Heino Gehrts Vom Schlaf im Märchen (3. Teil) in: Von der Wirklichkeit der Märchen (Regensburg: Röth, 1992:.135-163) (Ohne Anmerkungen und Literaturhinweise |
e-mail:
![]() |
Homepage |
In den Märchen, zu denen die Grabwache den Eingang bildet, spielt der Schlaf nun aber noch einmal eine merkwürdige Rolle, die freilich in der Märchenhandlung selbst nicht deutlich hervortritt. Schicksalsentscheidend verwendet der Held die drei ererbten Pferde gewöhnlich beim Ritt auf den Glasberg. Daß der Glasberg durchaus nicht allein als ein mythischer Himmelsberg angesehen werden muß und der Ritt als der eines Toten, wird dadurch bezeugt, daß in sonst völlig intakten Fassungen statt des Glasberges menschengetürmte Bauten vorkommen, mächtige zu überspringende Balkenhindernisse; Türme mit zwölf, ja zweiunddreißig Balkenlagen und einem Fenster oben, an dem die Prinzessin sitzt; ein gewaltiges Steinmauerwerk; eine drei Klafter hohe Diele mit einem Häuschen darauf; ein Turm, zu dem ein Weg im Kreise hinaufführt, mit einem Gemach oben für die Königstochter, und die Aufgabe ist, mit einem Wagen den [136] Turmweg bis an die Spitze hinaufzufahren, offenbar das Nachbild eines kultischen Bauwerks. Die Zauberpferde bewältigen die geforderten Ritte und Sprünge mühelos, während andere Bewerber und auch die älteren Brüder sich ganz vergeblich beteiligen und den Verlust der Pferde, Knochenbrüche, ja selbst den Tod erleiden müssen.
wz: Hierzu vgl. die Erfahrung vom 21. Februar 1967 Abstieg ins Unbewußte: «Im vollen Bewußtsein der Tatsache, inmitten eines Traumgeschehen zu sein, besteige ich einen wunderbaren schwarzen Andalusier. ... weder Lattenzäune noch Drahtverhaue (sind) Hindernisse. Sie werden alle übersprungen. Der letzte Zaun ist der höchste und gefährlichste, denn der Rappe kann den feinen Draht zwischen den Pfosten nicht sehen und bedarf deswegen meiner Hilfen! ... »
Man kann das als einen märchenhaften
Gegensatz hinnehmen und es dabei bewenden lassen. Hat aber das Eingangsmotiv,
das Erbe der väterlichen Schamanenreittiere einen begreiflichen Sinn, dann
ist vermutlich auch der weitere Verlauf dementsprechend zu verstehen. Zunächst
einmal bezeugt das halsbrecherische Mißgeschick der wohlausgerüsteten
Mitbewerber, daß mit leibhaften Mitteln der Aufgabe überhaupt nicht
beizukommen ist, und das Vorhandensein schamanischer Reittiere weist auch
eindeutig auf die allein mögliche Form der Bewältigung hin: einen Ritt
der Schamanenseele.
Wie steht es zu der Zeit um den Schamanenleib ? Das
Märchen führt einen klaren Sachverhalt vor: die Brüder lassen den
Jüngsten daheim, sie verbieten ihm, mitzukommen, er sitzt, wenn sie
aufbrechen, hinter dem Ofen, auf dem Ofen, seinem gewöhnlichen Schlafplatz.
Zeitlich bedeutet dies, daß derJüngste stets später aufbricht
als seine Brüder und stets vor ihnen wieder daheim ist.
Ganz ähnlich verhält es sich mit zwei anderen Handlungsmotiven, nämlich einerseits bei der wunderbaren Schlachtenhilfe durch den unscheinbaren Helden, andererseits in der Episode der gebrandmarkten Schwäger. Beide gehören zu den Goldener-Grindkopf-Märchen, also in den Typus 314, die Goldhaarfassung der magischen Flucht, und 502, den Eisenhans. Wo das Schwägermotiv ausgespielt wird, bleibt der Held auch nach der Hochzeit mit der jüngsten Prinzessin verachtet, und sein eigentliches Wesen kommt erst im Rangstreit mit den Gatten der älteren Königstöchter ans Licht. Dort stellt der König seinen Schwiegersöhnen schwierige Aufgaben, das Erjagen eines wunderbaren Wildes, das Aufsuchen eines zaubrischen Heilmittels, Aufgaben, die nur der Gatte der Jüngsten vermöge der ihm verliehenen Wundergaben auszuführen vermag. Doch überläßt er den Erfolg zunächst den andern beiden gegen eine leichte Verstümmelung oder Brandmarkung ihres Leibes.
Regelmäßig wird sowohl bei diesem
Ablauf wie bei der wunderbaren Schlachtenhilfe der unscheinbare Held beim
Auszuge daheimgelassen; oft erhält er ein unzulängliches, lahmendes
Reittier und bleibt weit hinter dem Heere zurück. Doch dann verwandelt er
sich, legt die Strahlenrüstungen an, besteigt sein Geisterpferd. Das
entlegene Schlachtfeld erreicht er erst, wenn schon die Niederlage einzutreten
droht, aber nach dem von ihm erfochtenen Siege ist er meist auch eher als die
Siegesboten wieder daheim oder bei seinem steckengebliebenen Klepper.
Einen
wirklichen und sinnvollen Zusammenhang mit den [137]
Eingangsmotiven gewinnen diese Handlungsabläufe erst mit der Annahme, daß
es sich um schamanische Seelenausfahrten auf Geisterreittieren handelt. Sind die
Glasbergpferde durch eine Utiseta in der Feldmark oder am Grabe gewonnen, so hat
der Goldener-Grindkopf sie in dem einen Typus, 502, durch Draußensitzen im
Walde, beim Waldgeist oder Waldgott, errungen, in dem anderen, 314, durch Draußenweilen
vor der Lebensgrenze selbst, beim Todesunhold unmittelbar.
Die
geisterhafte Hilfe, die der Held bringt, wird gelegentlich auch in den Märchen
selber zum Ausdruck gebracht. So will der König in einem münsterländischen
Märchen gar nicht glauben, daß sein wunderbarer Helfer ein Mensch
ist, sondern hält ihn für einen Engel oder gar Gott selbst; auch in
einer schwedischen Fassung sieht er ihn für einen Engel vom Himmel an, und
in der seltsamsten Weise wird die übermenschliche Erscheinung des
Schlachtenhelfers in einer lothringischen Version zum Ausdruck gebracht. Denn
dort reitet der Held aus Versehen ein morsches Feldkreuz um, es bleibt ihm aber
an der Schulter hangen, und darum bilden sich die Gegner ein, Christus selber käme
da auf sie losgestürmt. Derlei Einsprengsel des heutigen Märchens sind
wohl als ein ferner Abglanz aus der Zeit anzusehen, da man noch die eigentliche
Natur solcher Märchenmotive durchschaute.
Wie lange ist das
eigentlich her?
Das weitere Verhalten des Grindkopfes wie auch des
Glasbergreiters ist höchst sonderbar. Sein Ziel ist doch, die Prinzessin zu
erringen. Warum darf er sich dann am Ort seiner Taten nicht zu ihnen bekennen?
Warum muß er sich, um die Anerkennung als würdiger Freier zu
erlangen, erst ins Bein schießen lassen? Wozu die Umstände, das
Wiederumkleiden in die Alltagstracht und das Aufdecken der Wunde? Offensichtlich
handelt es sich da um die Verkörperungsfrage. Hat die Prinzessin das
Goldhaar erblickt, dann hat sie den Helden auch schon im Wesen erkannt. Doch
grade das Motiv der gebrandmarkten Schwäger zeigt es deutlich, daß
die Wesensschau der Prinzessin allein - ohne Folgen bleibt.
Im Märchen
vom Eisenhans weiß die Prinzessin, daß unter dem täuschenden Hütlein
- oder dem Schafsmagen anderer Fassungen - kein Grind, sondern Gold verborgen
ist. Aber die bloße Enthüllung brächte keine heilvolle Lösung,
weil es an den Augen fehlte, die das Gold zu sehen vermöchten, das innere
Licht. Offenbar müssen sich die schamanische Bewährung und die
Identifikation miteinander verketten. Denn für jeden anderen als die mit
seherischen Augen begabte Liebende fallen der Grindkopf und der Schlachtenheld
weit auseinander.
Der Schuß ins Bein aber bedeutet das, was man
der im Windwirbel fahrenden Hexe, dem in Tiergestalt streunenden Zauberer zufügen
[138] kann: man kann sie verletzen und findet sie daheim
mit eben der Wunde, die man ihnen zufügte, ja, sogar mit dem Messer, das
man ihnen in den Wind oder den Tierleib warf. Ebenso findet der König seine
Lanzenspitze in der Wunde des Schwiegersohnes.
All dies
zusammengenommen, die Geisterreitpferde aus dem Ritus des Draußensitzens,
die geisterhaften Ritte, dle fremdartige Lichtnatur am Ort des Wirkens,
verbunden mit der Unmöglichkeit des Erkanntwerdens dortselbst, die
Notwendigkeit einer Verwundung in diesem Zustand, damit die Identifikation am Königshof
möglich wird - bezeugen die seelenhafte Wirklichkeit des Geschehens und nötigen
zu der Annahme, daß nach dem eigentlichen Märchensinn der
Glasbergreiter zugleich hinter dem Ofen «schläft», der
Schlachtenhelfer «schlafend» im Sumpfe steckt.
Es ist an
dieser Stelle sicherlich passend, nach der Natur nicht nur der Sache, sondern
auch der Erzählung zu fragen. Was war es, wovon diese Märchen erzählten,
war es ein Ereignis, das sich so zugetragen hatte, war sein Inhalt sozusagen
historisch?
Gewiß war es so nicht; das Märchen erzählt
nicht sagenhaft markierend, sondern typisierend. Es berichtet nicht von der
abgelaufenen Wirklichkeit eines Helden, sondern von der sinnvollen Möglichkeit
jedes Helden. Ein russisches Märchen, das mit der Grabwache beginnt, zieht
ganz am Ende daher auch den allgemein bedeutenden Schluß, der, in
entsprechender Weise abgewandelt, für zahlreiche Märchen gelten könnte:
«Da erfuhren dann die Brüder, was es bedeutete, auf dem Grabe des
Vaters zu schlafen.» - Dabei bezieht sich das Wort schiafen nicht etwa auf
den gewöhnlichen Dunkelschlaf, sondern eben auf die erfolgbringende
Grabwache des Jüngsten.
An die verschiedenartig ausgebildeten Motive vom nächtlichen Draußensitzen schließt sich die Erzählung von einer anderen Nachtwache an, AT 304, die im Gegensatz zu jenen überwiegend seherischen Erlebnissen erfüllt ist von einenm vielfältigen und, wie es den Anschein hat, raumesmächtigen Handeln. Auch hier tritt eine Teilung ein in Wachende und Schlafende, aber so, daß auch die Schlafenden zur Stelle sind und deswegen später bezweifeln, daß die Fülle des Geschehens in jener Nachtstunde abgerollt sei. Das Märchen kommt auch bei den Brüdern Grimm vor, entbehrt dort aber einiger charakteristischer Züge. Eine schöne vollständige Fassung hat Wilhelm Wisser aus lückenhaften Varianten mit sicherer Hand zusammengestellt. Die Form, in der er das Märchen erzählt, wird bestätigt durch Versionen aus einem weiten Bereich.
Drei Brüder befinden sich auf der Wanderung und überlassen die Mitternachts- [139] wache dem jüngsten. Nach anderen Fassungen gehört zu den Schläfern auch noch die Mutter. In diese einsame Nachtwache unter den Schlafenden drängt sich nun ein übervolles Geschehen. Wir folgen der holsteinischen Variante auch deswegen, weil sie erklärt, wie der Jüngste in den Besitz der Waffe gelangt. Denn es ist ganz und gar sinnvoll, daß das Geschehen «mit nichts» anfängt und in immer bewegtere Formen hineinläuft, und es hebt an mit dem Erlöschen des Feuers und der Suche des Jungen nach einem Brand.
Der Wächter geht also den Umkreis im Walde ab, hört Stimmen aus einem Hause, die ihm verraten, daß eine Büchse draußen am Baume hängt, er nimmt sie an sich, findet angesichts eines Wolfes, daß sie lautlos und ohne Nachladen tötet, trifft auf drei Riesen, führt sich bei diesen durch neckende Schüsse ein, mit denen er ihnen Fleisch und Schnaps aus den Händen schießt, und wird von ihnen zum Bundesgenossen angenommen für den Überfall auf eine Burg. Hier wiederholt sich das Motiv: kleiner Anfang, große Folgen, denn die gewaltigen Riesen können in die Burg nicht eindringen, weil ein einziges Hündchen dort die Mitternachtswache hält und durch sein Bellen unfehlbar die Besatzung weckt.
Der Held muß also den Hund erlegen, schlüpft als Späher in die Burg, findet in drei aufeinanderfolgenden Gemächern den König, die Königin und die verlockend schöne Tochter schlafen - also auch auf der Burg ringsum tiefer Schlaf. Er legt sich zu der Schönen ins Bett, die von seiner Umarmung nicht aufwacht, und nimmt ihr einige Wahrzeichen ab als Ring, Tuch und Schuh. Er findet das Märchenschwert an der Wand und den Krafttrunk dazu, köpft die Riesen einen nach dem anderen am Schlupfloch, bringt das Schwert an seinen Ort, steigt den Burgberg hinab, geht durch den Wald zurück, hängt die Büchse wieder an den Baum, facht das Wachtfeuer an, weckt den Bruder zu seiner Wache und legt sich nieder, als sei nichts geschehen - da doch sein Schicksal sich völlig gewendet hat. Und wie sein Leben von grundauf verwandelt ist, freilich noch in tiefer Verborgenheit, so auch die Schicksalslage der Königsburg. Sie ist von der Bedrohung durch die Riesen endlich befreit, und im Schoße der Königstochter wächst heimlich der Reichserbe heran. Doch dauert es noch länger als eine Schwangerschaft, bis das Geschehen einer Nachtwache vollends an den Tag kommt.
Als sich herausstellt, daß die Prinzessin ein Kind erwartet, weiß sie zwar von dessen Vater nichts, doch lassen die Ereignisse jener Nacht es vermuten, daß der Riesentöter bei ihr gelegen hat. Nach der Geburt des Sohnes wird an der Landstraße daher ein Gasthof erbaut, dort empfängt die Prinzessin selber als Wirtin die Gäste und läßt sich von jedem gegen freie Beköstigung das Abenteuer seines Lebens erzählen. Auf diese Weise erkundet sie den Vater ihres Kindes.
[140] Die Schwängerung
ist nicht in allen Fassungen enthalten; daß sie dann unterdrückt
worden ist, wird bisweilen eingestanden, so bei Haiding, oder angedeutet und läßt
sich manchmal erraten - dann etwa, wenn das Gasthaus an der Straße bewahrt
geblieben ist; denn seinen Sinn erhielte es ja nur von einer Kindesmutter, die
den Vater herausfinden muß. Das Erzählen hebt an bei den Schläfern
jener Nacht, den Brüdern, die nichts Wichtiges erlebt haben. Danach beginnt
der Held mit seinen Eröffnungen, oftmals unterbrochen von den Seinen, die
zu wissen glauben, daß in ihrer kurzen Schlummerweile sich all das nicht
zugetragen haben kann, was jener auftischt.
In osteuropäischen
Fassungen, auch in einer kabylischen und einer holsteinischen Fassung wird die
zeitliche Unmöglichkeit all jener Großtaten noch dadurch sinnvoll
unterstrichen, daß der Held, als er sich aufmacht vom erloschenen
Wachtfeuer, auf die Wesen stößt, die Tag und Nacht zeitigen, und sie
fesselt oder bedroht er, daß sie mit ihrem Werk innehalten, bis er
wiederkehrt: ein merkwürdiges Symbol dafür, daß sich die
gewaltigen Taten jener Nacht im zeitlosen Nu vollzogen haben.
Ist nun
auch dies sinnvolle Motiv auf einige wenige Fassungen beschränkt, so
scheint mir der gleiche Sinn: Fülle des Wirkens jenseits der Zeit, doch
ebenso in den andern zu liegen. Sie bringen dies zum Ausdruck in dem Protest der
Schläfer gegen die «Lügen» des Wächters, da er unmöglich
all das, was er vorgibt, in der kurzen Frist seiner Nachtwache vollbracht haben
könne. Dieses Zeugnis mit dem Zeitigungssymbol zusammengenommen, drängt
zu der Annahme, daß der Wächter, gemäß den Vorstellungen
der ursprünglichen Erzähler oder Erfinder dieses Märchens, während
seiner ungeheuren Taten nicht tagwach gewesen ist. Er hätte in einem
wunderbaren Schlafe gelegen, in einem Zauberschlaf, der selbst in jenem
Zeitraum, den das Wachen nur allzu kurz bemißt, eine Lebensfülle
bereitgehalten hätte für Verrichtungen und Einwirkungen, denen er als
Wachender in keiner Weise gewachsen gewesen wäre.
Gegen eine solche Auffassung vom ursprünglich
gemeinten Sinn des Ablaufes könnte eingewendet werden, daß die
Prinzessin nach dem Besuch des Jüngsten wirklich schwanger ist, daß
sie gebiert und für das Geborene nach dem Vater sucht: wäre aber
dieser ein Seelenfahrer, so schiene eine Schwängerung im körperlosen
Zustande schwerlich denkbar. Indes kann ein solcher Einwand nicht
ausschlaggebend sein. Die altertümlichen Vorstellungen waren in diesem
Bereich von den unsrigen gründlich verschieden. Gab es doch bis in unsere
Zeit hinein Völkerschaften, die den leibhaften Beischlaf sogar als für
die Empfängnis [141] unwesentlich ansahen und
ihre Ursache in den tieferen Vorgängen, im Bereich der Seelen nämlich,
suchten. Für das Verständnis der Märchen aber sind allein die
altertümlichen Anschauungen entscheidend, und die heutige Ansicht von der
Physiologie der Zeugung findet in unseren Überlegungen daher keine Statt.
Überdies kommt im typischen Zaubermärchen die Geschwängerte
überhaupt nur als Schlafende vor: Dornröschen, die Schöne Schläferin,
AT 410; die Prinzessin am Lebensquell, AT 551, und eben das Burgfräulein in
unserem Typ Nachtwachenabenteuer, 304. Für einen in die Tiefe gehenden
Vergleich scheidet die Schlafende Schöne aus, weil das Motiv dort bereits
kunstmäßig verändert, nicht altertümlich verwendet ist. Der
Typus 551 aber, mit dem Motiv der Klappfelsen oder Eisentore, mit dem Wasser des
Lebens hinter diesen und der wundersamen Natur der Braut, bestätigt die
Vermutung, daß die Stätte dieses Wesens nur in einer Ekstasis
erreichbar ist und daß sich die Schwängerung wirklich in einem rein
seelischen Beilager ereigne.
wz: Ein Beispiel hierfür ist Höhle und Däumling.
Liefert dergestalt die schlafende Braut der
Typen 304 und 551 für unsere Thematik, für den Märchenschlaf
eines der auffälligsten und zugleich seltsamsten Beispiele, dann stoßen
wir in dieser Gestalt auf eine weitere eigenartige Verflechtung des
Schlafmotives. Erscheint der Zeugende als fahrende Seele, dann die Empfangende
nicht etwa als leibgebundenes Menschenweib, sondern als Jenseitige mit einem
dieser Natur entsprechenden «Leibe». Hätte sich damit die Frage
nach der ekstatischen Zeugung verdoppelt, so wäre dies doch nur beiläufig
zu erwähnen. Wichtig für den gegenwärtigen Gedankengang ist
vielmehr das Motiv einer schlafenden Jenseitigen oder schlafender Jenseitiger überhaupt.
Durften
wir bei den Unternehmungen des schlafenden Helden bisher annehmen, daß der
Schlaf ein Signum sei für Trance und Ekstasis, dann sehen wir uns nunmehr
einer zweifellos davon verschiedenen Anwendung des Schlafsymbols gegenüber:
nicht nur der Mensch befindet sich daheim, an der Leibesstatt im Schlafe,
sondern auch das Wesen drüben wird an seiner Stätte vom Weltenfahrer
schlafend vorgefunden. Und nicht nur die Braut: außer dem Hündchen
liegt in dem Typus Nachtwachenabenteuer alles im Schlaf.
Mir scheint,
daß sich darin ein doppelter Sinn ausspricht, der an seinem Ursprung aber
doch einheitlich sein könnte. Zunächst einmal möchte der Schlaf
der Jenseitigen das Signum dafür sein, daß zwar der Fahrende dem körpergebundenen
Zustande entrückt sei, daß er aber nicht etwa dadurch schon zu einer
unmittelbaren Begegnung mit Jenseitigen befähigt sei. Diese befänden
sich in einem wiederum anderen Zustand, in welchen einzudringen es noch eines
weiteren Schrittes bedürfte.
In dem Typus 550, der ersten Unterart
des Goldvogels, stiehlt der Prinz nacheinander drei Wesen von immer gesteigerter
Kostbarkeit: Vogel, Roß und [142] Braut - oder
orientalisch in der Reihung Vogel, Braut und Roß. Anfangs wird er bei den
Beuten jedesmal ertappt und kann sich vom Todesurteil nur so lösen, daß
er das kostbarere Gut zu rauben verspricht. Da Diebe des Nachts zu kommen
pflegen, ist der Schlaf der jeweiligen Besitzer nichts Auffallendes, und er wird
daher von manchen Erzählern als Selbstverständlichkeit nur beiläufig
erwähnt. Ganz unerwartet erscheint es dagegen, daß auch die just zum
Schutze des köstlichen Gutes eingesetzten Wächter immer schlafen, so
daß jedesmal der ganze Bereich um Vogel, Roß und Jungfrau als Stätte
eines tiefen Schlafes erscheint. Daher sind es oftmals gerade nur die drei Wesen
selbst, die mit ihrem Laut, wenn der Dieb sie antastet, mit Vogelruf, Wiehern,
Aufschrei den Alarm auslösen.
In vielen anderen Varianten aber,
und das erscheint höchst bemerkenswert, ist es gerade nicht der Griff nach
der zentralen Kostbarkeit, der den Bannkreis aufschrecken läßt,
sondern das Berühren eines stummen und vergleichsweise belanglosen
Gegenstandes - also Käfig oder Sitzstange des Vogels, Schal der Prinzessin,
Halfter, Sattel, Strick des Pferdes, ja, in einer walachischen Fassung weckt das
bloße Streifen der Wand die Wächter, und zwar dies allein, und nur
davor warnt den Prinzen sein tierischer Helfer.
Das Motiv wird des öfteren
noch dadurch untermalt, daß von den Dingen Fäden oder Drähte zu
Glöckchen verlaufen oder sogar zur Bettstatt des Königs und damit das
allseitige und augenblickliche Aufwachen bewirkt wird. Die seltsame
Allgemeinheit des Tiefschlafes wird in manchen Fassungen noch besonders dadurch
unterstrichen, daß die bewachten Zugänge vervielfältigt sind. So
muß in einem üsbekischen Märchen der Prinz an zehn Posten vorüber
und muß vierzig Gemächer durchschreiten. Das Absonderliche dieses
Weges wird noch betont, wenn er in einer anderen Fassung durch vierzig Tore
gehen muß, an derer jedem zwei Dive sitzen, von denen der helfende Wolf
doch von vornherein weiß, daß sie nicht erwachen werden -
ebensowenig wie das schreckliche Ungetüm an einem anderen Stadttor. Im
bulgarischen Märchen sind ein großes Tor mit zwei Wächtern und
siebenundsiebzig kleinere mit je einem Bewacher zu durchqueren, und keiner
dieser Wächter schläft; aber den Prinzen sehen sie trotzdem nicht..
Der
Alarm durch Ding- oder Wandberührung, die Allgemeinheit des Schlafes bei
allen Bewohnern bis zu den Wächtern hin, die Unsichtbarkeit des
Eindringlings im letzten Beispiel: alle diese Züge scheinen ausreichend zu
bezeugen, daß der Schlaf hier vorwiegend als ein Signum der
Zustandsverschiedenheit aufzufassen ist. Erst durch einen Fehler des
Eingedrungenen, einen zunächst zu vermeidenden Übergriff wird
blitzartig eine Brücke zwischen den beiden Daseinsarten geschlagen, und
jene anderen Wesen nehmen die Anwe- [143] senheit und
die Absicht des Fremdwesens wahr. Es ist klar, daß dieser Mißgriff,
wie zahlreiche andere Fehlhandlungen im Märchen, zum Erreichen des höchsten
Zieles erwünscht und notwendig ist.
Daß auch das gesamte
Geschehen erwünscht und notwendig ist, scheint im ersten Augenblick nur für
das Diesseits zu gelten, das um die Kostbarkeiten von drüben bereichert
wird, aus dem Reich der Essenz, das unerschöpflich ist an Wunschkleinoden,
die das hiesige Leben erhöhen. Doch auch das Jenseits empfängt; gerade
in solchen Spendungen leuchtet der ihm eigene Sinn auf, wenn es auch nicht jedem
bestimmt ist, ihm seine Herrlichkeiten zu entreißen.
Der den Weg dorthin findet und das Gut mit heimzubringen
vermag, er entfacht auch in jenem Bereich das Lebensfeuer neu.
Das
Gegenbeispiel liefert eine Erzählung der Tungusen, die in ironischer Weise
den Versuch eines reichen, nicht schamanisch initiierten Mannes schildert, in
die Oberwelt zu gelangen. Er gewinnt ein Vogelwesen dafür, ihn in einem
Kasten dorthinaufzuschleppen, und als er nach einem sterbenslangweiligen Jahre
endlich ankommt, zeigt es sich, daß er den Wesen dort oben unsichtbar ist.
Er weiß nichts Besseres zu tun, als einem Mädchen die Hand in den
Busen zu stecken, und das «verliert darüber den Verstand». Auch
ein geschwind beigezogener Schamane vermag den die Krankheit erregenden
Eindringling nicht zu erkennen; erst ein großer Schamane erblickt ihn
sogleich und bringt den Mann auf den Rückweg, den er inzwischen auch
vergessen hatte.
Den Schlaf, der das jenseitige Schloß umfängt,
haben wir zunächst als Ausdruck einer bloßen Zustandsverschiedenheit
angesehen; darüber hinaus müssen wir ihn nun auch als das Merkmal der
Abgeschiedenheit erkennen, in der seine Bewohner von der Heimwelt des Wanderers
leben: die beiden Welten berühren sich nicht. Liegt aber wirkliches Leben für
beide Welten nur im Austausch, so erscheint dessen Fehlen als Unerlöstheit
jener Welt, und in der Tat werden ja die schlafenden Jungfrauen im Goldvogelmärchen
zweiter Art, AT 551, und im Nachtwachenabenteuer durch den Brückenschlag
des Prinzen, durch das Beilager «erlöst». Und nicht nur das junge
Weib - ihr ganzer Hofstaat, ihr ganzes Reich erwacht. In dieser Hinsicht verläuft
auch das Märchen vom Dornröschen beispielhaft; mit dem Mädchen
war das ganze Schloß in Schlaf und Abgeschiedenheit verfallen, mit ihm
erwacht es auch wieder zur Welt.
Daß der Schlaf der Jenseitswesen
sie abschirmt gegen ihre diesseitige Wirkungsmöglichkeit ist ein bekanntes
Motiv der Sage. Davon wird zumal im Zusammenhang mit jenen Wunderbergen erzählt,
in denen die großen Toten mit ihrem Gefolge auf den Tag erneuerten Wirkens
warten. Was sie eigentlich einschränkt [144] und
was in ihrem Schlafe zum Ausdruck kommt, ist aber dies: daß sie am
gemeinen Zeitverlaufe nicht teilhaben. Denn in ihn einzutreten vermöchten
sie nur an ihrem vorbestimmten Tage und würden mit ihrem Eintritt der
Heillosigkeit der entlichteten Zeit zugleich das Ende bereiten. Nach diesem
Zeitpunkt, ihrem Kairós fragen sie, wenn ein Lebender bei ihnen einkehrt:
«Ist es noch nicht Tag? - Ist's Zeit? - Welche Zeit ist's auf der Welt? -
Fliegen die Raben noch um den Berg?» Stets bleibt die erwünschte
Antwort aus, der Schlummer hüllt sie wiederum ein, und auch der Lebende,
ist er nicht achtsam, wird von ihm überfallen und entrinnt ihm erst wieder,
wenn ein Cyclus der Totenzeit über ihn hingegangen ist, sieben oder gar
hundert Jahre.
Ein sehr altes Zeugnis für einen schlafenden Jenseitigen im nordwestlichen Europa hat die antike Literatur bewahrt. Kronos, der Gott eines Goldenen Zeitalters, wurde nach seinem Sturz von Zeus auf einer Insel im Westen von Britannien eingekerkert, er «sei schlafend von einer tiefen Höhle aus goldfarbigem Gestein umschlossen; der Schlaf sei als Fesselung von Zeus über ihn verhängt...» Er werde von Dämonen betreut, die ehedem, zur Zeit seines Königtums, seine Gefährten gewesen seien. Diese seien zukunftskundig, und das Wichtigste, was sie zu künden wüßten, seien die Träume des Kronos. «Denn alles, was Zeus vorausplane, das träume Kronos.»
Diese Polarität von träumender und
planender Gottheit, vom verborgenen und offenbar tätigen Gott, zeigt in
einer sehr schönen Weise die altgedachte Zusammengehörigkeit und das
Aufeinanderangewiesensein der beiden Welthälften, die wir Jenseits und
Diesseits nennen, der unausgeborenen und innerlich wirkenden und der ausgeboren
im Raume wirkenden Seite.
In diesem Sinne dürften wir
versuchsweise auch sagen, obwohl wir einen noch umfassenderen Sinn damit nicht
einschränken wollen, daß der Goldvogel, das Zauberpferd und die
wunderbare Braut Träume der Jenseitigen sind, die der Sendling aus unserer
Welt im hiesigen Reiche verleiblichen wird.
Der Ritt auf den Glasberg, die Schlachtenhilfe,
die der Schützling des Eisenhans bringt, die Jagderfolge des verkannten
Schwiegersohnes - sind möglicherweise Zeugnisse für eine sehr
lebhafte, höchst wirkungsvolle Tätigkeit in einem schamanischen
Zustande, also Beispiele seelischen Wirkens bei fühllos tief entschlafenem
Leibe. Die Sage hat uns gelegentlich ausnahmsweise noch den Anblick beider
Seiten aufbewahrt, bei den Hexenausfahrten nämlich sowohl das Bild der
Seelentätigkeit wie des Leibesschlafes. Vom Märchen können wir
[145] dergleichen grundsätzlich nicht erwarten,
da seine Handlung, wie wir oben betonten, sich gänzlich im Bereich des
Erscheinens abspielt, eines Erscheinens ohne das Hin und Her zwischen
verschiedenen Zuständen. Wo aber das Märchen uns selber zugleich das
Bild von Tun und Schlaf darbietet, verteilt es folgerechterweise beides auf
verschiedene Personen. Besonders deutlich wird dies ausgedrückt beim
Nachtwachenabenteuer; es scheint ebenfalls mit einer gewissen Abwandlung
dargestellt zu sein in der Schilderung der Arbeiten, die der Unterweltsherr dem
Helden auferlegt in der Aufgabenfassung des Märchens von der magischen
Flucht - AT 313.
Dort verlangt etwa der Dienstherr von dem Knaben, der
ihm anheimgefallen ist, daß er jeweils in einer einzigen Nacht einen
riesigen Wald abholzt, einen weiten See trockenlegt, ein Feld urbar macht und
bestellt, die Feldfrucht aberntet und ihm am Morgen mit dem frischgebackenen
Brot aufwartet - Aufgaben also, deren Raumes- und Zeitcharakter ihre Erfüllung
in einer leibhaften Welt unmöglich macht. Ja, wir müssen annehmen, daß
der ausgesprochene Zeitcharakter der Aufgaben - Säen, Ernten, Backen - von
Anfang an diesen Teil des Märchens als außerzeitlich kennzeichnen
sollte, als jenseits zeithafter Möglichkeiten ablaufend.
Die Ursprünge
des Märchens liegen nirgends in bandlosem Fabulieren, sondern in der
Erfindung vollkommen sinnerfüllter Zusammenhänge. Da zudem grade
dieses Märchen in verstehbarer Folge auch Grenzmotive zwischen hüben
und drüben enthält und als Abschluß einen diesseitig
verstehbaren Zauber, so werten wir die Natur jener Arbeiten als eines der
sichersten Kennzeichen für die jenseitige Artung der Welt, in der sie als
ausführbar erscheinen. Der Held verzweifelt regelmäßig
angesichts der Maßlosigkeit der ihm auferlegten Fron, aber die Tochter des
Unholds kommt ihm zu Hilfe. Mit höchst seltsamer Eintönigkeit jedoch
fordert sie von ihrem Freunde, daß er sich dem Schlafe hingibt, während
sie für ihn tätig wird. Oft erscheint dieser Schlaf als eine Art
Trost, als Entspannung nach angsterfüllten Stunden nutzloser Mühen.
Doch diese psychologische Motivierung, die einer heutigen Zielform angemessen
erscheinen mag, dürfte kaum dem ursprünglichen Sinne zugehören.
Auch ist die Verknüpfung durchaus nicht immer aufs Ausruhen abgestellt. In
einer pommerschen Fassung heißt es in allen drei Notlagen des Helden: «darauf
mußte er sich schlafen legen«, und wenn er erwacht, ist die Arbeit
fertig. Eben diese Formel «mußte er schlafen» bietet ein münsterländisches
Märchen.
Ganz besonders eigenartig faßt ein japanischer Erzähler den «Arbeitsschlaf» des Mannes auf. Hier muß er als erstes zehn Quadratkilometer Bergwald abholzen; doch gibt ihm seine Frau dazu nur einen Rat, wirkt selbst gar nicht [146] mit. Er soll nur drei große Bäume fällen und sich dann eine Weile, mit den Baumstümpfen als Kissen, schlafen legen. Ganz ebenso, wenn er dieses Feld umbrechen soll, genügt es, drei Soden umzuwerfen, sie als Kissen zu verwenden und eine Weile darauf zu schlafen. Ähnlich verfährt er beim Pflanzen der Melonen, und zu ihrer Ernte braucht er auch nur drei von ihnen abzupflücken, den Kopf darauf zu legen und ein Weilchen zu schlafen. Da hier die zaubrische Hilfe des Weibes ganz entfällt, liegt um so mehr Gewicht auf dem eigenen «Wirken» des Mannes in seinem zauberhaften Schlaf.
Wieder anders faßt ein Zigeunermärchen den Zusammenhang auf und gibt einen zwingenden Grund dafür an, daß der Held schlafen muß: die Helferin «wartete, bis er fest schlief, denn niemand durfte sehen, was sie vermochte».
Es braucht auch diese Begründung des Schlafes nicht die ursprüngliche zu sein, aber sie zeigt ebenfalls, daß die Erzähler auch ganz andere Gründe als die Ermattung erwogen haben für dieses Schlafen in einer nothaften Lage, die nach rührigstem Handeln zu verlangen scheint. Allerdings mag die zigeunerische Begründung wirklich naheliegen, da man auch aus anderen Fassungen den Eindruck gewinnt, daß die der Unterweltstochter zur Verfügung stehenden Gewalten nur im geheimen, nicht unter einem zuschauenden Auge wirksam werden können.
In reizvoll entstelltem Deutsch erzählt eine wolhynische Fassung, wie das hilfreiche Mädchen den Helden auffordert: «'Jetzt leg dir hin und schlaf schön!' Und die älteste Tochter hat zaubern gekonnt - und gekonnt mit die ganze Tote regieren. Wenn sie hat gewollt, sind die ganze Tote aufgestanden und bei ihr gekommen. - Dann war es zwölf in der Nacht, ist sie herausgegangen auf den Gang und hat losgetrompetet und losgepfiffen, sind die ganze Tote auferstanden und bei ihr gekommen und gefragt, was sie will.»
Es ist wohl glaublich, daß auch in anderen Ausbildungen des Motives über der wimmelnden Fülle hilfreicher Wesen, die aus dem Erdboden hervorbrechen, der Zauber des Geheimnisses liegen muß, damit sie wirksam werden können.
In der Paderborner Fassung der Brüder Grimm bewegt die Königstochter den Verzweifelten erst zum Essen - eine häufig vorkommende Einzelheit - dann dazu, sich von ihr lausen zu lassen, worüber er einschläft, und nun schlägt sie mit einem geknoteten Tuch auf die Erde und ruft: «Arweggers herut!» Sogleich kommen viele Eerdmännekens hervor, und die bieten, als sie ihr Begehren vernommen haben, für das Werk noch ihre gesamte Verwandtschaft auf - KHM 113.
In einer Fassung Wissers schlägt die Helferin, die Prinzessin, die dort gleichfalls eine Gefangene sein soll, mit einem weißen Stäbchen an einen Stein und sagt: «All ihr kleinen Däumerlinge meiner Mutter, kommt heraus!»
Es ist unwahrscheinlich, daß die «Mutter»
in diesem Falle die Mutter der Prinzessin [147] ist,
sondern mit dem Wort muß wohl die Macht gemeint sein, die auch sonst in
diesem Märchentyp in jenem Bereich die Herrschaft ausübt, also die
Herrin der Unterwelt als Totengottheit oder Erdgöttin. Ist es so, dann
spricht weiterhin eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß jenes
zahlreiche Volk, das unter dem Stein und aus dem Erdboden hervorquillt, dem
ursprünglichen Verstande nach die ungeheure Schar der namenlos gewordenen
Toten war.
Es dürfte wohl nicht nur im alten China so gewesen
sein, daß der Ahnendienst lediglich die Toten weniger Generationen als
namenhafte Einzelne festhielt. Sondern weithin muß es dem Wesen der Zeit
entsprochen haben, dem Verhältnis der Lebenden zu den Vorausgegangenen, daß
mit einem neuerlichen Todesfall der älteste der Ahnen, deren man noch
namentlich gedachte, in die ungeheure Schar der namenlos gewordenen und nur im
ganzen mitverehrten Toten einrückte. Es sind diese, die in der Sage als
Bewohner von Hünenbetten und Grabhügeln, als die Unterirdischen, die
Kaboutermannekens, die Zwerge geschildert werden oder als Sidhe in den irischen
Hügelgräbern.
Das wolhynische Märchen enthüllt ohne
Umschreibung, anders als sonst die Märchen sich auszudrücken pflegen,
die Identität der unterirdischen Helfer mit den Worten 'alle Toten'. Diese
Identifizierung in einem Märchen, dessen Handlung in diesem Teile typgemäß
ohnehin in der Unterwelt spielt, ist mithin für «richtig» zu
halten, das heißt der Vorstellungswelt entsprechend, in der dieses Märchen
insgesamt wurzelt.
Um so eindeutiger erscheint alsdann auch die Verknüpfung
zwischen Totenhilfe und Schlaf; denn die Rollen des Helden, seiner
schutzbietenden Helferin und der von ihr herbeigerufenen Totenseelen sind gerade
einem Wirkungszusammenhang ähnlich, wie er auch im Altertum, im urvölkerlichen
Bereich und seit zweihundert Jahren auch bei uns wieder erlebt worden ist.
Die
Spritisten sprechen von dem - hypnotisch - schlafenden Medium, dem sogenannten
Kontrollgeist und den von diesem vermittelten Totenbegegnungen. Diese Art von
Dreifaltigkeit entstammt ganz und gar nicht, wie man vielleicht argwöhnen könnte,
irgendwelchen Vorurteilen einer spiritistischen Theorie, sondern sie hatte sich
auch früher schon und ganz spontan verwirklicht in den
Somnambulenbeobachtungen der Mesmeristen. Überdies entspricht sie genau dem
Zusammenwirken des trance-fähigen Schamanen mit seinem Haupthilfsgeist, der
die anderen jenseitigen Helfer ins Spiel bringt und lenkt.
Dabei ist
immer wieder zu betonen, daß es für das Verständnis des Märchens
völlig belanglos ist, welche Art objektiver Geltung man den
schamanistischen, den mesmeristischen und den spiritistischen Beobachtungen
zuschreibt. Von Bedeutung ist allein, daß diese Beobachtungen an
innerseelischen Vorgängen im Hochschlaf gemacht worden sind und daß
sie daher als beobachtete und [148] pflegenswerte
Erscheinungen für das Altertum und ebenso für die wirkliche Umwelt der
märchenschöpferischen Vorzeit vorausgesetzt werden dürfen.
Die
Vergleichsmöglichkeit zwischen dem Märchen und den Beobachtungen der
mesmeristischen Ärzte bezieht sich allerdings nur auf die hier
herausgehobene Situation, den ersten Hauptabschnitt des Märchens. Denn wenn
die Gesamthandlung überdies noch abzielt auf die Überführung der «Kontrollgeistin»
in die leibhafte Welt und ihre Vermählung mit dem Helden, dann fehlen uns
dazu allerdings die durchaus paßgerechten Parallelen aus unserem
Zeitalter. Daß auch das Märchen den Übergang aus der Macht der
Unterweltsherrscher in das diesseitige Reich als einen Ablauf betrachtet, zu dem
es besonderer Kunstgriffe bedarf, zeigt es durch die stufenweise und
hindernisreiche Verwirklichung des Zieles mit aller Klarheit. Insofern die
Kunstgriffe aber selbst für unser noch hinkendes Verständnis
zielgerecht erscheinen, beweisen sie zugleich, daß wir uns mit der
Gesamtdeutung des Märchens nicht auf einem Irrwege festsetzen.
Haben wir bisher nach den Motiven schauenden
Schlafens eine ganze Reihe von Beispielen wirkenden Schlafens angeführt,
dann ist es an der Zeit, uns an die anfangs gestellte Frage zu erinnern: Warum
legt sich der Drachenkämpfer in äußerst heikler Lage schlafen,
warum schläft er einen nahezu unerwecklichen Schlaf? - Die Frage ist in der
Tat besonders schwierig, weil uns das Drachenkampfmärchen selbst keine
Anleitung gibt, den Beweggrund des Helden ans Licht zu bringen. Freilich haben
wir sogleich aus der Welt des alten Nordens Beispiele angeführt für
schlafende Streithelden, die, während sie im Hause auf der Bank lagen,
zugleich im Felde in Tiergestalt gewaltige Kampfleistungen vollbrachten. Diese
Beispiele für sich waren freilich noch nicht ausreichend, um das isolierte
Motiv des vor seinem Kampfe schlafenden Drachentöters im gleichen Sinne zu
deuten. Indessen haben wir nun etliche Märchenwettkämpfe und Märchenschlachten
angeführt, bei denen ein Schlaf des Helden, verbunden mit schamanischer
Kraftwirkung vor Ort, außerhalb des Leibes, nicht ganz unwahrscheinlich
ist. In Analogie dazu müßten wir die Annahme machen, daß die Träne
der Königstochter den Helden durchaus nicht vom Nachtschlaf ins Tagwachen
befördert, nicht ihn weckt im gewöhnlichen Sinne, sondern daß
sie in seinem Schlafe eine Zustandsänderung herbeiführt, die es ihm
ermöglicht, dem erscheinenden Drachen siegreich entgegenzutreten. Freilich
zwingt uns die Aufhellung des Schlafmotivs unausweichlich dazu, auch vom
Drachenkampf eine eigene Vorstellung zu entwickeln - ebenso wie von jenem
fossilen Ungeheuer selbst namens Drache.
[149]
Wir suchen zunächst Hilfe bei einem Drachentötermärchen, in dem
in der Tat während des Kampfes geschlafen wird: bei dem russischen Dreibrüdermärchen
vom Sturmhelden Iwan Kuhsohn, das als Typ «Der Kampf auf der Brücke»
genannt wird, AT 300A, und das auch allgemein verbreitet ist, nach Thompson vor
allem im Osten: von Deutschen, Balten, Slawen, Rumänen und Ungarn bis zu türkischen,
finnischen und ugrischen Völkerschaften hin.
Das Märchen steht in einem ganz bestimmten Sinnzusammenhang mit dem «normalen» Drachentötermärchen AT 300 wie auch anfangs mit dem Zweibrüdermärchen, in dem ja auch der Drachenkampf eine entscheidende Rolle spielt. Im Brückenkampfmärchen werden die Heldensöhne nämlich ebenfalls auf wunderbare Weise gezeugt. Während aber im Zweibrüdermärchen der Fisch aus dem Menschenweibe in Zwillingsbrüdern wiedergeboren wird, aus der Stute in Zwillingsfohlen und aus den Gräten unter der Dachtraufe wiederauflebt in Gestalt von Waffen, so wird in jenem russischen Märchen der Fisch dreifach in menschlicher Gestalt geboren: aus der Königin, die den Fisch verspeist hatte, als Iwan Zarewitsch; aus der Magd, die davon gekostet hatte, als Iwan Magdsohn und aus der Kuh, die vom Spülwasser geleckt hatte, als Sturmheld Iwan Kuhsohn. Alle drei werden am gleichen Tage geboren, sie sehen einander völlig gleich, tragen alle drei den Namen Iwan und gelten als Söhne des Königs und Brüder, auch der Sohn der Kuh! - was alles dann erst begreiflich wird, wenn sie in mythischem Verstande alle drei Einkörperungen des einen Wesens, der einen Gottheit sind, die sich als Fisch in drei Gebärmüttern hat inkarnieren lassen.
Es ist nun merkwürdig und sicher bezeichnend, daß es zu einem Rangstreit kommt unter den Brüdern, in dem sich schließlich der Kuhsohn als der übrlegene und «älteste» erweist. Trotzdem wird es nie in Frage gestellt, daß die Heldenkämpfe zum besten des Zarewitsch bestritten werden und daß ihm die Königsbraut zuteil wird. Zwischen diesen beiden ist der Magdsohn, nach der heutigen Erzählung, eigentlich funktionslos. Er dürfte aber kaum erst nachträglich als ein beliebter Dritter hinzuerfunden worden sein, sondern war gewiß von Anfang an dabei - und wenn um der Dreizahl willen, dann vermutlich unter anderem deswegen, damit sowohl der Kuhsohn wie der Königssohn im Verhältnis zum Ganzen nicht eine volle Hälfte, sondern nur eine mindre Zahl ausmachen. Im Verhältnis zu dem vollen Vermögen besteht sowohl die königliche Gewalt wie die tiergewaltige magische Streitmacht aus einem bloßen Drittel. Es ergibt sich daraus das Angewiesensein der ererbten Herrscherstellung auf das niedere, aber das heißt auch: auf das tiefer gegründete, nicht mehr nur menschliche Vermögen, auf schicksalsgetragene und schicksalsmagische Kraft.
[150] Der ausschlaggebende Kampf findet auf einer Brücke statt. Die Brüder, die zur Wache aufgefordert werden, schlafen, und in jeder Nacht ist es Iwan Kuhsohn allein, der sich dem Drachen entgegenstellt. Der Drache ist hier, anders als der Lindwurm unserer Sagen, beritten, und wenn er über die Brücke daherdonnert, ist es sein Roß, das die tödliche Gefahr vorwegspürt, die vom Kuhsohne droht. Auch auf der Feindseite zeigt also das Märchen eine gewisse Überlegenheit der Tierkraft im Augenblick schicksalhafter Entscheidung. Zwei Drachen erschlägt der Sturmheld in aufeinander folgenden Nächten und gewinnt ihnen für seine schlafenden Brüder die Rosse ab; in der dritten Nacht, beim Kampf gegen den mächtigsten der Drachen, bedürfte er eigentlich ihrer Hilfe, aber auch diesmal liegen sie in unerwecklichem Schlaf. Er wirft erst den einen Stiefel, dann den anderen gegen die Hütte, in der sie liegen, sie zerbirst, aber sie schlafen fort, und erst wenn er mit einem Keulenwurfe die Stallung zerschmettert, kommen ihre Rosse (!) ihm zu Hilfe, so daß er auch den furchtbarsten der Drachen besiegt und dessen Hengst für sich erstreitet.
Nun aber verbirgt sich der Kuhsohn zum Schlaf unter der Brücke; am Morgen nach dem Erwachen beginnen seine Brüder ihn zu suchen, sie suchen ihn drei Tage lang vergeblich - angesichts der zerbrochenen Hütte, der blutbespritzten Brücke - und entschließen sich endlich, heimzureiten. Da wacht Iwan Kuhsohn auf, erneuert das Hüttchen und reitet mit ihnen von dannen. Aus dem Fortgang sei nur erwähnt, daß der Kuhsohn auch, dank seines seherischen Vermögens, sich und die Brüder vor der zaubrischen Rache der Drachenmutter und ihrer Schwiegertöchter zu beschützen vermag.
Mit dem Märchen vom Kampf auf der Brücke
ist für das Verständnis des Drachentötermärchens
Entscheidendes gewonnen. Denn das Dreibrüdermärchen zeigt mit unüberbietbarer
Deutlichkeit, daß der Heldenschlaf des königlichen Drachentöters
partiell ist, daß zwei Drittel seines Wesens im Tiefschlaf liegen, während
das tierhafte Drittel siegreich den Kampf besteht. Sollte diese Behauptung allzu
gewagt erscheinen, so wäre doch zu bedenken, daß bei der Deutung der
Hinterlassenschaften des Altertums überhaupt nur kühne Schlüsse
weiterführen können; denn vermutlich sind alle zaghaften ohnehin nur
die ein wenig abgewandelten Vorurteile des neuzeitlichen Denkens. Auch ist die
Aussage durchaus nicht bodenlos vermessen. Denn die vitale Einheit der Brüder
hat ihren Hintergrund in jenem sich inkarnierenden Fisch, und ihre funktionelle
Aufgliederung ist gleichförmig mit den beigebrachten altisländischen Überlieferungen.
Jene Streithelden des Nordens liegen ebenfalls mit einem Teil ihres Wesens in
der Halle, in der Hütte und schlafen; zugleich aber kämpfen sie im
Felde als Bär, als Wolf oder Stier gegen den ebenfalls tiergestaltigen
Wesensteil ihres Feindes.
[151] Es stimmt mit
diesen Vorstellungen überein, wenn auch im normalen Drachentötermärchen
vielmals nicht der Held beim Kampf den Ausschlag gibt, sondern die helfenden
Tiere, oft die drei wunderbaren Hunde, oft das Reittier, und zwar nicht nur das
Pferd, sondern auch der Stier, und es taucht in der Heldensage wie im Märchen
gelegentlich das Motiv auf, daß zum Kampfe gegen allerlei dämonische
Wesen wie gegen den Drachen der Held sein Pferd mit Stierhäuten bedeckt,
also, dürfen wir sagen, dem Drachen in einer Stiermaske, sozusagen als
Kuhsohn, gegenübertritt. Zwar stellen die Erzähler das im allgemeinen
so dar, als schütze sich der Kämpfer auf diese Weise gegen
Drachenfeuer und Drachenbiß; in Wahrheit aber dürfte es sich doch
ursprünglich um eine Verkleidung gehandelt haben, um die Tierlarve
desjenigen, der mit der durch das Tier symbolisierten Wesensmacht gegen den
Drachen streitet. Überhaupt schützt den Mann gemäß altertümlicher
Auffassung, etwa im Schilde, niemals ein bloß stoffliches Holz oder Leder,
sondern auch in diesem wesentlich immer noch der helfende Baum, das helfende
Tier.
Die drei Iwane oder zu deutsch die drei Hänse sind also in
Wahrheit ein einziger Hans, erzählerisch entfaltet in Gestalt einer
Dreiheit, da nur auf diese Weise wichtige Züge des Geschehens, so wie es
sich im seinerzeitigen Denken abbildete, aufgewiesen werden können. Eine
solche Darstellungsweise ist für die vom ritualistischen Denken bestimmte
Phase des Altertums nichts Einmaliges. So liegt der Ursprung des indischen Epos
Mahabharata keineswegs in historischen Rivalitäten und Schlachten, sondern
in den der Epoche entsprechenden Bemühungen des ritualbezogenen Denkens. Im
Dienste seiner Erkenntnisse, zwecks ritualgnostischer Durchleuchtung der
altindischen Königsweihe nämlich, wird dort die Königsgestalt in
nicht weniger als fünf Einzelpersonen aufgefächert. Diese sind jedoch
nicht einmal Inkarnationen einer einzigen Gottheit, sondern die Avataras von fünf
funktionell verschiedenen, aber zusammen den König charakterisierenden Göttern
- vergleichbar der königlichen, magdhaften, tiermäßigen «Funktion»
im russischen Märchen.
Auch der berühmteste aller Drachenkämpfe,
der Sigurds gegen Fafnir, weist einige merkwürdige Züge auf, die mit
den gewöhnlichen Drachenkampfvorstellungen in Widerstreit liegen. Zum
ersten ist der Drache gar kein Drache, sondern ein Mensch, der sich in einen
Drachen verwandelt hat. Zum zweiten tritt Sigurd nicht gemäß den
verbreiteten Anschauungen vom Helden und Heldenkampf gegen den Drachen an,
sondern er gräbt sich eine Grube, in der er den Unhold erwartet. Drittens
ist der Drache kein sprachloses Reptil, sondern er wechselt mit Sigurd, nachdem
er die Todeswunde empfangen hat, allerlei merkwürdige Reden. Viertens gibt
es eine Andeutung davon, daß auch Sigurd [152] in
einer Wechselgestalt, und zwar als Tier - als Hirsch? Fafnismal 2 - gegen den
Widersacher gestritten hat - und schließlich übergibt der Drache dem
jungen Helden am Ende als wesentliches Erbe, indem er ihn noch vor der Aneignung
des Hortes warnt, seinen Helm. Von diesem muß man wohl annehmen, daß
er nichts anderes ist als die Drachenmaske, also gemäß dem Wesen der
Maske ein Tarnhelm, der seinem Träger das Vermögen leiht, sich in die
Drachengestalt zu verwandeln.
Die Besonderheiten im Drachenkampf
Sigurd-Siegfrieds sind hier nicht im einzelnen zu erörtern; nur bezüglich
der Grube sei gesagt, daß sich ihr Sinn nicht unbedingt im taktischen Manöver
erschöpfen muß, als sollte sie lediglich dazu dienen, des Drachen
Bauchseite für die Waffe erreichbar zu machen. Bedeutsamer wäre es,
wenn auch sie sich aus dem rituellen Sinnbereich verstehen ließe, wenn sie
Kultgrube wäre. Das Besetzen dieser Grube in der Erwartung des Drachen wäre
dann nur eine Sonderform des Draußensitzens, der initiatischen Utiseta.
Diesem Gehalt entspräche auch die menschliche Kehrseite der Drachenmaske,
die Funktion eines Prüfenden nämlich und die von ihm für den
Jungmann erzeugte, wirkungsvolle, nicht nur täuschende, sondern wesenenthüllende
Illusion. Damit würde nicht etwa eine nordgermanische Besonderheit
behauptet, sondern der Vorgang fügte sich ein in die Verwendung zahlloser
Schreckensmasken bei den Initiationskulten der Urvölker.
Andererseits
erzählt auch die persische Sage von dem Heldenkönig Feridun, der den
verdrachten König Sohak erschlagen hatte, daß er imstande war, sich
in einen Drachen zu verwandeln und daß er in dieser Gestalt seine drei Söhne
erprobte, ob sie der Nachfolge würdig seien. Die Probe ergibt, parallel zu
den zahlreichen Beispielen unserer Märchen, daß der Jüngste
allein dem Drachenschrecken gewachsen ist. Erscheint in dieser Überlieferung
der König selbst als Drache, der einen Drachen abgelöst hat und als
Drache den Nachfolger prüft, und mag uns die Drachenart des Herrschers
angesichts unserer eindimensionalen Märchenmotive befremdlich dünken,
so sei dazu noch angemerkt, daß der Kaiser von China überhaupt als
wahrer oder eigentlicher Drache galt - im Gegensatz zu den bloß in
Drachengestalt erscheinenden Wasser- und Wolkenherrschern.
Durch den
Schlaf des Drachentöters vor seinem Kampfe sind wir dazu geführt
worden, den ganzen Drachenkampf als ein Ereignis zu verstehen, das in einem
hypnoiden Hellschlafe stattfindet. Eine Bestätigung für diese Deutung
dürfte man darin sehen, daß der Drachentöter auch nach dem
Kampfe in typischer Weise als Schlafender vorgeführt wird. So einleuchtend
nun auch in dieser Phase ein Erschöpfungs- und Erholungsschlaf wäre,
so angemessen könnte doch nun auch ein Mißtrauen gegen derlei allzu
simple Annahmen sein.
wz: Früher waren es Drachen, heute sind es möglicherweise UFOs.
[153] Wahrscheinlicher
ist, daß die Schläfe vor und nach dem Kampfe gemäß dem
ursprünglichen Verstande eine Einheit darstellen - mit einer Erhebung
innerhalb dieser Spanne bis in den Hellschlaf hinein, in dem die
Drachenbegegnung sich zutrüge. Allerdings sind auch die Nachschläfe
des Helden nicht ereignislos. Während Iwan Kuhsohns dreitägigem
Schlafe suchen die beiden schon erwachten brüderlichen Iwane vergeblich
nach dem dritten. Weit bedeutsamer ist es, daß in den anderen Formen des
Drachenkampfes, AT 300 und 303, der Held in diesem Zustand ermordet und
wiederbelebt wird. Ist der Drachenkampf Teil eines Initiationsrituales, so
stellt auch diese Tötung mit Wiedererweckung einen unerläßlichen
Bestandteil des Ablaufes dar, insofern Tod und Neues Leben wesentliche Stufen
der Initiation sind.
Begegnen sich Held und Drache im Erscheinungsraum
des hypnoiden Schlafes, dann müßte man annehmen, daß auch die
dritte Person des Dramas, die Opferbraut, mit ihrem Erleben dort hineinreicht.
Derlei Fragestellungen lassen sich indes nicht bis zu einer allein gültigen
sicheren Antwort klären - nicht nur weil das Drachenkampfmärchen auch
eine Dichtung ist und nicht allein unmittelbares Zeugnis des Erlebens, sondern
auch deswegen, weil die Raumkomponente des ekstatischen Erlebens überhaupt
schwer zu fassen ist. Für den Drachenkampfplatz erhebt sich dieselbe
Schwierigkeit wie für den Hexentanzplatz. Die Wirklichkeit des
Ausfahrtserlebnisses der «Hexen» einmal vorausgesetzt, bliebe doch die
Frage offen nach dem, was an der Stätte ihrer festlichen Begegnung
eigentlich vor sich geht. In Bezug auf den Drachenkampf würde man
versuchsweise sagen dürfen, daß die Stätte des Mädchenopfers,
das Flußufer, der Drachenfels, die Kapelle, faßbare Raumesorte sind,
an denen die ekstatischen Erlebnisse des Kämpfers und seines Gegners
coincidieren - mit leibhafter Anwesenheit des Mädchens und ihrer nicht schläferischen,
sondern rein visionären Anteilnahme an dem Geschehen. Auch können wir
die Rolle des Jünglings nicht so weit beschränken, daß wir für
ihn - wie für den Glasbergreiter und den die Schlachtenhilfe bringenden
Goldener - die leibliche Anwesenheit gänzlich ausschließen. Auch er könnte
körperlich dort sein, doch wesentlich als «Schlafender», in der
Trance, die seinen Kampf mit dem dämonischen oder dämonisierten Gegner
möglich macht. Nach diesem Treffen indes erweist sich die Verbindung
zwischen der Freigekämpften und ihrem Befreier keineswegs als «normal».
Sie erwachen durchaus nicht sogleich zueinander.
Er nämlich, statt
der Prinzessin ein sicheres Geleit bis zum Vaterhause zu geben, ist nicht
imstande, sich für diese kurze Frist freizuhalten, um danach seine
Heldenfahrt fortzusetzen; sondern er überläßt die Königstochter
ihrem Kutscher und macht sich flugs davon, allerdings nicht ohne sich als
Ausweis seines [154] Dabeiseins die Drachenzungen
gesichert zu haben. Die Prinzessin aber kann daheim den wahren Drachensieger
nicht benennen, wofür als pragmatischer Grund der von dem Fahrer oder einem
anderen feigherzigen Begleiter ihr abgenötigte Eid angegeben wird, der
Schwur, daß sie nur ihn als Befreier und künftigen Gatten nennen
werde. Haben jedoch die bisher angestellten Überlegungen einen Sinn, so
kann die Prinzessin den wahren Sieger bei Hofe wirklich nicht zu erkennen geben.
Er ist im wesentlichen Bezuge nicht mehr als ein visionäres Mannesbild, das
sich von ferne in der Krise bei ihr eingestellt hat, das man nicht in Stadt und
Land, bei Bürgern und Bauern ausforschen kann, sondern dessen Verkörperung
man abwarten muß - oft in einem Jahrescyclus, eine merkwürdige
Parallele zum Abwarten der Prinzessin in dem oben besprochenen
Nachtwachenabenteuer, AT 304. Es war erschienen im nothaften Augenblick, und es
verleiblicht sich erst endgültig in einem anderen nothaften Augenblick,
dann nämlich, wenn der Anheimfall der königlichen Braut an den betrügerischen
Lumpen droht. Auch hier schildert das Märchen zunächst kein: Ach, da
bist du ja! - sondern den Austausch von Zeichen: die Tiere, die Hunde kommen
zuerst zu Hofe, die Witterung bahnt dem Helden den Weg, Speisen werden
hinausgeschickt, Schmuckstücke und Drachenzungen werden vorgewiesen, der
Lump findet sich entlarvt, die aufleuchtende Erinnerung wird zur Begegnung. Ob
nicht die merkwürdige Weitenwanderung, die der Drachentöter nach
seinem Siege antritt, in Wirklichkeit, nach dem ursprünglichen Verstande
der Handlung, gar nicht hinweggerichtet ist von der Prinzessin, als eine
Junggesellenfreizeit vor der Verheiratung, sondern eben jetzt erst, nach der
vorlaufenden somnambulischen Begegnung, leibhaft, raumhaft zu ihr hinführt
?
Wir dürfen als Ergebnis mithin feststellen, daß der
Tiefschlaf des Drachenkämpfers unmittelbar vor dem Erscheinen des
Ungeheuers ursprünglich nicht ein bloßes Spannungsmotiv des Erzählens
darstellt, sondern daß er auf einen Hauptwesenszug des Gesamtgeschehens
hinweist, darauf nämlich, daß es im visionären Raume abläuft,
in den der Held Eingang gewinnt durch den Hellschlaf. In diesem Raume tritt die
feindliche oder erprobende Gewalt - oder irgendeine sonstige «Macht» -
in Drachengestalt in Erscheinung. In ihn tritt auch der Held zum Kampfe ein, und
zwar mit derjenigen Teilkraft seines Wesens, die diesem Kampfe nach alter
Anschauung vorzüglich gewachsen ist, mit dem tierischen Anteil seines
Wesens nämlich - und gegebenenfalls auch selbst in einer Tiergestalt, die
sich im hypnoiden oder somnambulischen Zustande aus seinem Gesamtwesen herauslöst.
Auch
hier, im Kampfe gegen den Drachen, vollzieht sich der zentrale Anteil der
Handlung also nicht im Körperraume, sondern im Raum der Erscheinungen.
[155] Daß dieser Wesenszug des Geschehens nicht
ausgesprochen wird, ist echt märchenhaft, wovon wir uns schon früher überzeugt
haben. Doch wird dieser eigentliche Gehalt der märchenhaften Begebenheit
innerhalb der Handlung angedeutet durch die Spannung, in die tätiges Wachen
und tiefes, scheinbar tatloses Schlafen zueinander gesetzt werden. Dieser
Kunstgriff bedingt merkwürdige Teilungen zwischen Schlafenden und
Wachenden, sei es, daß beide zugleich und nebeneinander in verschiedenen
Personen auftreten, sei es, daß sich der einzelne Held nacheinander einmal
als dieser, einmal als jener darstellt. Der eine wie der andere Kunstgriff nötigen
uns dazu, von einer allzu einfachen Auffassung der Märchenpsychologie
Abschied zu nehmen. Wenn die Märchenperson Iwan Kuhsohn nur einen
Seelenteil darstellt - und ich glaube nicht, daß man sich dieser Einsicht
verschließen kann - dann war die gedankliche Grundlage des Märchens
weit differenzierter, als man es gemeinhin für beweisbar hält.
Andererseits
wäre es für möglich zu halten, daß diese im Märchen
auf verschiedene Personen verteilten seelischen Funktionen auch in der
vorauszusetzenden leibhaften Welt, in der die Märchen wurzeln, auf
verschiedene Personen verteilt waren. Spiegelt nämlich ein bestimmter
altertümlicher Bestand der Märchen die Stufe der rituellen Kultur,
dann liegt es auf der Hand, daß seelische Hauptfunktionen auf verschiedene
Personen verteilt sein konnten - etwa in einem Drachenkampfspiel -, um an Ende
der Handlung zum besten der Hauptperson wieder vereinigt zu werden. Konkret und
in Bezug auf das Dreibrüdermärchen gesprochen, würde dies
bedeuten, daß in Iwan Zarensohn sich das königliche Blutserbe
darstellt, ein Herrscheranteil, der im Altertum bei vielen Völkern als eine
götterentstammende Kostbarkeit betrachtet wurde. Es liegt dann nahe, jene
Teilfunktion des Herrschers, die dem Tode ausgesetzt werden muß - und die
in der Tat ein Tiererbe ist -, in Gestalt einer anderen Person, eines Kuhsohnes,
dieser äußersten Gefährdung preiszugeben. Ermöglicht werden
derlei Riten im Altertum durch die ungleich schwächere Ausprägung des
Personhaften, so daß es «wirklich» die Herrscherperson selbst
sein kann, die in Gestalt eines brüderlich verbundenen Mithelden der
Todesgefahr ausgesetzt wird - und die dadurch, daß sie selbst in dieser
Weise den Drachenkampf besteht, sich auch selbst in jener Gestalt aus dem
Todesbereich wieder zurückempfängt - als wär's ein Stück von
ihr.
Eine solche differenzierte Auffassung des Märchengeschehens
bereitet der heutigen Auffassungsweise einige Schwierigkeiten, und nur allzu
leicht werden Gedankengänge, die der Eigenart der Vorzeit gerecht zu werden
bestimmt sind, als unwissenschaftlich gebrandmarkt. Doch muß die zwiefältige
Schwierigkeit [156] unausweichlich in Angriff genommen
werden. Das vorzeitliche Denken, so wie es unter anderem im Märchen Gestalt
angenommen hat, faßte im Zentrum seines psychologischen Interesses andere
Seelenzustände als wir ins Auge, eben die hypnoiden, und andererseits hatte
es, zumal in seinen ritualbezogenen Begriffen, eine völlig andere
Auffassung von der menschlichen Person, da eine rituell personale Einheit sehr
wohl aus mehreren Lebenseinheiten aufgebaut sein konnte, Einheiten, die wir
ebenfalls als Einzelpersonen ansehen würden, die aber eben nicht sich
selbst gehörten, nicht Eigenwesen waren - während andererseits die
ihnen übergeordnete rituell einheitliche Person kein Individuum war, kein
unteilbares Wesen darstellte.
Bisher haben wir märchenhafte Schlafzustände
ins Auge gefaßt, die dem Helden entweder das Vermögen zu schauen
vermitteln oder das Vermögen zu wirken. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten
des Märchens, daß es diese Zustände verhüllt in die gewöhnliche
Art, in Schlummer zu verfallen - wenn es überhaupt in solchen Zusammenhängen
vom Schlafen spricht. Eine dritte Weise zu schlafen dagegen erscheint im Märchen
selber oft als zauberhaft verhängt, nämlich der Zwangsschlaf, der
Helden oder Heldin gerade daran hindert, Wichtiges zu leisten oder wahrzunehmen.
Manchmal wird auch die Umgebung in den Zauberschlaf mit einbezogen, und fast
jedermann würde, nach dem Märchenschlaf befragt, jenes bekannteste
Beispiel anführen, das Dornröschen, das Eltern und Ingesinde mitzieht
in den hundertjährigen Schlaf, ein Märchen, das im Englischen und
Französischen den Schlaf schon im Titel mitbenennt: The Sleeping Beauty -
La belle au bois dormant.
Das deutsche Wort Zauberschlaf, von dem man
vermuten könnte, daß es ehedem gebildet worden sei, um denjenigen
Schlaf zu bezeichnen, der die Ausübung des Zaubers zum Ziele hat, erscheint
vielmehr erst ziemlich spät und in durchaus anderer Bedeutung. Es benennt
keineswegs einen Schlaf, in dem der Schlafende auf wunderbare Weise, schauend
oder wirkend, tätig wird, sondern eindeutig allein den zauberhaft verhängten
Zwangsschlaf, der jedes Aufmerken und Handeln ausschalten soll. Da das Wort
zudem anfangs nur in Werken auftritt, die entweder Übersetzungen sind oder
die doch von romanischen Texten abhängen, so scheint das Wort im Deutschen
als eine Lehnübertragung aus dem Französischen oder ltalienischen
Eingang gefunden zu haben. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß
der erste Beleg, den das Deutsche [157] Wörterbuch
verzeichnet, aus dem Jahre 1753, das Wort schon in übertragener Bedeutung
verwendet. In einem Preisgedicht auf das Landleben, das auf einer französischen
Quelle beruht, heißt es, daß der Landmann auf grünem Sammet
schlafe, «aus zartem Gras und Moos, / den noch ein Bach verziert. Der
Wiesen weicher Schoß / dampft einen Zauberschlaf bey einem sanften Rieseln
/ und brechendem Geräusch auf silberglatten Kieseln.»
Der früheste
Beleg für die eigentliche Bedeutung findet sich 1780 in Wielands Oberon, V,
77, wo der helfende Elfenkönig den Kalifenhof «mit Zauberschlaf
gebunden» hat. Nur wenig später taucht das Wort in dieser Verwendung
auch im eigentlichen Märchen auf, nämlich in den Palmblättern,
einer Sammlung orientalischer Erzählungen, die A. J. Liebeskind 1786 bis
1800 gesammelt und, von Herder eingeleitet, herausgegeben hat. Die betreffende
Erzählung, Die Königin Zulikah, kann man wohl dem Märchentyp 513
zuordnen, KHM 134, wo eine Prinzessin von dem Freier im Kampf gegen den
zaubrisch verhängten Zwangsschlaf bewacht werden muß. Etwas später
verwendet auch Clemens Brentano das Wort so, in seiner Nachschöpfung zu
einzelnen Märchen aus Basiles Pentameron, hier II, 8, in einer Variante vom
Schneewittchen, AT 709. Ganz der Märchenbedeutung entsprechend, gebraucht
dann Heinrich Heine das Wort in einem Sonett an August Wilhelm von Schlegel, den
er dort als den Erwecker der deutschen Muse feiert, also mit dem von der
Schlafenden Schönen stammenden Bilde.
Im Laufe des 19.
Jahrhunderts erscheint das Wort dann auch in den aus dem Volksmunde gesammelten
Märchen, wobei indes nicht zu erkennen ist, ob schon der überliefernde
Erzähler das Wort verwendet oder erst der Sammler es eingesetzt hat.
Jedenfalls findet es sich in den Sammlungen von Arthur und Albert Schott, von
Johann Wilhelm Wolf, Laura Gonzenbach und Ulrich Jahn, und zwar im Typus 400 für
den durch einen Zaubertrank verursachten Zwangschlaf des Erlösers, bei
Christian Schneller wiederum in AT 709, Schneewittchen, bei Wilhelm Busch im
Zweibrüdermärchen AT 303, und zwar im Zusammenhang mit der in diesem
Typus nicht allgemein verbreiteten Erlösung des Totenschlosses und der
Prinzessin, die dort, «nicht lebendig und nicht tot», im «Zauberschlafe»
gelegen hat. Wilhelm Grimm hat das Wort in seiner Deutschen Heldensage für
den von Odin verhängten Schlaf der Brynhild eingesetzt.
Ein so
lang bemessener Zauberschlaf, wie das Dornröschen ihn erdulden muß,
ist freilich eine Seltenheit. Viel öfter ist der Schlafzwang beschränkt
auf die kurze Zeitspanne, in der hell wachend etwas Bestimmtes zu vollenden wäre.
Beispielhaft ist die schon erwähnte Szene des Grimmschen Märchens Die
sechs Diener, KHM 134, AT 513, wo der Prinz die Erkorene bis Mitternacht hüten
[158] muß, daß sie nicht entrückt
wird. Sein hilfreicher Langer windet sich um das Gemach, und der Breite
verstellt die Tür. Indessen nützen diese leibhaften Sperren nicht im
geringsten; eine Stunde vor Mitternacht läßt die alte Zauberin einen
Schlummer auf die Augen der Brautwächter fallen, und im selben Augenblick
ist auch die Jungfrau entrückt. Erst gegen Mitternacht weicht der Zauber,
und es bleibt nur grad noch eine kurze Frist dafür, daß die
wunderbaren Diener die Schöne wieder herbeischaffen.
Nicht streng
an einen einzelnen Märchentyp gebunden ist das Motiv des einer Hexe
abzudienenden Zauberfohlens, AT 556F. Der Held bedarf des schnellsten aller
Pferde, und er gewinnt es, indem er drei Tage lang die Rosse der Hexe hütet.
Ihm droht der Tod, wenn er sie abends nicht einzutreiben vermag; doch fällt
er regelmäßig in Schlaf und wäre verloren, wenn ihm nicht
helfende Tiere die entlaufenen Pferde wieder zujagten, so daß er am
dritten Abend mit genauester Not grad noch zu rechter Zeit das Tor durchreitet.
Von
tiefer Bedeutung ist der verhängte Schlaf, der im Märchen von der
Schwarzen Frau, von der Sonnenmutter oder vom Marienkind - AT 710 - nicht die
Heldin befällt, sondern das Ingesinde und dies gegen das eigentliche
Geschehen abschirmt. Das Mädchen hat das Verbot der letzten Tür
gebrochen, es ist verstummt, findet sich als sprachlose Schöne in der Welt
und wird eine junge Königin. Doch jedesmal, wenn sie im Kindbett liegt,
bricht die Welt der Vision für sie auf, und ihr wird die Frage gestellt,
was sie hinter der Tür gesehen hat. Jedesmal ist ihr die Sprache zurückgegeben,
aber sie beharrt darauf, das Geschaute nicht zu verlauten; das Kind wird ihr
genommen, der Mund mit Blut besudelt. Die Vision hat sie allein; wer immer sonst
in der Gebärstube weilt, erliegt dem Zwangsschlaf (wz: und
deswegen an der Vision nicht teilhaben konnte), und niemand, allenfalls
der junge Gatte, bezweifelt, daß die Mutter das Neugeborne verschlungen
hat. Die Probe auf die Standhaftigkeit der jungen Frau, auf ihre Kraft, über
das Geschaute zu schweigen, führt über die Kindesentrückungen und
die unerträgliche Verdächtigung hinaus bis auf den flammenden
Scheiterhaufen. In den Fassungen, wo der König die Kindbetterin mit Wächtern
oder wachsamen Verwandten umstellt, erscheint die Verurteilung der Frau fast
ebensosehr wie durch den vermeintlichen Kindesmord bedingt durch das Grauen, das
der entmächtigende, räuberische Zauberschlaf in der Umgebung und
selbst in dem königlichen Gatten erregt.
Das Motiv der verdächtigten
Kindbetterin kann auch in andere Märchentypen als Abschluß eingehen
und dazu dienen, dämonische Begegnungen des Mädchens vor der Ehe oder
andere Spannungen zum Austrag zu bringen, fügt es sich doch in der alten
Vorstellungswelt leicht in die ohnehin als gefährdet betrachtete Zeit der
Geburt und der auf sie folgenden Wochen ein. Auch die Sage erzählt ja
[159] von mannigfaltigen Entrückungen sowohl der
jungen Mutter selbst wie ihres neugeborenen Kindes.
Mit dem Marienkind
weist eine gewisse Verwandtschaft auf und geht auch Verbindungen ein der Typus
des kinderfressenden Schulmeisters, AT 894. (wz:
Kindsmisshandlung (sexuell)) Eine Schülerin beobachtet ihn bei
seiner grausigen Gewohnheit, weigert sich, ihm das einzugestehen und wird darauf
entrückt. Am Entrückungsort heiratet sie der Königssohn, und nun
folgen die Heimsuchungen, hier durch den Lehrer, im Kindbett. Zweimal entführt
er die Neugeborenen, obwohl die junge Mutter sich selbst als Speise anbietet.
Sie erlangt beim erstenmal die Verzeihung der Schwiegermutter, obschon die junge
Frau sich selbst bezichtigt, das Kind aus Hunger verzehrt zu haben. Beim
zweitenmal schlafen die drei zur Bewachung eingesetzten Kinderfrauen ein. Überm
dritten Kindbett wacht der junge König selbst und erschlägt den
Lehrer; nun erst vermag die junge Frau ihr Schicksal zu enthüllen. So der
Verlauf in einer griechischen Fassung aus der Hahnschen Sammlung.
Einen
von diesen Geschehnissen recht verschiedenen Ablauf zeigt das Märchen vom
Geduldstein, das zum selben Typus gezählt wird und mit den eben
geschilderten Begebenheiten verschiedene Verbindungen eingeht. Es enthält
nicht notwendig den vampirischen Lehrer, nicht das Kindbett und den
Zwangsschlaf. In einer türkischen Variante setzt es ein mit der Weissagung
eines Vogels, daß das Mädchen vierzig Tage über einem Toten
wachen werde. Der Versuch, dem Schicksal auszuweichen, mißlingt, das Mädchen
wird in ein Haus entrückt, in dem sie den Toten findet, und wacht lange
Zeiten über ihm. Gegen das Ende der Frist läßt sie sich, von Müdigkeit
überwältigt, durch eine Sklavin vertreten - für wenige Stunden,
wie sie ihr befiehlt. Doch die Dienerin weckt sie nicht, bleibt selber wach über
die kurze Frist hinaus, die noch fehlt, und wird die Frau des Erlösten. Von
ihm erbittet sich später die Verkannte als Mitbringsel einen Geduldstein
und ein Messer, dazu eine Puppe. Während diese tanzt, beichtet sie dem
Geduldstein ihr Schicksal, mit dem Messer droht sie sich zu töten. Der
Geduldstein schwillt und platzt, das Messer ist zum Stoß bereit, da rettet
sie der Mann. Statt des bloßen Wachens als Bedingung der Erlösung
gibt es auch das Motiv, daß die junge Frau mit ihren Tränen in einer
bestimmten Zeitspanne einen Krug füllen muß. Auch darüber ermüdet
sie und wird von der Sklavin betrogen. - In diesen Varianten des Typs gibt es
also den Zwangsschlaf nicht, stattdessen vielmehr das Wachbleiben in zaubrischer
Absicht, das beharrliche Besiegen des Schlafbedürfnisses und dann schließlich
doch das Erliegen aus Übermüdung, das Versinken in den Schlaf zur
schicksalsentscheidenden Stunde.
[160] Auch in
dem Märchen von den sechs Schwänen und seinen Verwandten - AT 451 -
steht die junge Frau unter einem Schweigegebot. Dies Gebot bezieht sich nicht
auf einen bestimmten Inhalt, und sie hat nicht die Fähigkeit zu sprechen
verloren. Sondern sie versagt sich selber das Wort, weil das Schweigen zur Erlösung
ihrer verzauberten Brüder notwendig ist. Auch hier vermag sie also nicht
sich zu verteidigen, und dies um so weniger, als die Kinder nicht einer dämonischen
Entrückung anheimfallen, die sie selbst in der Vision miterlebt, sondern
dem Raube durch übelwollende Neider, durch die Schwiegermutter, und sie
selber in diesem Typus nun die Schlafende ist.
Eine andere Art von
Zwangsschlaf findet ihren Ausdruck regelmäßig durch einen
Schlaftrunk, der verabreicht wird, und zwar in dem Motivzusammenhang der
vergessenen Ehefrau des Typs 425 A. Dort hat die junge Frau ein Verbot übertreten,
infolgedessen wird der Mann ihr entrückt, und er hat sie vergessen. Am Ende
sucht sie sich dem Schlafenden wieder ins Gedächtnis zu rufen durch die nächtliche
Schilderung ihrer Suchwanderung oder durch die Anrufung des gemeinsam Erlebten.
In den ersten beiden Nächten vernimmt der Mann nichts; denn seine jetzige
Braut reicht ihm, nachdem sie der ersten Frau gegen eine Kostbarkeit die Nacht
verkauft hat, abends einen Schlaftrunk. Nur die Diener tragen ihm am Morgen eine
verworrene Kunde zu von der nächtlich klagenden Frau. Am dritten Abend
meidet er den Trunk, vernimmt selbst die Klage, die Erinnerung kehrt ihm zurück,
und das Paar hat sich damit wiedergefunden.
Schläferische
Taubheit, vernehmendes Wachsein gegenüber den Erinnerungsworten sind in
dieser Weise ganz sachlich verknüpft - der Sinn dieses Ablaufs aber scheint
doch verborgener zu sein. Mit unwiederbringlichen Kostbarkeiten erkauft sich das
junge Weib die Nächte von der zweiten Braut - statt auf eine praktische
Weise entweder selbst dem Manne aufzulauern oder ihm in Gestalt von Worten oder
Zeichen Kunde von sich zu übermitteln, ein Dienst, den sie ja ebenfalls
leicht hätte erkaufen können. Auch sollen es ohnehin die Diener
gewesen sein, die ihm den Hinweis auf die Klagende gegeben haben. lhre
absonderliche, dem Anscheine nach umständliche oder unzweckmäßige
Verfahrensweise muß auch einen sachlichen Grund haben, und der liegt eben
darin, daß der Appell an den gemeinen Tagesverstand des Mannes sein Ziel
nicht erreichen würde, was in der oben Seite 115 zitierten irischen Fassung
auch klar zu Tage liegt. Die Frau muß versuchen, durch die Nacht den
Zugang zu seinem auf jeden Fall, ob mit oder ohne Trunk, schlummernden Gedächtnis
zu finden, muß suchen, die in umnachtete Tiefe abgesunkene Gemeinsamkeit
der Erinnerung wieder ins Tagesbewußtsein zu heben. Indem die zweite
Braut, die dämonische Gefährtin in der Entrückung, den Mann
absichtlich in Tiefschlaf [161] versenkt, verhilft sie
sogar dazu, den sinnvollen Vorsatz der ersten Frau zu verwirklichen. Auch die
horchenden Diener könnte man als eine Teilkraft im Helden selbst auffassen,
als ein Bild für sein Ahnungsvermögen, insofern sie dem im Tiefschlaf
scheinbar gehörlos Versunkenen eine erste ferne Witterung vermltteln von
dem, was in ihm aufdämmern will. - In dieser Szenerie wäre daher der
durch den Trunk hervorgerufene Zwangsschlaf alles andere als ein Verschluß
für das Miterleben, sondern vielmehr ein Zauberschlaf, der gerade zum
Aufschließen der verkapselten Erinnerung verhilft.
Sehen wir uns
veranlaßt zu behaupten, daß die Suchwanderin notwendigerweise die
Verbindung zum Nachtbewußtsein ihres Mannes herzustellen sucht, dann
erinnern wir uns daran, daß die Nacht für das Märchengeschehen
uberhaupt eine bedeutsame Rolle spielt. Gewiß geht in den Märchen
vieles auch unterm Tageshimmel vor, und wir haben schon gesehen, daß dies
nicht etwa bedeutet, es verliefe das Geschehen in leibhaft-nüchterner, alltäglicher
Weise. Auch im Sonnenschein, gerade auch am hohen Mittag vermag das Geschehen
unter den Spiegel des Bewußtseins hinabzutauchen. Aber symbolisch für
diese Nachtseite der Natur ist eben auch die Erdennacht, in die das märchenhafte
Erzählen manches höchst Wichtige hineinlegt.
Daß sich
ereignisreiche Episoden der Räubergeschichten bei Nacht zutragen ist nichts
weiter Besonderes, AT 950ff., ebensowenig, daß dem glücklichen
Besitzer der Zauberkleinodien, des Tüchleins, des Goldesels, diese in der
Nacht entwendet werden. Trotzdem sind diese nächtlichen Verluste Stufen für
die Vollendung im zaubrischen Besitz - bis hin zu ihrem Schutz gegen die Übergriffe
der profanen Habgier, AT 563. Auch die nächtlichen Besuche der Rätselprinzessinnen,
AT 851, scheinen vom alltäglichen Geschehen bedingt; indes geht es dabei
auch um ihre Erlösung, die Lösung aus ichhafter Verklemmung, und in
derlei Wandlungen spielt stets eine Tendenz zur Nachtseite hinein. Diesem Ablauf
entspricht ebenfalls ein scheinbar profaner Zusammenhang wie das nächtliche
Erzählen vor der verstummten Prinzessin, AT 945; aber es öffnet sie
unversehens dem Gespräch und führt so die für sie notwendige Lösung
herbei.
Allerdings kommt auch den schlimmen Nächten in den Märchen
ein großes Gewicht zu. Denken wir an die vampirisch-tote Prinzessin, die
allnächtlich in der Kirche den wachhabenden Soldaten verschlingt, AT 307,
an den Lenorenritt mit dem toten Bräutigam, AT 365, an die Mordnächte
der Däumlingsbrüder im [162]
Menschenfresserhause, AT 327B, an die tödlichen Brautnächte mit der
Schlangenprinzessin oder der Dämonenhörigen, AT 507B, C, an die nächtlichen
zwanghaften Fahrten der Königstöchter in die Dämonenhöhle
oder die Unterwelt, AT 507A, 306.
Trotzdem scheint es so, als überwiege
das Wohltätige des nächtlichen Elementes in vielerlei märchenhaften
Abläufen. Nicht nur daß der helfende Tote in der Nacht die umsessenen
oder besessenen Königstöchter befreit, 507, auch der Bräutigam
selbst erlöst die Dämonenverfallene durch die Nachtfahrt, 306, oder
die Vampirische in der nächtlichen Kirche, 307. Zwar wird im Märchen
von den wundersamen Gesellen die Braut allnächtlich entrückt, doch
brechen die Helfer den Zauber auch bei der Nacht, AT 513. Des Nachts sind die
Schwanenbrüder Menschen und vermögen ihre Schwester über ihre Erlösung
zu beraten, AT 451. Im Psychemärchen führt ein nächtlicher Verstoß
der jungen Frau zu der unheilvollen Trennung; Vollendung erlangt das
Doppelschicksal des Paares jedoch erst durch die nächtlichen beschwörenden
Reden des Weibes, vor denen allmählich des Mannes Betäubung weicht, AT
425A. So erduldet auch der Mann die erlösenden Qualen für die
verzauberte Braut in der Nacht, AT 400A, B. Nächtlich kehrt die ermordete
junge Gattin als Ente zurück, und der wachende Gatte holt sie bei Nacht aus
der Todesverzauberung ins Leben heim, AT 403, 450. Nächtlich sind auch die
Gestaltwandlungen jener Ermordeten, die aus winzigen überlebenden Seelenträgern
Stufe um Stufe ins Leben zurückkehren, AT 318, 590A. Des Nachts erwachsen
die schicksalswendenden Wunderbäume für Zweiäuglein und ihre
Verwandten, AT 511. Das Waldhaus und seine Bewohner, AT 431, der Froschkönig,
AT 440, entwandeln sich in der Nacht. Das Mädchen gewinnt bei Nacht das
Heilmittel für den verwundeten Vogel, AT 432, den Buckligen befreit von
seiner Last der nächtliche Besuch bei den Unterirdischen, AT 503.
Verzweiflungsvoll schaut die nächtliche Spinnerin auf die unermeßliche,
ihr aufgetragene Arbeit, aber die Nacht eröffnet auch den Helfern aus der
anderen Wirklichkeit bei ihr den Zugang, AT 500. Wunderbare Wirkungen und
Wandlungen knüpfen sich an das Nachtwachenabenteuer des Jüngsten, AT
304, und an den nächtlichen Aufbruch zum Tanzfest bei den Mädchengestalten
Aschenputtel, Moirin, Allerleirauh, AT 510.
Nächtige Offenbarungen
über lebensnotwendige Geheimnisse spielen in mehreren Märchentypen
eine entscheidende Rolle. Die Grabwache im Glasbergmärchen, 530, das Draußensitzen
ums Goldvogelgesicht, 550, 551, die Wegweisungen und Schicksalsräte für
den getreuen Johannes, 516, sind als nächtige Erlebnisse beabsichtigt und
nur als solche möglich. Großartige Lebensgeheimnisse, Rettungsmittel
für Quelle, Baum und Thronerbin, erfährt der junge [163]
Weltwanderer jenseits des Stromes, bei dem Mächtigen der Nacht, unter
seinem Bette verborgen, 461, und ganz Ähnliches, dazu das Heilmittel für
seine geblendeten Augen, werden dem vom schurkischen Gefährten verlassenen
Waldwanderer offenbar - bei Nacht, auf dem Baum, unterm Galgen, 613.
Oftmals
fällt uns das Bedeutungsgewicht des Nächtigen in diesen Märchen
gar nicht auf, eben weil der Sinnzusammenhang uns unmittelbar einleuchtet und
wir uns gar nicht versucht finden, den nächtigen Sinn des Geschehens in
Frage zu stellen. Aber aus der Vielzahl offenbar nächtiger Ereignisse und
aus der weiteren Zahl solcher Geschichten, in denen ein verborgener nächtiger
Sinn mitspielt, dürfen wir den Schluß ziehen, daß ein großer
Teil der Märchen erfunden worden ist in einer Welt, die ein besonderes
Augenmerk gerichtet hielt auf das Nachtleben der Natur, auf die siderischen und
tellurischen Mächte auch in der Innerlichkeit des Menschen.
Konvertierung zu HTML Juni 2000
Homepage:
http://www.oobe.ch
e-mail: werner.zurfluh@surselva.ch
©Heino
Gehrts
©Werner Zurfluh