Briefwechsel mit Michael Ende
7.9.1988 - 6.10.1988
e-mail: Homepage Michael Ende

Arosa, 07.09.1988

Lieber Michael Ende,

und weiter geht's im Text, denn schliesslich bin ich erst auf Seite 115 und eigentlich gespannt darauf, ob meine Lesart Ihres Buches sich als kohärent erweisen wird. In der (schwierigen) Geschichte des 'endlosen' und einseitigen (weil 'von der anderen Seite her' uneingestandenen) Brückenbaues wird wohl ein Mehr-Desselben zur offensichtlichen Zerissenheit ...

Arosa, 16.09.1988

Und noch einmal:

Lieber Michael Ende,

die Problematik liegt im ersten Teil Ihres Briefes, in dem, den Sie am Sonntagnachmittag geschrieben haben! - Jetzt aber der Reihe nach: Vor etwa einer Stunde bin ich mit meiner Frau wieder zu Hause in Arosa angekommen. Meine Frau hatte einen Kurs in Zürich, und ich nutzte die Gelegenheit, in Basel die fällig gewordene ärztliche Untersuchung zu absolvieren und ein paar wenige Freunde zu besuchen. Ihr Buch liegt nach wie vor aufgeschlagen auf meinem Pult. Als Letztes schrieb ich auf Seite 116 am linken Rand "Mehr-Desselben Lösung 1.Ordnung" Auf dem Weg von Zürich nach Basel und retour las ich aus der Serie Piper Nr.1080 'Die Unsicherheit unserer Wirklichkeit' (Paul Watzlawick [interviewt von] Franz Kreuzer) und den (mir bereits bekannten) Ausschnitt aus 'Die erfundene Wirklichkeit' "Sich selbst erfüllende Prophezeiungen" von Paul Watzlawick. Ich erwähne dies einzig deswegen, um Ihnen einen kleinen Eindruck davon zu geben, welche Bedeutung für mich (auch) die alltäglichen Dinge haben. Es erstaunt mich nämlich immer wieder, wie scheinbar unzusammenhängende (sogenannte) Kausalketten geradezu in ein punktuelles synchronistisches Geschehen hineinexplodieren und sich dann wellenartig nach allen Seiten auszubreiten beginnen - leise tobend, einem Hurrikan gleich (ein durchaus aktuelles Ereignis) über Inseln und Länder torkelnd, am Rande sogar das Buch von Markus Fierz 'Naturwissenschaft und Geschichte' (die Aufsätze 'Zur physikalischen Erkenntnis' und 'Der Glaube an den Fortschritt und die Erforschung der Natur' las ich ebenfalls während der Zugreise) mit sich reissend. Nebenbei gesagt: Genau so enstanden die "Quellen der Nacht"!

Ich bin in dem Jahr zur Welt gekommen, als die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki fielen. Vielleicht habe ich deswegen manchmal Mühe, mich zurückhaltend auszudrücken. Die Crux - ich möchte betonen, dass ich persönlich es so sehe - liegt tief verankert in dem, was sie auf den ersten paar Seiten schreiben. Wie eine Axt, die mit bestialischer Kraft ins Holz geschlagen wurde und nunmehr festgeklemmt scheint. Nein, das hat nichts mit rechthaberisch zu tun (Ihre Ausführungen sind keinewegs rechthaberisch). Mit akademisch möglicherweise sehr wohl, mit kunsthistorisch und philosophiegeschichtlich, mit klassisch kulturell und grossartig museal. Ich kann förmlich die alten (und mir durchaus sympathischen) Seminarräume am Nadelberg in Basel riechen, spüre geradezu all jene Studienkollegen von damals in meiner Nähe und gehe durch die prächtigen Museumsräume in Basel. Und ich sehe die Bilder des Basler Malers Kreienbühl's vor mir, Bilder von unendlicher Traurigkeit und Entmutigung. Das Surreale in all diesen Szenerien erstarrt fast unmerklich zu den zerfliessenden Uhren eines Dali (Persistances de la mémoire (Les montres molles)) - nur sind sie eben zu viskös, um jemals abzutropfen.

Was tun? Mal so tun als ob Ihre Geschichten im "Der Spiegel hinter dem Spiegel" hinter dem Spiegel Träume seien, Ihre ganz persönlichen nächtlichen Erfahrungen. Annehmen, die Geschichten seien eine völlig getreue Abbildung der "anderen" Wirklichkeit - autobiographisch, total unkünstlerisch, unlesbar, unendlich weit entfernt von moderner Musik und unter keinen Umständen so zu betrachten wie ein Mobile von Calder oder ein Bild von Miro. So tun als ob nirgends, aber auch an keiner Stelle, irgendwelche künstlerisch-formalen Fragen Sie dazu veranlasst haben könnten, diese Texte zu schreiben. Sich vorstellen, Sie hätten die Geschichten einzig und allein aus dem Bedürfnis heraus geschrieben, sich selbst eine ungeheuer wichtige Mitteilung zu machen. Eine Mitteilung ganz alleine nur für Sie, untauglich für jede Art von Veröffentlichung, weit entfernt von irgendeiner Bearbeitung. Zeile für Zeile mit Ihrem Namen unterschrieben. - Hierbei tritt allerdings eine ungeheuere und nur schwer zu bewältigende Schwierigkeit auf. Dieses Als-Ob darf nicht in Psychologie abgleiten, in Wissenschaftlichkeit einmünden, in Philosophie ausufern oder gar in ein künstlerisch-poetisches Bestreben einlenken. Sich um nichts Derartiges bemühen und in keinem Augenblick ein Interesse an sich selbst als dem (alten) Ich bzw., wie die Alchemisten sagen, als dem 'alten Adam' als Legitimation vorschieben. Dies nur tun um Ihrer SELBST willen.

Die Kulturmisere ist deswegen entstanden, weil die Menschen eben begonnen haben, die Dinge einzig und allein um "ihrer selbst willen" zu tun, aus egoistischen Gründen nämlich. Oder weil sie wie Shakespeare begannen, die Dinge "um ihrer selbst willen" zu tun, aus Gründen der Redlichkeit und Zurückhaltung nämlich. Es kann ungemein aufschlussreich sein, ein sprachliches Konstrukt wie eben die vier Wörter "um seiner selbst willen" mal in seiner Bedeutung zu erfassen. Es gibt mindestens drei total verschiedene und untereinander sogar völlig gegensätzliche Nuancen.

Wer behauptet denn eigentlich, Sie hätten die Geschichten im "Spiegel" aus den Gründen geschrieben, die Sie angeben? Oder ist diese Frage zu nackt, zu direkt - einem Pfeil gleich, der einen Gegenstand derart schnell durchdringt, dass er unmerklich hindurchstösst und keinerlei Spuren hinterlässt?

Kennen Sie das Buch von Strephon Kaplan Williams ''Durch Traumarbeit zum eigenen Selbst - Die Jung-Senoi Methode' (Ansata-Verlag, Interlaken). Da sind sogenannte Traumarbeitsmethoden beschrieben. Etwa fünfzig, die im wesentlichen nicht-interpretativ sind (weshalb ich damals das Buch - trotz aller Mängel - als ehemaliger Lektor des Ansata-Verlages auch mitübersetzte). Mein Vorschlag wäre nun der: Nehmen Sie irgendeine Geschichte aus dem "Spiegel" (werfen Sie das Buch meinetwegen solange an die Wand, bis es offen zu Boden fällt) und bearbeiten Sie den auf diese Weise in Erscheinung getretenen Text mit der Ihnen am meisten zusagenden Methode aus dem Williams. Immer und immer wieder, ganz intensiv, ohne jegliche Ambitionen. Plötzlich werden Sie einen Traum haben, vielleicht auch "bloss" einen Tagtraum, einen flüchtigen Eindruck. Packen Sie ihn und arbeiten Sie mit diesem weiter - auf die gleiche Art oder auf eine andere. Und dann erzählen Sie mir davon - wenn Sie mögen. In diesem Spiegel liegt der Schlüssel. Erzählen Sie mir auch von Ihren Reaktionen auf diesen Brief. - Und so hebt sich denn langsam der Vorhang!

Mit lieben Grüssen

Werner Zurfluh

PS Das war mal wieder meine erste, spontane Reaktion auf Ihren Brief. Selbstverständlich gibt es da noch so manchen Punkt, der ausführlicher zu besprechen wäre. Aber ich wollte erst mal einen Stein ins Rollen bringen - auch wenn es bloss ein Kieselsteinchen sein mag.


Arosa, 23.09.1988

Lieber Michael Ende,

zwischenzeitlich dürfte das 'Kieselsteinchen' vom 16.September in Ihren Briefkasten geplumpst sein. Mir ist inzwischen auch aufgefallen, was ich Ihnen da geschrieben hatte: offensichtlich eine Spiegelverkehrung. Ich möchte es nun nicht versäumen, ein paar Punkte nochmals aufzugreifen und weiterzuführen, da für mich nach wie vor die ganze 'Misere' im sonntäglichen Teil Ihres Briefes liegt - und ich Ihnen anhand meiner Reaktion auch aufzeigen kann, wie ich persönlich an einen Sachverhalt herangehe. Unangetastet soll dabei Ihre Aussage bleiben, bei den Geschichten handle es sich weniger um autobiographische Mitteilungen oder den Versuch einer möglichst getreuen Schilderung der "anderen" Wirklichkeit als vielmehr um einen Vorstoss in Richtung moderner Musik und Malerei. Auch dass es hauptsächlich künstlerisch-formale Fragen gewesen seien, die Sie zum Schreiben des Buches veranlasst haben, bekümmert mich wenig, denn eine formal-stilistische Kritik ist für meine Art, die Dinge zu sehen, irgendwie völlig unwesentlich (und liegt zudem ausserhalb meiner Kompetenz). Was mich direkt berührt, ist stets der Inhalt, nicht die Form, nicht die Ästhetik und nicht der Stil - was mir übrigens schon oft sarkastische Bemerkungen seitens guter Freunde eingebracht hat. Für mich - und dies möchte ich ausdrücklich betonen - ist sogar die handwerkliche Bearbeitung (letzten Endes also die sprachliche Formulierung) einzig und allein Ausdruck der Wechselwirkung mit der "anderen" Wirklichkeit, ein deutlicher und unmissverständlicher Hinweis auf die Art und Weise der Annäherung zweier Wirklichkeitsebenen. Eine künstlerische und handwerkliche Redlichkeit, wie sie bei den mittelalterlichen Meistern oder bei Shakespeare zu Tage tritt, lässt die 'moderne' Kunstszenerie auf Kosten egoistisch gefärbter Schaustellerei meist vermissen. Dies scheint mir im Hinblick auf die 'andere Seite' unpassend und vor allem ungerecht. Diese 'selbstbezügliche' Art ist inflatorisch und total geprägt von persönlichen Machtgelüsten und der Unfähigkeit zur offenen Beziehung mit anderen Wirklichkeitsebenen. In diese plumpe Gefälligkeitsfalle sind Sie bestimmt nicht hineingetreten. Ihre Zeilen vom Sonntag drücken das deutlich aus. Abgesehen davon zeugt Ihr Buch klar von Redlichkeit und handwerklicher Kunst in künstlerisch-poetischer Hinsicht. In dieser Grundhaltung kann ich Sie nur bestärken (sie soll auch für mich ein Leitfaden sein).

Die eben angesprochene Grundhaltung steht nicht in einem Gegensatz zu Erkenntnis. Ein STREBEN NACH ERKENNTNIS ist jedoch wieder etwas anderes, denn mit (reiner, nackter, blosser) Erkenntnis hat dieses Streben nicht unbedingt etwas - eigentlich gar nichts - zu tun. Streben meint nämlich stets Zielbezogenheit und Gerichtetheit. Und es gibt genug Schulungswege, die sich irgendwelchen Zielvorstellungen verschrieben haben. Dabei geht von allem Anfang an die Poesie verloren und Macht und Willkür übernehmen das Szepter. Erkenntnis als solche ist stets unerwartet, offen, verblüffend und erschreckend, manchmal auch leise und verhalten. Wer dagegen nach Erkenntnis strebt, glaubt allemal schon zum voraus zu wissen, was ihn da erwartet und verliert unterwegs seine Offenheit und Redlichkeit. Dabei bleibt die spontane ('alchemistische') Kunst im Wuste der formalen Anweisungen stecken. Dass Sie sich dagegen wehren, kann mich nur freuen.

Erkenntnis als solche bedeutet keineswegs, dass der Mensch sich für sich selbst interessieren muss. Man spricht zwar von Selbsterkenntnis, doch sollte dies wirklich als SELBST-Erkenntnis und nicht als EGO-Wissen aufgefasst werden. Denn mit einer derart verstandenen Erkenntnis (Erkenntnis der 'dritten' Art) lässt sich kein Quiz gewinnen, kein Kreuzworträtsel lösen und keine akademische Prüfung bestehen, mit Wissen (der normgerechten 'zweiten' Art) dagegen sehr wohl. Hier haben Sie die ganze Problematik unserer Kulturmisere und gleichzeitig das ganze Übel sprachlicher Konstrukte, denn Wissen hat neben der soeben angesprochenen noch eine andere, beinahe gegensätzliche Bedeutung. Die Erkenntnis, die Sie in Ihrem Brief ansprechen und gegen die Sie sich (korrekterweise) abgrenzen, ist die schulmässige Erkenntnis und gehört zur zweiten Wissensquelle (vgl. "Quellen"). So betrachtet erweist sich Ihr Text als Parallele zur buddhistischen Auffassung der drei Wissensquellen. Unserer Kultur fehlt der Einbezug der dritten Quelle, die sich im Mythos, in den Erzählungen ausdrückt, in jenen Dingen, welche aufgrund der Erfahrung anderer (d.h. nichtalltäglicher) Wirklichkeiten entstanden sind.

Und jetzt bin ich an dem Punkt angelangt, wo es meines Erachtens um die Lesart Ihres Buches für mich und für Sie selbst geht. Ich betrachte Ihre Geschichten als Erzählungen, als Berichte der 'dritten Art'. An diesem Punkt setze ich an, denn es ist für mich der eigentliche Ausgangspunkt einer Reise in die Fremde. Klar, Sie und ich könnten die Geschichten im "Spiegel" oder in den "Quellen" psychologisch auffassen, zerpflücken, interpretieren und analysieren. Wir könnten also auf dem Boden des Mehr-Desselben verbleiben und die Netze irgendwelcher theoretischer Lehrmeinungen über die Angelegenheit werfen. Man sollte durchaus in der Lage sein, dies zu tun. Und tatsächlich habe ich dies bei meinen Geschichten auch jahrelang getan. Ausschliesslich getan - und damit die blaue Blume zerpflückt, zerfleddert, zerdrückt und welken lassen. Bis ich dann eines Tages endlich gelernt habe, das Netz wieder zurückzunehmen, andere Netze darüberzustülpen und schliesslich ganz auf Netze zu verzichten (sofern dies überhaupt möglich ist). Wichtig dabei ist die Fähigkeit, mindestens dreissig verschiedene theoretische Lehrmeinungen über einen Sachverhalt bzw. ein Erlebnis, eine Geschichte, einen Traum usw. zu werfen (so sagen wenigstens die Tibeter). Denn (nur) auf diese Weise wird die Beschränktheit einer Betrachtungsweise offensichtlich, werden Vorstellungen relativiert und kann das Ganz-Andere zum Vorschein kommen. Diese Vorgehensweise löst das Reduziertsein auf das eigene Bewusstsein, das willkürliche Erklärungsbedürfnis, das persönliche (Vor-)Urteil und die egohafte bloss subjektive Meinung auf. Und (nur) so gelingt es, eine formal-inhaltlich total vorgeprägte Sprachlichkeit in ein lebendiges Sprachvermögen umzuwandeln. Ein erzählerisches Miteinander ersetzt dann das rechthaberische Gegeneinander.

Nur erstaunlich, dass in beinahe allen Grosskulturen die Spontaneität und schöpferische Gestaltungskraft erfahrungsbegründeter Sprache in kanonisierte Schriftlichkeit absackte und schliesslich in formalistischer Schulung erstarrte. Priester traten anstelle von Propheten, Schriftgelehrte ersetzten Seher. Ganz anders die indianische und schamanistische Kultur mit ihrer echten Akzeptierung der 'Traumwelt' als nichtalltägliche Wirklichkeit. Da spielt das Einzelbewusstsein eine wesentliche Rolle - oder müsste ich vielmehr sagen, da hat das Erzählerische eine gesellschaftsformende Kraft, weil alle Erzählungen aus der persönlichen Erfahrung heraus entstehen und in die soziale Struktur miteinbezogen werden. Wird dagegen der Mythos des einzelnen Menschen zu einem rein subjektiv erzeugten Fantasieprodukt erklärt, geht der Anspruch freier, selbständiger Individualitäten auf Intersubjektivität und gesellschaftlicher Relevanz vollends verloren.

Dies waren also meine "weiterführenden" Bemerkungen zu Ihrem sonntäglichen Brief, zu dem ich abschliessend nur noch einmal sagen kann, dass er keineswegs rechthaberisch ist. Im Gegenteil, er enthält die eigentliche Problematik in nuce und hat programmatischen Charakter insofern, als er gewisse zentrale erkenntnistheoretische Belange aufgreift (und deshalb ist er schon akademisch, allerdings überaus antiuniversität und normverstossend)

Mit herzlichem Gruss

Werner Zurfluh


Arosa, 24.09.1988

Lieber Michael Ende,

zur Frage nach der Individualität des Einzelmenschen in einem sozialen Ganzen möchte ich noch ein paar Ergänzungen zu Ihren durchaus zutreffenden Ausführungen machen. Ich bin mir beispielsweise nicht so sicher, ob in den alten Kulturen tatsächlich ausschliesslich vor-individuell und ohne Vorhandensein eines Einzelbewusstseins gelebt wurde. Irgendwie, so hat es den Anschein, müsste dem so gewesen sein, denn die mythischen Figuren wirken allesamt irgendwie überlebensgross, allgemein, unindividuell und archetypisch. Manchmal habe ich aber den Verdacht, dass sie bei näherem Zusehen diese Grösse verlieren und sich - zumindest trifft dies bei vielen Gestalten der griechischen Mythologie zu - bloss noch als Exponenten von treffenden und exemplarischen Einzelschicksalen erweisen. Zugegeben, darüber weiss ich relativ wenig, dennoch möchte ich Folgendes zu bedenken geben:

Bei der Beschäftigung mit gewissen Gestalten der griechischen Mythologie, insbesondere mit Chrysaor, dem nachmaligen Bellerophontes, sind mir ein paar Dinge aufgefallen, die es angebracht erscheinen lassen, deren "archetypischen" Charakter bzw. deren Nicht-Individualität in Frage zu stellen. Chrysaor ist bekanntlich der Bruder des Pegasos und wie dieser aus dem Hals der Medusa geboren worden, nachdem Perseus den Kopf dieses "Ungeheuers" abgeschlagen hatte. Chrysaor mauserte sich später nach und nach zu einem gewaltigen Helden, den man Bellerophontes nannte, und er war in der Lage, vom Rücken des geflügelten Rosses aus die Chimäre unschädlich zu machen. Auf der Höhe der gesellschaftlichen Stufenleiter angelangt, fasste Bellerophontes überraschenderweise als gestandener Familienvater und Staatsmann den einsamen Entschluss, den Ratschlag der Götter zu hinterfragen. Dank seines geflügelten Rosses vermochte er ja, zum Olymp hinaufzufliegen. Sein Entschluss stiess nirgends auf Verständnis, nicht einmal bei den Göttern selbst! Zeus sandte eine Dasselfliege und brachte damit den Pegasos (was weiter nicht verwunderlich ist, denn Pferdebremsen sind teuflische Viecher) zur Raserei. Das Pferd warf seinen Reiter ab - und der fiel auf die Ebene des Umherirrens. Seither muss Bellerophontes in totaler Abgeschiedenheit als Hinkender durch die Welt gehen und kann dabei (bestens) über das Schicksal der sterblichen Wesen nachdenken. Es wird Sie nicht weiter erstaunen, dass gerade dieser Mythos mich intensiv beschäftigt hat - mitsamt all den Auslegungs- und Interpretationsversuchen seitens der Psychologen. Meine bisherigen Untersuchungen haben mich nun dazu gebracht, gewisse gängige Konzepte zu hinterfragen. Hier die Ergebnisse:

1. Bellerophontes Vorgehen ist keineswegs Ausdruck einer inflationären, infantilen und grössenwahnsinnigen Einstellung, sondern entspringt einer - von einem verantwortungsbewussten Individuum aus betrachtet - durchaus legitimen erkenntnistheoretischen Fragestellung.

2. Bellerophontes Haltung steht den gesellschaftlichen Gepflogenheiten diametral entgegen und ist für den normalen Mitmenschen völlig unverständlich. Sie ist somit Ausdruck einer in höchstem Masse und zur vollsten Bewusstheit hin entwickelten Individualität, die es ausserdem verstanden hat, Projektionen zurückzunehmen und Identitäten abzubauen.

3. Bellerophontes Schicksal ist exemplarisch und ungemein eindrücklich, gerade weil es die Bewusstheit eines Individuums spiegelt, das seiner eigenen Wege geht und bereit ist, die Konsequenzen zu tragen. Diese Verhaltensweise ist in unserer modernen technokratischen Gesellschaft ebenso selten wie in früheren Gesellschaften (gemeint ist die griechische), welche mit nichtalltäglichen Wirklichkeiten nicht oder nur sehr ungenügend umzugehen wussten.

4. Zumindest diese Geschichte zeigt deutlich, wie repressiv sich gesellschaftliche Vorstellungskomplexe auf Einzelschicksale auswirken. Diese Repression findet ihre Fortsetzung in den Deutungsverfahren der heutigen Psychologieschulen, denen ein Verhalten wie das des Chrysaor/Bellerophontes weiterhin als antisozial und blasphemisch vorkommen muss, weil sie nämlich selber die eigenen Grundlagen niemals direkt zu hinterfragen gewillt sind.

5. Es wäre dringendst der Hypothese nachzugehen, ob mythische Erzählungen entgegen der allgemein verbreiteten Meinung, sie seien Ausdruck archetypischen Geschehens, nicht vielmehr die Bemühungen einzelner Menschen zum Ausdruck bringen, sich ihrer einmaligen Individualität und gleichzeitig der gesellschaftlichen Konstrukte bewusst zu werden.

6. Diese Bewusstwerdung verlangt zweierlei:
a) die Akzeptierung nichtalltäglicher Wirklichkeitsebenen
b) eine Informationsstrukturierung, d.h. die Kontinuität des Ich-Bewusstseins (der Bewusstheit), welche als (offener) Brenn- und Durchlaufpunkt für sämtliche Informationen bestehen bleibt.

7. Der Realisierung der unter Punkt 6 angeführten Postulate stehen und standen massive gesellschaftliche Interessen gegenüber, denn eine Relativierung des Alltags wegen einer akzeptierten Multidimensionalität und eine Fokussierung auf voll bewusste Einzelindividuen als umfassend verantwortliche und informationsstrukturierende Wesen ist wegen des Abbaues anonymer Machtstrukturen unerwünscht.

8. Es kann niemals im Interesse einer Gesellschaft wie der westeuropäischen sein, Träume oder Mythen anders als theoriekonform und interpretierend zu sehen. Es kann innerhalb solcher Gesellschaftsformen auch nicht angehen, Erzählungen von Subjekten als für die Sozietät und den sozialen Status relevant zu betrachten.

9. Jede Art von Beziehung zu nichtalltäglichen Wirklichkeiten wirkt für die westeuropäische technokratische Gesellschaft bedrohlich, denn derartige Wechselwirkungen sind nicht primär intersubjektiv nachvollziehbar, sondern individuell. Berührungen zu anderen Wirklichkeitsebenen sind zudem weder standardisiert wiederholbar und messbar noch objektivierbar und direkt kommunizierbar - und widersprechen deshalb prinzipiell dem geltenden Weltbild.

Bestimmt könnte man hier noch weiterfahren. Wichtig bei alledem scheint mir jedoch die Tatsache, dass so betrachtet viele der vergangenen Kulturen als wesentlich stärker individualisiert erscheinen könnten als die unsere. Unsere Kultur ist im Unterschied zu anderen ungemein stark egozentrisch. Und das ist wohl das Einzige, weshalb wir sie mit dem Attribut "zivilisiert" versehen. Von einem Zivilisierten aus betrachtet muss aber beispielsweise ein Indianer zum eigentlichen Wilden (sprich Chaoten) werden, weil er keine Zivilisation, keine beinahe nur auf Egoismen gegründete Sozialstruktur aufzubauen vermag und es ausserdem wagt, den Alltag durch den Einbezug anderer Wirklichkeiten zu relativieren. Dabei bricht bei diesen Wilden offensichtlich erst noch das Ganz-Andere ständig in das Diesseitige, in den wohlgefügten Alltag, ein, was für eine auf Konstanz des Besitzes ausgerichtete Gesellschaftsform echt katastrophal wirken muss. Wenn Sie also schreiben: "Eine Kultur freier, selbständiger Individualitäten hat es bisher noch nie gegeben", dann lese ich diesen Satz als Europäer zwar mit innerer Zustimmung, aber ich frage mich dennoch, ob das auf andere Kulturformen in allen Fällen zutreffen kann. Individualität scheint mir nämlich zuallererst einmal ein Problem unserer momentanen konsumorientierten und primär durch Schutz- und Abwehrmechanismen geprägten Gesellschaftsform zu sein, die anstelle des individuierten Miteinander ein egoistisches Gegeneinander setzt. Und wenn dann von unserer gesellschaftlichen Situation aus gesehen gesagt wird, eine Kultur freier, selbständiger Individualitäten sei etwas ganz Neues, dann muss ich den begründeten Verdacht hegen, dass ich eine derartige Aussage vor allem deshalb gewillt bin zu bestätigen, weil ich Kulturen freier, selbständiger Individualitäten einfach nicht zur Kenntnis nehmen will - weil dies sonst auf meine Art zu leben unabsehbare Konsequenzen haben könnte. Ich formuliere hier bewusst als Advocatus diaboli, denn ich empfinde es selbst irgendwie als schmeichelhaft, dass ich nun daran sein soll, eine derartige Gesellschaftsform mitzugestalten und aufzubauen. Umso verdächtiger erscheint mir also die Leichtigkeit, mit der mir ein derartiger Satz lesbar wird. Ich halte den Spiegel davor und sehe ihn plötzlich seitenverkehrt. Was das dann aber heissen könnte, habe ich eben auszudrücken versucht.

Das waren nun die Ausführungen bzw. Ergänzungen zur Seite 3 Ihres Briefes. Ich hoffe, das Lesen hat Ihnen ebensoviel Spass gemacht wie mir das Schreiben. Bei mir löst eben vieles eine Lawine von Überlegungen und Gedankengängen aus, Aber, ich habe schliesslich genügend Zeit, über manches nachzudenken und es zu Papier (besser gesagt zu Computer) zu bringen.

Mit lieben Grüssen

Werner Zurfluh

PS Selbstverständlich dürfte es in unseren Breitengraden (wie es z.B. bei den Indianern ist, vermag ich nicht zu sagen) noch niemals so gewesen sein, dass ein ganzes Kollektiv nur aus bewusst lebenden und agierenden Einzelindividuen bestanden hat. Kultur jedoch war und ist stets ein Produkt bewusst vollzogener Konzepte einzelner individualisierter Menschen, die mit ihren Konzepten gewissermassen den Nerv der Zeit getroffen hatten und damit Intersubjektivität zu erzeugen wussten. Würden Sie beispielsweise Shakespeare bloss deswegen als vor-individuell bezeichnen, weil er hinter sein Werk zurücktrat. Oder spielte das Einzelbewusstsein bei den mittelalterlichen Meistern etwa keine Rolle? Gründen sie somit "nur" auf Genetischem, Instinktivem und im Rahmen einer Volks-, Stammes oder gar Familienzugehörigkeit? Vielleicht habe wir bislang nur viel zu wenig beachtet, welche Rolle ein einzelner Mensch tatsächlich im Gesamtrahmen der Sozietät spielt. Oder wollen wir dies nicht wahrhaben, weil zu viel Macht auf dem Spiel steht. Wenn zuviel verlustig gehen könnte, wenn erkannt wird, wie sehr man selber als Einzelmensch eine massgebliche Individualität ist. Freud sagte einmal, dass die gesellschaftlichen Interessen vor den persönlichen stünden - und dass eben deswegen der einzelne Mensch dazu gezwungen sei, zu verdrängen. Und deshalb könne er auch nicht so träumen wie ein Popper-Lynkeus (und der träumte luzid).


Arosa, 28.09.1988

Lieber Michael Ende,

könnte man nicht beispielsweise beim Lesen der Unendlichen Geschichte den Eindruck bekommen, dass da ein "eingeweiht Sehender aus tiefem eigenen Schauen und innerer Erfahrung heraus uns Dinge zu berichten weiss, die helfen können, die getrennten Wirklichkeiten zu vereinen?" Und könnte man nicht beim Lesen von "Der Spiegel hinter dem Spiegel" vermuten, dass da "ein ernsthafter Betrachter seiner Träume versucht hat, seine nächtlichen Erfahrungen formal zu gestalten, künstlerisch umzusetzen und einer Leserschaft als Impuls für den Einbezug der eigenen Erfahrungswelt vorzusetzen?" Und nun möchte eben dieser Mann das Klarträumen erleben und die Ausserkörperlichkeit! Ein etwas wunderlicher Wunsch, denn Luzidität sollte doch die logische Konsequenz eben dieser Bemühungen und dieser Traumarbeit sein - und ein automatisch geschehender weiterer Schritt in Richtung Multidimensionalität. Wo also liegt der Haken an der ganzen Sache?

Da macht mich zum einen zunächst die Aussage stutzig, das Erlernen der Luzidität sei nicht so sehr aus persönlichen Gründen unausweichlich (oder jedenfalls nicht in erster Linie), sondern vielmehr aus beruflichen. Wie aber kann etwas im Sinne einer Lebensaufgabe geschehen, wenn nicht als Ausdruck ureigenster Personalität!? Wie aber kann etwas in die Welt hinausgetragen werden ohne einen vollbewussten Träger, einen Träger, der genau über sich selbst und seine eigenen Fähigkeiten Bescheid weiss, der seine Kräfte minutiös einzuteilen weiss und seine Stärken und Schwächen in jedem Augenblick erkennt. Weshalb also sitzt ein Mann mit diesem Hintergrund und diesen Vorstellungen wie festgebannt seit Jahren auf der Schwelle zwischen beiden Wirklichkeiten? Weshalb ist es einer solchen einmaligen Person noch niemals gelungen, auf der anderen Seite wirklich wach zu werden?

Wissen Sie, lieber Michael Ende, ich werde wohl nicht umhin kommen, Ihnen ein paar Dinge zu schreiben, die Ihnen an die Leber gehen werden. Und ich weiss nicht so recht, ob ich überhaupt berechtigt bin, Ihnen meine Sicht offen darzulegen, zumal ich ganz genau weiss, dass meine Art der Betrachtung letztlich rein subjektiv ist und Ihnen gegenüber stets ungerecht bleiben muss, weil Sie eben nicht ich sind. Oder ob es nicht einfach anmassend von mir ist, Ihnen etwas zu sagen, von dem ich zwar meine, es könnte zutreffen, von dem ich aber niemals wissen kann, ob es tatsächlich auch zutrifft. Denn - und ich möchte es nochmals betonen - was weiss ich schon von Ihnen, und wie könnte ich jemals meinen, meine Worte könnten Ihrer Person gerecht werden? Da ich aber weit von Ihnen entfernt wohne, wage ich es dennoch, denn ich muss nicht befürchten, dass Sie mir postwendend eine runterhauen können. Nun denn, mit einer gewissen Skepsis springe ich doch mal ins Wasser rein - vielleicht treffen wir uns irgendwo in den auf- und abgehenden Fluten kosmischer Brandungen (und dann können Sie immer noch ausholen und mich ohrfeigen).

Was mir absolut nicht klar ist, ist die Motivation, mit der Sie luzid in die Nacht hineingehen wollen. Mehr noch, ich "befürchte" sogar, dass Sie ungemein dafür motiviert sind. Ich werde dabei einfach den Verdacht nicht los, dass Ihr Motiv letzten Endes doch alltagsbezogen bleibt und keineswegs uneigennützig ist. Auch habe ich den Verdacht, dass Sie als Fernziel ein literarisches Kunstprodukt vor Augen haben. Die formale Umsetzung bzw. Gestaltung mag zwar ungemein wichtig sein, aber sie darf zu keinem Zeitpunkt zum ausschlaggebenden Motiv oder gar zum alleinigen Antrieb werden. Denn irgendwie dämmert ansonsten im Hintergrund bereits wieder eine Kommerzialisierung auf, ganz abgesehen von einer möglichen Dramatisierung, Banalisierung oder Ästhetisierung. Wenn Sie jetzt beim Lesen dieser Zeilen immer zorniger, ja wütend geworden sind, dann war mein Verdacht zutiefst zutreffend, wenn nicht, dann war er zumindest teilweise ungerecht, worüber ich nur froh und glücklich sein kann. Bitte beachten Sie auch, dass ich eher die Tendenz habe, zu viel als zu wenig zu sagen, d.h. ich bin oftmals provokativ, möchte aber keineswegs verletzend sein. Hoffentlich gelingt mir das!

Wie dem aber auch sein mag, es gibt meines Erachtens ein paar prinzipielle Dinge gerade im Zusammenhang mit jeder Art von 'esoterischem' Bemühen. Wenn einem die Alltagsrealität fragwürdig geworden ist, beginnt oftmals das Suchen nach anderen Wirklichkeiten. Exakt an diesem Punkt setzen die esoterischen Schulen ein - mit all ihren Übungen. Mich beruhigt es ungemein, dass Sie nicht den geringsten Erfolg mit all den Übungen gehabt haben, die Sie jemals durchgeführt haben. Und dass Sie - gewissermassen aus schierer Verzweiflung - keine Drogen genommen haben, rechne ich Ihnen hoch an. Das eine wie das andere sind wesentliche Punkte im Hinblick auf ein Hineingehen in andere Seinsbereiche. Weshalb? Weil es nicht angehen kann, mit Hilfe irgendwelcher Techniken in eine Raum-Zeit hineinzugehen, die bislang vom westeuropäischen Menschen beinahe ausschliesslich als zu erobernde und zu zivilisierende terra incognita betrachtet worden ist.

Ich wusste lange Zeit nicht, weshalb mich der parapsychologische, esoterische und anthroposophische Ansatz mitsamt all den Übungen und Stufenkonzepten derart abgestossen und beunruhigt hatte. Ich wusste auch nicht, weshalb mich der psychologische Ansatz stets unbehaglich bleiben liess, mir niemals Geborgenheit oder gar Sicherheit gab. Heute weiss ich es oder glaube es vielmehr zu wissen: Es war die fehlende Bereitschaft, auf das Ganz-Andere, das Völlig-Unerwartete einzugehen, es war die Macht hinter den Institutionen, die um ihre Privilegien angesichts eines burschikosen Uneingeweihten, eines Simplicissimus, zu fürchten begann. Alle Konzepte der Esoteriker (im weitesten Sinne des Wortes) beruhen auf einem Vorauswissen, auf einem Apriori-Besserwissen - und dies drückt sich offensichtlich in den Übungen (und den Stufenkonzepten und Prüfungen) aus. Das Staunen, das Sich-Wundern-Können, das offene Eingehen auf das Unerwartete blieb ausgeschlossen. Demzufolge erwies sich mein (nicht-theoriekonformes) Hineingehen "in die Wildnis" als nicht passend. Weder für die Vertreter der Jungschen Psychologie, für die meine Erfahrungen und speziell deren Betrachtungsweise bloss "bedauerliche Entgleisungen" waren, noch für die Dornacher Gralshüter, die in mir nur den Aussenseiter und sogar den Verräter an einer heiligen Sache zu sehen vermochten. Unvorstellbar beiden, dass, wie Sie sagen, Individuelles und Mythos in eines zusammenfallen können.

Vorstellbar dagegen sehr wohl, dass ich einer Inflation verfallen und gleichzeitig unfähig und zu wenig intelligent bin, mich in ein vorgegebenes Konzept willfährig einzufügen (um daselbst eventuell Karriere zu machen). Nochmals also sei gesagt, wenn es Ihnen bislang nicht gelungen ist, mittels Übungen weiterzukommen, dann ist dies für mich ein untrügliches Zeichen dafür, dass es die andere Seite mit Ihnen sehr gut meint. Wenn sie soviel Energie dazu aufwendet, Sie erfolglos bleiben zu lassen, hat Sie mit Ihnen anderes im Sinn - erwartet sie von Ihnen auch anderes. Denn nur auf diese Weise werden Sie dazu gezwungen, die Erfolglosigkeit als solche zu hinterfragen, und die Übungen selbst prinzipiell in Frage zu stellen. Es scheint mir deshalb logisch, dass Ihr Traumleben in dem Masse abzuwelken begann, in dem Sie Ihre Bemühungen steigerten! Fantastisch! Einfach wunderbar! Ausdruck einer unbestechlichen Rückkoppelung!

Die Ungezwungenheit, mit der andere Leute an die "andere" Wirklichkeit herangehen, die Ungläubigkeit, mit der sie die Sache betrachten und sogar die Tatsache, dass sie nicht einmal etwas von einer "anderen" Realität wissen wollen, lässt sie unverkrampft bleiben und verhindert ein Festhalten an irgendwelchen Konzepten. Beste Voraussetzungen also für einen Durchbruch. Schlechte Voraussetzungen allerdings für eine ernsthafte Auseinandersetzung. Richtig, Theorien esoterisch-philosophischer Art können Ihnen niemals weiterhelfen. Es gibt keine feststehende Theoria, kein noch so intensives, auf eigenen Anschauungen beruhendes Bemühen, das Ihnen weiterhelfen könnte. Denn Sie sind eben an jenem Punkte angelangt, wo die Bücher unbedingt weggeschmissen und verbrannt werden müssen. Praktisch bedeutet dies, dass Sie nichts Geringeres zu tun haben, als alles fahren zu lassen, also schlicht all das zu vergessen haben, womit Sie sich jemals indoktrinierten. Klar, dass das nicht so ohne weiteres geht und eigentlich völlig illusorisch ist. Aber es geht dabei um eine innere Haltung diesen Dingen gegenüber, um ein Aufgeben der Versteifungen, Rücksichtnahmen und der Hochachtung. Weiss Gott, was wissen denn der Levi, Crowley, Gurdjew oder all die anderen schon? Die köcheln auch bloss nur mit Wasser, selbst wenn sie ihr Wässerchen als hydor theion ausgeben sollten. Selbstverständlich schreiben diese Leute oftmals Gescheites und Gewinnbringendes, Nützliches und Erlesenes. Aber das, was die schreiben, oder das, was ich hier zu Papier bringe, ist doch völlig belanglos. Viel wichtiger ist doch, dass Sie Ihre Pfeife ganz bewusst schmauchen, Ihre partnerschaftlichen Beziehungen hellwach durchleben und Ihren Wein im Kreise guter Freunde beim Gespräch in vollster Aufmerksamkeit trinken. Wenn Sie das aufgeben, dann geben Sie sich selbst als Individualität auf - und dann werden Sie niemals luzid träumen. Was Sie falsch machen? Ich wüsste nicht was, Sie machen die Dinge auf Ihre Art schon richtig. Nur scheinen Sie das nicht akzeptieren und wahrhaben zu wollen, weil Sie all den Stuss der scheinbar Eingeweihten höher achten als das, was aus Ihnen selbst ausfliesst.

Und jetzt muss ich Sie wörtlich zitieren, um Ihnen einen deftigen Stolperstein vor die Füsse legen zu können (hätte ich einen Scanner, würde ich Ihren Text 'original' einbauen):

"In ihrem Buch schreiben Sie - was mir übrigens sehr einleuchtet - dass nach Ihrer Erfahrung das grösste Hindernis in gewissen vorgefassten Meinungen über die Existenz oder Nichtexistenz, oder ganz generell über die Beschaffenheit der nichtalltäglichen Wirklichkeit liegt."
Und dann folgt der Satz:
"Ich habe sehr ernsthaft überlegt."

Sie glauben also nicht, dass Ihre Schwierigkeiten hierin liegen, denn die Existenz der nichtalltäglichen Wirklichkeit war Ihnen eigentlich von Kindheit an völlig fraglos. Keine Frage, dass dem bis heute so gewesen sein mag! Ich habe sogar nicht einmal den leisesten Zweifel daran, dass Sie nicht durch ein naturwissenschaftliches Weltbild daran gehindert werden, die Schwelle zu überschreiten. Nur leider: Es gibt auch magische Weltvorstellungen. Und zum Donnerwetter nochmals, die liegen Ihnen nicht nur näher, die liegen wie schwerste Malsteine auf Ihnen und drücken Sie in Ihren physischen Leib hinein, dass mir Weh und Ach wird.

Tja, jetzt habe ich gesagt, was es von mir aus zu sagen gibt. Nun brauchen Sie bloss noch mit diesen Fetzen Papier Ihre Pfeife anzuzünden, sich gemütlich zurückzulehnen und die Augen zu schliessen (damit Sie nämlich nichts mehr lesen können)

(Falls Sie aber doch noch ein bisschen zwischen den Augenlidern hervorlugen sollten, steht hier ein herzlicher Gruss und weiter unten noch ein kleines PS, das nochmals einen Sachverhalt aufgreift und eventuell dazu einen Anstoss geben soll, dass Sie mir doch noch ein paar Zeilen schreiben)

Werner Zurfluh

PS Eben, wegen einer vorgegebenen Zielsetzung wird die Relevanz der eigenen Produkte für einen selbst zur dornenvollen Sache. Aber grundsätzlich ist es völlig belanglos, ob man als Produzent von Bildern und/oder Texten irgendwie den Durchblick hat oder nicht. Ich denke, auch von einer eventuellen Kommerzialisierung (Verkauf von Bildern, Drucklegung von Texten) kann abgesehen werden. Wichtig ist bloss die Ernsthaftigkeit und Aufmerksamkeit, mit der man - wenn unter Umständen auch erst Jahre später - an seine Produktionen herangeht und beginnt, sie als wirklich zutiefst Betroffener zu sehen, als jemand, der wie ein Fremder das beschaut und liest, was vor Jahren doch er selbst verfertigt hatte. Persönlich relevant bleiben die Dinger nämlich allemal - und anknüpfen kann man jederzeit. Meinetwegen mit einer Methode gemäss Williams (deshalb mein Hinweis). Gerade eben dann, wenn das Profane zu dominieren beginnt, der Gesichtskreis eingeengt scheint und man festgeklemmt scheint. In diesem Moment erweisen sich die Produkte von damals als Hinweise für heute und morgen.


6.10.88

Lieber Werner Zurfluh,

schon wieder einmal - es geht mit dem Teufel zu - schreibe ich Ihnen unter Zeitdruck. Warum werde ich gleich erklären. Aber zunächst geht es mir um Wichtigeres. Aus Ihrem letzten Brief, der für mich eine große Freude war, ging eine leichte Sorge hervor, daß die eine oder andere Ihrer Äußerungen mich kränken oder verletzen könnte. Das ist absolut nicht der Fall. Ich habe eine ganze Menge Fehler und Schwächen, aber dazu gehören zwei nicht. Ich bin nicht eitel und ich bin nicht wehleidig. Ich nehme Kritik mit Interesse und Gelassenheit entgegen, sofern es um die Sache geht. Machen Sie sich also bitte niemals in dieser Hinsicht Gedanken. Reden Sie ohne Vorbehalt und frei von der Leber weg mit mir. Ich möchte es meinerseits genauso halten dürfen.

Außerdem will ich noch etwas dazu sagen: Ich habe mich ja mit der Bitte an Sie gewandt, mir ''Klavierunterricht'' zu geben. Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich mich mit einer solchen Bitte um persönliche Unterweisung an jemanden wende, und ich habe es reiflich überlegt, ehe ich mich dezu entschloß. Ich habe nicht erwartet, daß es ein Sonntagspicknick werden wird. Ich meine es schon durchaus ernst.

Jetzt noch etwas ganz anderes: Neulich sah ich Sie, kurz vor dem Einschlafen, plötzlich vor mir stehen. Ich war völlig überrascht, weil Sie völlig anders aussahen, als ich Sie mir vorgestellt hatte. (Ich habe ja noch nie ein Bild von Ihnen gesehen). Aus irgend einem Grund hatte ich Sie mir eher zierlich und schmalgesichtig gedacht, leptosom, wie man das wohl nennt, und sehr intellektuell. Die Gestalt, die ich sah, war dagegen ziemlich groß, schätzungsweise 185 cm, ziemlich breitschultrig, das Gesicht eher fleischig, besonders die Lippen, dunkelblondes, etwas schütteres Haar, leichte Stirnglatze. Gesprochen wurde nichts, trotzdem war ich sicher, daß Sie es waren. Mich würde interessieren, ob da was dran ist.

Die "Traumarbeit" von Williams habe ich gestern endlich bekommen und werde mich nun ans Studium machen. Soweit ich beim ersten Überfliegen sehen kann, ist es das richtige Buch für mich. Herzlichen Dank für den Hinweis !

Nun will ich Ihnen aber doch noch erzählen, warum ich in letzter Zeit so ins Gedränge gekommen bin, denn die Alltagsrealität spielt ja nun eben für die Traumschulung auch eine Rolle. Etwa zu dem Zeitpunkt, als ich anfing, Ihnen zu schreiben, stellte sich heraus, daß mein Treuhänder, dem ich vor über zehn Jahren eine Vollmacht über meine Konten gegeben hette, nicht nur mein gesamtes Vermögen, das ich mir im Lauf meines Lebens erarbeitet habe, veruntreut hat, sondern darüber hinaus auf meinen Namen bei 14 Banken Schulden in Höhe von mehreren Millionen gemacht hat. Ich habe die Sache natürlich Anwälten übergeben, die auf Finanzfragen spezialisiert sind. Das Geld scheint allerdings unwiderbringlich futsch zu sein. Die Frage ist nur noch, wie es gelingen wird, die immense Schuldenlast zu verringern, sodaß ich wenigstens in ein paar Jahren wieder bei Null anfangen kann. Nun, Geld hat mich eigentlich nie sonderlich interessiert, nicht als ich keines hatte, nicht als ich viel hatte, und auch jetzt nicht, wo ich wieder keines habe. Das Ärgerlichste ist vor allem der enorme Zeit- und Denkaufwand, den ich jetzt einsetzen muß, um mich dem Würgegriff so vieler Banken zu entziehen. Ich schreibe Ihnen das nur, damit Sie informiert sind, warum mir manchmal die Zunge aus dem Hals hängt und ich nicht so ausführlich antworten kann, wie ich gern möchte. Ich hoffe, daß das bald wieder anders wird. Ich darf Sie nur bitten, diese Mitteilung ganz vertraulich zu behandeln. Je weniger Leute davon wissen, desto besser. Natürlich ist die Sache auf die Dauer nicht geheim zu halten, dazu sind viel zu viele Leute daran beteiligt (allein 14 Bankenl), die "Bild"-Zeitung hat auch schon irgendwie Wind davon bekommen und versucht bereits etwas herauszukriegen, aber jeder Tag, den die Presse später etwas Konkretes weiß, ist für mich ein gewonnener Tag.

Soviel erst einmal nur als Zwischennachricht, bald wieder mehr über den eigentlichen Anlaß unseres Briefwechsels.

Mit sehr herzlichen Grüßen !

Michael Ende


Der "Würgegriff" der Veruntreuung hat Michael Ende nicht mehr losgelassen - und hat ihn letztendlich vernichtet. Jan van Helsing bzw. die Verschwörungstheoretiker können einem manchmal schon zu denken geben. Der Briefwechsel ist in der Folge arg ins Stocken geraten, ging aber dennoch weiter. Vielleicht werde ich weitere Teile zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlichen. Das hängt vor allem davon ab, ob es zu einer Buchveröffentlichung kommen wird. An dieser Stelle möchte ich Michael Ende jedenfalls von tiefstem Herzen für sein Vertrauen danken !

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