßenbaukolonnen und Staudammplaner, Goldschürfer
und Möbelfabrikanten. Wie mögen sie die "primitiven Wilden"
sehen, wenn sie ihnen begegnen? Und werden sie sich inmitten der Wildnis für
Märchen und Naturreligion interessieren oder sich gar um Religiosität
bemühen?
Und was denken und empfinden die Ureinwohner,
wenn sie auf all die fremden Leute aus einer total anderen Welt stoßen?
Sind für sie, die "Primitiven", die total Unbekannten einfach
jene unheimliche Wesen, von denen Mythen und Märchen erzählen? Sind
es Götter? Mächtige und gewaltige Gestalten, die plötzlich von
draußen, von der Anderwelt herkommend, einfallen und ihren Tribut oder
gar eine neue Religionsform fordern? - Würde es uns nicht ähnlich wie
den "Primitiven" ergehen, wenn eines Tages UFOs landen und Außerirdische
beginnen, sich um unsere eigenen Religionsformen und unsere heimischen Märchen
zu kümmern.
Andererseits - sind nicht für uns selber die
sogenannten Naturvölker zunächst mal ganz fremde und unbegreifliche
Geschöpfe? Menschenwesen, denen wir mangels besseren Wissens einfach mal
das Attribut "natürlich" verpassen? Bloß weil wir deren
Gesellschaftssysteme, Kultur- und Religionsformen - die bei näherem
Besehen allesamt ineinander übergehen und nicht auseinandergerissen werden
können - nicht verstehen können? Nennen wir jene fernen Volksgruppen
bloß deswegen "primitiv", weil sie weder Atomkraft noch
Gentechnologie kennen? - Primitiv im Sinne von "primär". Was nämlich
die Entwicklung der Menschheit anlangt, stehen die Primitiven scheinbar dem
Ursprung näher - so lautet wenigstens eine etwas wohlwollendere Meinung.
Machen wir es uns da nicht zu einfach? Schließlich sind Naturvölker
ebenso alt wie wir selber - und in ihrer eigenen Art eben hochentwickelt und
komplex.
Merkwürdig ist es schon mit unseren Urteilen bzw.
Vorurteilen - speziell im Hinblick auf Unbekanntes oder kaum Bekanntes.
Vermutlich geht es uns bei den sogenannten Märchen- und Traumgestalten
ebenso wie mit den Amazonasindianern oder den Aborigines Australiens. Wir
begreifen nämlich kaum, wovon Märchen und Träume erzählen
und nennen sie sozusagen sicherheitshalber "primitiv" und "natürlich".
Das verpflichtet nicht! Und dann wundern wir uns nicht einmal darüber, wie
schnell in Anbetracht des Unbegreiflichen und Unverständlichen Theorien
vorgebracht und Deutungen akzeptiert werden. Ob mit all den Bezeichnungen bloß
Unbekanntes ausgeschlossen und Furchterregendes gebannt werden soll?
Verständlich wär's! Denn was in unsere wohlgefügte Welt von "draußen"
kommt, wirkt stets gefährlich, abstoßend und beängstigend. Und
sei's auch nur der Türke oder der Tamile. Fremdes ist stets Anderes! Würde
es akzeptiert und aufgenommen, müßten eigene Positionen aufgegeben
und festgefügte Vorstellungen relativiert werden. Es käme
unweigerlich zu einem Wandel! Fatalerweise ist aber jeder Wandel mit
Unsicherheiten behaftet. Der Lauf der Dinge wird unberechenbar, die Zukunft
ungewiß. Mit einem Male stehen wir selbst inmitten eines Märchenabenteuers
und vor schier unlösbaren Aufgaben. Das ist nicht sonderlich angenehm.
Und es hat, so lehren die Märchen, besonders dann schlimme Folgen, wenn
die eigenen Vorstellungen stur durchgezogen werden. In solchen Momenten müßte
eigentlich das "religere", das Rückbezogensein und hellwache
Hinhören auf das Ganz-Andere, zum Tragen kommen. Davon sprechen auch die
Märchen (wenn sie nun mal so genannt werden sollen) der "Naturvölker",
denn denen geht es bei der Begegnung mit dem Unbekannten nicht anders als uns
selber. Nur sind für sie die märchenhaften Erzählungen nicht "Märchen",
sondern Rüstzeug, das zum Leben und zur Auseinandersetzung mit dem
unbekannten Fremden notwendig ist. Die Geschichten, die sie sich gegenseitig
erzählen, berichten von möglichen Verhaltensweisen, von Erfolgen und
Mißerfolgen. Nicht auszudenken, was geschähe, würden wir als
die "Zivilisierten" beginnen, so - wenn auch in umgesetzter Form -
mit dem Unbekannten und Ganz-Anderen umzugehen, wie das in den Märchen
dargestellt ist.
Was sage ich da! Bin ich doch selbst ein Betroffener -
auch ohne jemals unter fremden Völkern geweilt zu haben! Während
Jahren hatte ich nämlich versucht, nur die eigenen, anerzogenen und
angelernten Vorstellungen mitsamt all den theoretischen Konzepten und dem
Buchwissen in die nächtliche Erfahrungswelt hineinzutragen und dort
auszubreiten. Ganz im Sinne des Denkens einer Leistungsgesellschaft, die alles
für machbar hält und überzeugt ist, sich jeden Eingriff in
Natur, Landschaft und Seele erlauben zu dürfen.
Mir fiel es
ungemein schwer, anzuerkennen, daß "Naturreligionen" ein
Ausdruck für die Möglichkeit sind, den eigenen Erfahrungen gegenüber
nicht entfremdet zu sein und sie (auch im Alltag) zu leben. Beschämt muß
ich gar eingestehen, daß ich mich lange Zeit eher daran beteiligt habe,
den Ausrottungsprozeß, der im Alltag gang und gäbe ist und da vor
allem Pflanzen und Tiere betrifft, auf die nächtlichen Erfahrungsbereiche
auszudehnen. Die dort auftauchenden Wesen hatte ich gewissermaßen "zu
Tode" gedeutet und sie auf diese Weise zu eigenen Zwecken mißbraucht.
Zwar ist es mir niemals schwer gefallen, in die Wildnis des nächtlichen
Erfahrungsbereichs der sogenannten Träume hineinzugehen. Aber! Aber ich
hatte die größte Mühe, diese Welt als Anderwelt und als ebenso
real oder eben irreal wie die Alltagswelt anzuerkennen, ihr ehrfurchtsvoll zu
begegnen und sie nicht andauernd mittels Interpretationen und vorgefaßten
Meinungen abzuändern. Es fiel mir verdammt schwer, einfach nur hinzusehen
und hinzuhören. Dabei merkte ich zu Beginn nicht einmal, wie die nächtlichen
Geister, die Elben, die Feen, die Zwerge und all die anderen Gestalten ihre
Eigenständigkeit zu verlieren begannen und zu willfährigen und
marionettenhaften Geschöpfen meiner eigenen Vorstellungen und Wünsche
wurden. - Wenn sie es nicht einfach vorzogen, sich aufzulösen und zu
verschwinden.
Es ist in der Traumwelt und der Anderwelt ähnlich
wie im Alltag. Wer nur die eigenen Vorstellungen lebt und sie mit allen
Mitteln durchsetzt, findet sich letzten Endes in einer normierten Welt wieder.
In einer Welt, aus der die Natur bzw. das Ganz-Andere verschwunden ist - ähnlich
wie bei den Indianern Nordamerikas. Einige Wissenschaftler haben immerhin
eingesehen, daß sich die physisch-materielle Welt nicht durchgehend
berechnen und daß sich das Leben nicht zerlegen, wieder zusammensetzen
und dann wiederbeleben läßt. Das hindert aber niemanden daran,
weiterhin der Meinung nachzuhängen, es ließe sich alles erklären,
alles deuten und alles machen - früher oder später. Speziell was Träume,
Mythen und Märchen anlangt. Die gelten nun mal als subjektiv! Das da draußen
hingegen ist objektiv. So einfach ist das!
Haben Sie zufälligerweise schon mal etwas von
Erkenntniskritik oder gar Konstruktivismus gehört. Kennen
Sie den Paul
Watzlawick? Beispielsweise sein Buch "Wie
wirklich ist die Wirklichkeit"? Oder haben Sie das Weltbild mitsamt all
den damit einhergehenden Vorurteilen bereits hinterfragt? Das Paradigma in
Frage gestellt, das Sie leben und das Ihr Tun bestimmt? Oder gar die Glaubenssätze
angezweifelt? Wenn nicht, dann ergeht es Ihnen ebenso, wie es mir zu Beginn
ergangen ist. Da guckte ich reichlich naiv von der Welt des objektiven Alltags
in die subjektiven Welten von Traum und Märchen hinein - oder in die Welt
der Primitiven.
Zurück zum Thema "Märchen und
Naturreligion"!
"Aber", sagte Lewis bei einem Spaziergang zu
Tolkien, dem Autor von 'Der Herr
der Ringe', "Mythen sind Lügen, wenn auch durch Silber geblasen."
"Nein", sagte Tolkien, "es sind keine Lügen." Und, auf
die großen Bäume des Parks weisend, fuhr er fort: "Du nennst
einen Baum Baum und denkst dir nichts weiter bei dem Wort. Aber er war kein
'Baum', solange ihm nicht jemand diesen Namen gegeben hatte. Du nennst einen
Stern Stern und sagst, das ist einfach ein Kugel aus Materie, die sich auf
einer berechenbaren Bahn bewegt. Doch das ist nur, wie DU es siehst. Indem du
die Dinge so benennst und sie beschreibst, erfindest du nur deine eigenen Ausdrücke
für sie. Und so wie das Sprechen ein Erfinden in bezug auf Objekte und
Ideen ist, so ist der Mythos ein Erfinden in bezug auf die Wahrheit."
Wie Mythen, so spiegeln auch Märchen bzw. Naturreligionen
zumindest einen gehörigen Funken der sogenannten Wahrheit. Dabei können
wir niemals wissen, wie stark die Wahrheit diesen Funken zum Leuchten
bringt. Und die prinzipielle Unmöglichkeit, die eigentliche Wahrheit zu
kennen und von der endgültigen Wahrheit zu wissen, sollte uns vorsichtig
und bescheiden machen. Wer nämlich vorgibt, die definitive Wahrheit zu
kennen, wird stets Gewalt anwenden müssen, um sie durchzusetzen - und
damit viel Leid erzeugen.
Hinsichtlich eines Naturvolkes und seiner Märchen ist
somit zu bedenken, daß wir selbst der Religion irgendeines Volkes die
Bezeichnung "Naturreligion" verpassen. Und daß wir es sind, die
gewisse Erzählungen eines Volkes mit dem Wort "Märchen"
betiteln. Dabei wäre zu beachten, daß mit diesen Bezeichnungen nur
unsere eigenen Vorstellungen in die Sache einfließen. Mit dem Wort "Märchen"
unterschieben wir einer Gemeinschaft, daß sie gewisse Erzählungen
genau gleich auffaßt wie wir. Dabei wird leicht übersehen, daß
diese sogenannten "Märchen" in den "Naturreligionen"
ganz praktisch gelebt werden. Und gerade das läßt sich von den Märchen
bei uns nicht unbedingt behaupten. Da gelten die Märchen beispielsweise
als Erzählungen psychischer Prozesse des kollektiven Unbewußten und
als Repräsentanten der Archetypen. Dabei wird leider vergessen bzw. übersehen,
daß es - wie eben viele Märchen ausdrücklich sagen - dem
einzelnen Menschen durchaus möglich ist, selbst jene Anderwelt-Bereiche
ganz bewußt zu betreten. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte
- und womöglich eine, die noch mehr mit dem zu tun hat mit dem, was da
als "Naturreligion und Märchen" tituliert wurde.
Vor etwa 15 Jahren träumte mir
folgendes:
.
Ich sitze in einem Eisenbahnabteil und gucke zum Fenster hinaus. Draußen huschen die letzten Häuser vorbei. Nach und nach verändert sich die Landschaft total. Sie verliert ihre Kultiviertheit und wird wild, derart wild, daß es mich direkt befremdet. Aber das weckt eher mein Interesse, denn - so denke ich mir - jetzt scheine ich tatsächlich in wirklich unbekannte Gefilde vorzustoßen. Aber die Gegend ändert sich weiter und wirkt nun direkt unheimlich. Schließlich sehe ich zu meiner größten Beunruhigung nur noch eine völlig unberührte Moor- und Sumpflandschaft in nebelhaft satten Farben. Es kommt mir vor, als sei draußen das Ende der Welt. Gleichzeitig geht das Tempo des Zuges massiv zurück - als würde die Fahrt von einem tiefen Morast gebremst. Mit einem plötzlichen Ruck kommt schließlich der Stillstand! Dann beginnt der Wagen zu kippen, rutscht aus den Schienen und bleibt nach bangen Sekunden schräg hängen.
Vorsichtig kletterte ich durch eines der eingedrückten Fenster und stapfe über den schwankenden Moorboden nach vorn zur ebenfalls umgekippten und bereits ziemlich tief in den Sumpf eingesackten Lokomotive.
"Wer mag in dieses unsichere Gebiet hinein eine Bahn gebaut haben?" frage ich mich. "Ein derartiges Vorhaben ist doch zum vornherein zum Scheitern verurteilt." Offensichtlich scheint aber seit vielen Jahren niemand mehr diese Strecke benutzt zu haben, denn - so erweist es sich beim Weiterlaufen - die Schienen sind von Rost überzogen und die Schwellen von Moos und Sumpfgras überwuchert. Diese Strecke wurde also stillgelegt. - Klugerweise, denn der ganze Schienenstrang versinkt nach einigen Dutzend Metern immer mehr im weichen Boden. Bis überhaupt nichts mehr von ihm zu sehen ist! Ich frage mich, wie es denn dazu kommen konnte, auf diese alte Strecke zu geraten, auf eine Fahrt, die ins "Nichts" führt!
Hatte ich mich unter Zuhilfenahme offizieller Mittel sozusagen verfahren? War ich letzten Endes von den vorgegebenen Bahnungen abgekommen und entgleist? Offensichtlich!
Wie soll es jetzt in dieser unwirtlichen und sogar tödlich- gefährlichen Gegend weitergehen?
Ohne Traumerfahrung wäre ich in diesem Moment und bei diesen Fragen unweigerlich im Bett erwacht. Wenigstens hätte ich so der albtraumartigen Situation ausweichen können. Aber ein solches Erwachen ist eigentlich bloß vorstellungs- und gesellschaftskonform. Es entspricht der gängigen Auffassung von Wachheit, Besonnenheit und Bewußtheit. Normalerweise heißt eben bewußt auch wach - und wach bedeutet Wachsein in seiner Körperlichkeit im Alltagsbereich. Was soll's? Zwar läßt sich auf diese Weise ein Albtraum beenden. Aber gleichzeitig wird damit das Traumgeschehen abgebrochen und zerstört. Die Lösung wird mittels eines Ebenen- oder Weltenwechsel gesucht. Anstelle des Traumes wird einfach der Alltag gesetzt - und der Albtraum terminiert. Wirklich? Aber eine solche Lösung beruht bloß auf einer Verwechslung, weil das Ich meint, die Gestalthaftigkeit des Traumes ließe sich durch einen festgefügten Alltag ersetzen, in dem Bewußtheit vorherrscht. Aber! Bewußtheit ist keineswegs dem Alltag bzw. dem Wachzustand des Körpers vorbehalten! Bewußtheit bzw. Kontinuität des Ich-Bewußtseins ist - wie die Erfahrung zeigt - vom Körperzustand nicht abhängig. Das gilt auch für den Alltag! Denn daß Menschen, die "wach" sind, auch bewußt handeln, ist nicht gesagt. Umgekehrt gilt, daß Menschen, die "schlafen" oder gar im Koma sind, nicht unbedingt unbewußt sein müssen - sie können nämlich durchaus hellwach sein, was zu glauben Außenstehenden meist schwerfällt.
Nun gut, das alles ist mir im Traum sehr wohl bewußt und bekannt. Deshalb verbleibe ich im Traumgeschehen und gehe mit klopfendem Herzen weiter. Der Boden schwankt unvorhersehbar und der dunkle Sumpf umfängt mich manchmal bis zum Knie. Nur schwer läßt sich dann das Bein aus dem unergründlichen Untergrund herausziehen. Der schließt sich sogleich gurgelnd und glucksend wieder unter mir - noch ein letztes Mal schmatzend nach meinem Fuß greifend und einen Schwall dumpfer, schwefliger Luft ausstoßend. Jeder Schritt ist äußerst mühsam und eine Qual. Die Anstrengung treibt mir den Schweiß aus allen Poren. Die Augen brennen, der Atem geht schwer und die Sicht wird manchmal verschleiert. Aber es geht weiter. Schritt für Schritt. Wo Grasbüschel wachsen, bekomme ich wieder festeren Boden unter die Füße, wo nicht, da versinke ich immer wieder in der Ungewißheit des Untergrundes.
Ich weiß nicht, wie lange es dauert, aber schließlich scheinen mir die Graswölbungen doch dichter zu stehen und der Untergrund fühlt sich etwas fester an und schwankt weniger. Vor mir sehe ich vereinzelt stehende Bäume aufragen. Und weiter hinten verdichten sie sich sogar zu einem finster wirkenden Wald. - Aber dann habe ich es geschafft! Endlich stehe ich auf festem Grund!
Der Wald ist aus der Nähe gesehen zwar weniger finster, aber er wirkt unberührt und deswegen irgendwie unheimlich. Die meisten Büsche und Bodenpflanzen sind mir unbekannt, andere erinnern mich nur entfernt an schon Gesehenes. Ich fühle mich einsam und verloren. Als Fremder in einer fremden Welt!
Langsam und vorsichtig gehe ich weg vom Sumpf und tiefer in den Wald hinein. Nach einer Weile steigt das Gelände an und das Gehen wird beschwerlicher. Unheimliche Geräusche sind zu hören, schattenhaft schwanken die großen Blätter an den hohen Ästen, modernde Gerüche steigen hoch und sanft senkt sich der Boden bei jedem Schritt. Laufe ich barfuß? - Plötzlich sehe ich eine Gruppe nackter, braunhäutiger Menschen, die leichtfüßig und zielstrebig von rechts herunterkommen. Längst müssen sie mich gesehen haben. Bald bin ich von kräftig und wild aussehenden Gestalten umringt, die mich mißtrauisch mustern. Ein etwas größer gewachsener Mann blickt mich fragend an. Also versuche ich, ihm zu sagen, daß ich hierher gekommen sei, um zu lernen. Irgendwie verstehen diese Wesen mein Anliegen. Sie erlauben mir, daß ich mich ihnen anschließe. Und so beginnt die Wanderung - aber ich muß jetzt zurückkehren in den Alltag, denn es ist Zeit, aufzustehen.
Es ist vielleicht ein
Leichtes, diesen Traum zu deuten, aber es ist ungemein schwierig, den Wilden
dort nachzufolgen und dorthin wieder zurückzukehren, wo sie leben, ihr
Wissen zu akzeptieren und von ihnen zu lernen.
Roland Hanewald sagt, daß
in Australien mittlerweile "die Kultur der Aborigines endlich als eine
eigenständige, in ihrer Art hochstehende und somit förderungwürdige"
anerkannt worden sei. Dazu gehöre auch die eingeborene Kunst, die "eher
gestaltete Religion als bildliche Darstellung beinhaltet. Sie stellt die älteste
durchgehend am Leben gebliebene Tradition der Welt dar. Manche der bis heute
existierenden Felsritzungen sind wahrscheinlich mehr als 40'000 Jahre alt."
Endlich also wird die Kultur eines sogenannten Naturvolkes samt ihrer Religion
und Mythologie offiziell ernstgenommen. Und zu den Mythen gehören eben
auch Märchen. Sie alle sind erzählte Religion und wohl noch älter
als alle anderen Zeugnisse. Solche Erzählungen sind nicht nur Teil der
lebendigen Erde, sondern auch Teil des lebenden Kosmos. Sie verweben den
Menschen mit Zeiten und Räumen. Zumindest sollte es uns zu denken geben,
daß beispielsweise die Aborigines die Traumzeit leben - und sie nicht,
wie bei uns üblich, ins Reich des bloß Phantastischen abschieben!
Ob die "Wilden" bereit sind - wenn sie merken, daß sie und die
Natur, in der sie leben, anerkannt werden - ihr Wissen mit uns zu teilen?
Vielleicht! Zumal wir auf Gewalt verzichten und uns um eine religöse
Haltung bemühen.
Literaturverzeichnis
Nach Carpenter, Humphrey J.R.R. Tolkien
- Eine Biographie. Stuttgart: dtv/Klett-Cotta, (1977) 1979, S. 170.
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Hanewald, Roland. Animan - Mensch und Natur Nr. 35 vom
Januar-Februar 1992 S. 77.
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Lewis ist auch Autor verschiedener SF, z.B. Lewis,
Clive Staples. Perelandra. München: Heyne, (1943) 1976 (Heyne
SF Nr.3511).
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Watzlawick, Paul. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn-Täuschung-Verstehen.
München: Piper, 1976.
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Konvertierung zu HTML März 1996, März 2001
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