Heino Gehrts Vom Schlaf im Märchen (1. Teil) in: Von der Wirklichkeit der Märchen (Regensburg: Röth, 1992:.99-117) (Ohne Anmerkungen und Literaturhinweise |
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[99] Es wird im Märchen
ganz außerordentlich oft geschlafen, und zwar nicht nur beiläufig
zwischen den wachen Tagen, sondern in lebenentscheidenden Situationen ganz
verschiedener Art, und es gibt auch offenbar ganz verschiedene Arten von Schlaf,
die mit verschiedenartigen Lagen des Helden oder der Heldin verknüpft sind.
Andererseits gibt es Situationen, in denen die Wachheit, die für den
Handelnden notwendig ist, in eine Spannung gesetzt wird gegen den Schlaf, dem er
zu erliegen droht und dem seine Nebenbuhler trotz ihres Widerstrebens auch
wirklich verfallen.
Eine Situation, in der sich der Held absichtlich schlafen legt, obwohl
uns das aus mehr als einem Grunde recht unerwartet kommt, ist die des Drachenkämpfers
unmittelbar vor dem Kampf. Er legt seinen Kopf der Königstochter, die er zu
erlösen vorhat, in den Schoß, läßt sich von ihr lausen und
fällt in tiefen Schlaf. Dies sonderbare, ganz unpassend erscheinende
Verhalten hat zu der Annahme geführt, daß der Held der Prinzessin
nichts weniger als seinen Kopf in den Schoß legt, sondern ihr beiwohnt,
und daß das Lausen in solchen Lagen nichts anderes als eine stehende
Metapher für den Beischlaf sei. Ich halte diese Meinung für durchaus
verfehlt, und es scheint mir, daß sie nur deswegen entstehen konnte, weil
wir seit langem mit dem Lausen keinen bestimmten Begriff mehr verbinden. Zwar drücken
sich einzelne Märchenfassungen, wenn sie den Beischlaf meinen, auch
gelegentlich metaphorisch aus, aber der jeweilige Typus läßt doch
keinen Zweifel am wirklich Gemeinten, und in den Märchen vom Goldvogel
(AT 551) und im Nachtwachenabenteuer (AT
304) wird dann auch notwendigerweise von der Geburt erzählt. Daß
gerade das Lausen eine Umschreibung für die Umarmung sei, ist wenig
wahrscheinlich. In verlausten Zeiten war das Lausen sicher eine Verpflichtung
eigener Art. Dafür gibt es Zeugnisse aus aller Welt und gerade auch dafür,
daß es auf den, der gelaust wird, einschläfernd wirkt.
Der
Schlaf des Drachenkämpfers muß also einen anderen Sinn haben als den
des Beischlafes. Wir könnten etwa den Versuch machen, darin ein Bild für
seine [100] Unerschütterlichkeit zu sehen. Ungerührt
von der tödlichen Bedrohung durch den Drachen auf der einen Seite und der
lieblichen Verlockung in Gestalt des Mädchens auf der anderen, läßt
sich der Held in tiefen Schlaf versenken. Oder der Schlaf des Retters könnte
vom Erzähler eingeführt worden sein, um die Situation zu dramatisieren
- so wie etwa der große Ungeheuertöter Kasper im Handpuppenspiel auf
der Bühnenleiste pennt, wenn seine Gegner Tod und Teufel, Krokodil und
Menschenfresser hinter ihm aufsteigen, und dergestalt die Mitwirkung der
jugendlichen Zuschauer herausgefordert wird. Im Märchen bleibt der Held, während
schon der vielköpfige Drache heranbraust, unerwecklich, bis er schließlich
von einem Tränenstrom des bedrängten Opfermädchens hellwach wird.
Es ist aber die Frage, ob wir in solchem Psychologisieren oder Dramatisieren
nicht eine allzu äußerliche Annahme machen, die den ursprünglichen
Gehalten des Märchens gar nicht entspricht. Es scheint zwar so, als entnähmen
wir diese Motivationen des Märchenmotives unmittelbar aus dem Märchenerzählen
selbst; aber uns ist gar kein unmittelbar als gültig erscheinender Maßstab
gegeben, der uns zu bestimmen erlaubte, ob diese Ansätze zum Verständnis
des Märchens aus ihm selbst oder aus uns stammen. Sogar wenn der Erzähler,
aus dessen Munde das Märchen aufgezeichnet worden ist, das Schlafmotiv
offensichtlich charakterisierend und dramatisierend verwendet hat, bleibt es
ganz unentschieden, ob diese erzählerische Verwendung dem ursprünglichen
Sinn des Märchens angemessen ist, ob nicht das Motiv ursprünglich
vielmehr aus einem substantiellen, bedeutenden Grunde in das Märchen
gelangt ist.
Um diese Frage zu klären, müssen wir bei den
Drachenkämpfern, bei den Genossen der alten Heldengesellschaft selber
Erkundigungen einziehen, kein anderer Weg führt zum Ziele. Demgemäß
fragen wir: Gibt es in der alten Überlieferung den Schlaf bei den
Erwartungsvollen, bei den zur höchsten Anspannung Aufgerufenen, letztlich
sogar bei den angespannt Tätigen selbst? - Die Antwort lautet ja. Der Fall
ist sogar ziemlich häufig, und da er in einer auch für uns verständlichen
Tatsachenwelt eintritt, so vermögen wir die Schlafanwandlungen dort
sachgerecht mit unseren Erkenntnissen über Schlaferscheinungen zu verknüpfen
und dergestalt den sachlichen Hintergrund, die Wirklichkeitswelt des Märchenmotivs
für unser Verständnis zu erschließen.
Dazu führen
wir aus den Sagas des alten Islands die folgenden Belege an:
Eine Schar von achtzehn Männern reitet am frühen Morgen, durch eine Anhöhe [101] gedeckt, auf ein Gehöft zu, das sie überfallen wollen. Da heißt sie der Anführer, der zauberkundige Thorgrim, absteigen; «er sagte, ihn schläfere so, daß er nicht im Sattel bleiben könne. Sie taten das nun: ließen die Pferde grasen, aber Thorgrim legte sich schlafen, zog sich den Mantel über den Kopf und gebärdete sich sehr unruhig im Schlaf.» Doch auch der Hausherr in jenem Gehöft schläft am Morgen einen besonderen Schlaf, er stöhnt, schlägt um sich, macht solche Unruhe im Haus, daß am Ende seine aufgestörten Genossen ihn wecken. Da erzählt er, daß achtzehn greuliche Wölfe sich dem Hause nähern, daß vor ihnen her aber eine bösartige und verschlagene Füchsin schnürt. Da sich die Schar der Feinde in der Tat auf achtzehn beläuft, so erscheinen sie offenbar im Bilde der Wölfe, in Gestalt der vorauseilenden Füchsin aber der Versuch einer zauberischen Ausspähung von seiten ihres Anführers. Dieser seinerseits weiß nach dem Erwachen zwar, daß er in jenem Hause gewesen ist, hat aber nur ein verworrenes Bild davon und erinnert sich im einzelnen an nichts. - Der Kampf geht so aus, daß alle Angreifer bis auf drei erschlagen werden.
In einem anderen Falle legen die Gegner eines Mannes eine große Schar in einen Hinterhalt. Er aber, als er auf seinem Ritt jener Lauerstelle schon nahegekommen war, wurde «sehr schläfrig und sagte, sie wollten hier rasten. So taten sie. Er schlief fest ein und stöhnte im Schlaf.» Nach dem Erwachen erzählt er seinen Traum, wie ihnen an einer bestimmten Wegstelle ein großes Wolfsrudel auflauere. Er schildert den Freunden im Bilde eines wölfischen Überfalls den Verlauf des Kampfes, und alles trägt sich wenig später ganz so zu. In diesem Falle handelt es sich also ebenfalls um eine Vorwarnung, überwiegend aber um ein im Schlafe empfangenes Vorgesicht; im ersten Geschehnis aber um ein Ferngesicht, verbunden, so sagen wir im Hinblick auf die Füchsin, mit einer Vision vom Kampfgeist des Hauptfeindes, der im Schlaf bis zu den Gegnern vordringt.
Wieder etwas anderes entnehmen wir aus der folgenden Episode. Zwei Scharen von Männern haben einen gemeinsamen Überfall vor. Nach ihrer Vereinigung kamen sie «auf ihrem Ritt in einen Wald; dort überfiel sie eine Schläfrigkeit, und sie konnten nicht anders als schlafen: sie hängten ihre Schilde an die Äste, banden ihre Pferde an und legten die Waffen neben sich.» Bei dieser Schar ist nun von Traumgesichten keine Rede; aber der Namengeber der Saga, der Freund des Mannes, dem der Überfall droht, der vielseitig begabte Njal, ist umgekehrt gerade schlaflos während dieser Nacht, und zwar deswegen. weil er in seinem Hause, nicht weit von jenen Gegnern seines Freundes, beunruhigt wird von deren Fylgjen, das heißt, von ihren auf das bestimmte Ziel hindrängenden Lebensgeistern. Doch wunderlich erscheint ihm eines: so wild sie sich [102] gebärden, so ziellos erscheint ihm auch ihr Gebahren. - Auf diese Weise wird Njal nicht nur des Mordanschlages gewahr, sondern gewinnt durch den schicksalhaften Schlaf der Männer auch die Macht, ihre Absicht zu durchkreuzen. Er sendet eine Warnung an den Freund, rät ihm, Mannen um sich zu sammeln, und weckt dann selber mit Spott die Schlafversunkenen und schickt sie nach Hause. Den Schlaf der Verschworenen habe ich schicksalhaft genannt, weil der Sinn oder seine Möglichkeit vermutlich darin liegt, daß zu der Stunde das Heil des Bedrohten für die Mordabsicht der Verschwörer noch unüberwindlich und undurchdringlich ist. In der Tat hängt die Tötbarkeit ihres Gegners von einer zu der Zeit noch nicht erfüllten schicksalhaften Bedingung ab.
Verallgemeinernd dürften wir vorderhand sagen, daß nach der Darstellung der Isländersagas bei den besonders dazu begabten Menschen die Annäherung des Gegners ein 'abaissement du niveau mental' auslöse. Wir sollten diesen oft verwendeten französischen Terminus jedoch nicht durch 'Absinken des Bewußtseinsstandes' übertragen, sondern den gemeinten Vorgang umschreiben als ein Absenken derjenigen Gemütsebene, auf der sich die Hauptmasse des Erlebens zuträgt. Diese Absenkung kann gegebenenfalls bis zum Einschlafen führen, braucht sich aber auch nur etwa als vermehrtes Schlafbedürfnis zu äußern.
wz: Die Bezeichnung 'abaissement' wird hier nicht als Minderung des Bewußtseins, sondern als Verlagerung verstanden. Dies ist speziell in diesem Zusammenhang völlig korrekt, widerspricht jedoch dem in der Psychologie üblichen Verständnis des Begriffes 'abaissement'.
So nähern sich wieder einmal viele Männer einem Verfolgten und dem mit seinem Schutze Beauftragten. Dieser fing «zu der Zeit stark zu gähnen an und sagte: 'Jetzt ziehen die Folgegeister Osvifs heran!'» Er aber ist nun auf diesem seelischen Niveau zur Gegenwirkung fähig, wickelt sich ein Ziegenfell um den Kopf und beginnt eine Beschwörung. Auf die Verfolger kommt ein dicker Nebel zu, und wenig später sinkt es ihnen schwarz vor den Augen herab; sie fallen vom Sattel, verlieren Waffen und Pferde und tappen ratlos umher. Es ist nun höchst sonderbar, wie die Dichte des Nebels wechselt mit den Absichten der Männer. Neigen sie dazu, die Verfolgung aufzugeben, so lichtet er sich ein wenig, gedenken sie wieder vorzugehen, wird es dunkel.
Zwar handelt es sich hier nicht um einen Schlaf
oder den Traum; doch vergleichbar sind Schlaf und Nebel schon, und für
diesen Vergleich ist es auch von Gewicht, daß die Beschaffenheit des
Nebels sich wandelt je nach dem inneren Zustande der Nebelwanderer, ob sie zur
Nachgiebigkeit oder zur Beharrlichkeit entschlossen sind. Die Verstärkung
des Eigenwillens führt nicht etwa zu einer Aufhellung des Tatsachenbewußtseins,
sondern sie läßt den Erlebenskern um so tiefer in der dunklen
Illusion versinken. Im Einklang mit dieser Einsicht und mit dem früher vom
Schicksalsschlaf Gesagten ließe sich des weiteren vermuten, daß auch
der Zauber des Beschützers nicht etwa eine auf freiem Willen beruhende Tat
in der Tatsachenwelt ist, sondern daß die Möglichkeit seines Zaubers
mindestens zum [103] ooo Teil in dem Sinn des Geschehens
und seinen schicksalhaften Bedingungen gründet.
Die
ausschlaggebende Wichtigkeit der tieferen Erlebensstufe für die Findigkeit
des Menschen in außergewöhnlichen Lagen - und damit die Wichtigkeit
des märchenhaften Schlafens - geht aus zwei Episoden
einer besonders schönen Saga, der Fostbroedhrasaga hervor.
Ein Bluträcher hat einer Frau mehrere Verwandte erschlagen. Zweimal hat sie Traumgesichte von seinem jeweiligen Aufenthaltsort, erinnert sich auch im Wachen genau daran und begibt sich mit ihren Kämpfern dorthin. Beidemal ist sie im wachenden Zustande unfähig, ihren Gegner wahrzunehmen, obwohl er sich wirklich am gewiesenen Orte befindet. Das eine Mal sieht sie den Stuhl mit dem Bilde Thors, auf dem der Verfolgte sitzt, leer, weil die zauberkundige Beschützerin des Mannes ihr die Augen verblendet. Das andere Mal ist sie nicht imstande, ihn auf der kleinen Schäre, auf der sie ihn im Schlafe ausgespürt hat und auf der er wirklich verwundet liegt, nächtlicherweile auch ausfindig zu machen.
Aus der Njalssaga wurde oben eine Szene angeführt, in der ein Mann zu Eingang seines Schau- und Wirkzustandes stark zu gähnen beginnt. In der Tat ist dieser physiologisch bedingte Reflex ein Vorzeichen nicht nur des gewöhnlichen Schlafes, sondern auch der Trance und verwandter Zustände. Auch aus vielen Beschreibungen schamanischer Séancen ist das anfängliche Gähnen bekanntgeworden; stattdessen kann auch ein absichtlich tieferes Einatmen über längere Zeit den gewünschten Zustand herbeiführen. Durch seinen Zusammenhang mit dem Trance-Erleben aber hat das Gähnen, dieses ruckartige Aufsperren des Mundes mit extremer Weitung des Brustraumes hohe Bedeutung angenommen. Mit Recht betont Jaspers, daß ihm trotz seiner reflektorischen Artung auch etwas Ausdruckhaftes innezuwohnen scheine. Dazu hat es aber ohne Zweifel auch einen eigenartigen subjektiven Erlebenscharakter. Dieser ist von besonders hohem Gewicht, wenn das Gähnen als unmittelbare Einleitung erlebt wird zur Eröffnung einer anderen, überlegenen Art von Wirklichkeit. Es ist daher nicht zu verwundern, daß Wörter wie gähnen und niederdeutsch jappen = gähnen mit Anfangs- und Ursprungswörtern etymologisch in Verbindung gebracht werden können. Hier sei als Beleg nur an das altnordische ginnunga gap erinnert, an den aufklaffenden, den gähnenden Urraum.
wz: Vgl. hierzu das Motiv der Symplegaden.
Daß eine solche Ideenverbindung tatsächlich ausgebildet werden kann, daß das Gähnen des Schamanen als kosmische Kraftwirkung zu erscheinen vermag, zeigt eine Schamanenlegende der Jakuten.
Die Seele eines Mannes, der 'drüben' zum Schamanen aufgezogen werden soll, liegt auf einer Pritsche in der himmlischen Jurte des Ulun-Tojon, des Himmelsherrn der 'bösen [104] Geister'. Man hört vom Erdenland, aus einer Séance, die Töne einer Trommel heraufdröhnen. «Die Schläge wurden immer lauter, so daß das ganze Haus des Ulun-Tojon in Erschütterung geriet. Dann gähnte der Schamane gedehnt. Von diesem Gähnen fing die Jurte an, sich in die Höhe zu heben, und erbebte noch stärker.» Danach wird auch der Gesang des Schamanen dort oben vernehmlich; er nimmt die Geister des Himmels und der Erde in sich auf und erscheint vor Ulun-Tojon, sich verbeugend, betend und bittend, aber immer im unwiderstehlich machtvollen Gesang. - Nach einem Bericht über eine Séance bei den Evenken (= Tungusen) nimmt der Schamane im Gähnen auch die Hilfsgeister in sich auf, sicherlich eine weitverbreitete Vorstellung.
Für uns hat dieser Seitenblick auf das Gähnen
hier die Bedeutung, daß er einen Zug an einem der altisländischen
Belege verallgemeinert und in weiträumige Beziehungen setzt, daß er
den Zusammenhang zwischen Schlaf(symptom) und wunderbarem Erlebnis von einer
anderen Seite her beleuchtet, und schließlich noch, daß an einem höchst
alltäglichen Vorkommnis wie dem Gähnen sichtbar wird, wie
unterschiedlich sein Bedeutungsgewicht in der alten Welt gewesen sein kann,
besonders eben in Kulturen mit schamanischen Erlebnissen. So mag es denn auch
zutreffen, daß man den Schlaf der Märchenfiguren, wenn man ihn analog
dem gewöhnlichen Erquickungs- oder Erschöpfungsschlaf begreifen will,
völlig verkennt.
Der eben berührte Bericht aus der Njalssaga
leitet von den außerordentlichen Wahrnehmungen im Schlafe über zu den
Erzählungen von außerordentlichem Wirken. Ein Vorkommnis dieser Art
ist auch uns aus allerlei Überlieferungen noch vertraut, die Ausfahrt der
Hexen. Von ihnen wurde erzählt, daß sie nach der Aufnahme eines
Rauschmittels den Leib verließen und auf dem entfernten Festplatz nicht
nur wahrgenommen wurden, sondern ihre Anwesenheit dort auch in anderen Wirkungen
offenbarten. Die eine Seite solcher Vorkommnisse wird in den Sagen so
dargestellt, daß der Ehemann in der Tiefe der Nacht seine Frau in
unerwecklichem Schlafe neben sich findet und dies als sicheres Zeichen dafür
ansieht, daß sie eine Hexe ist, daß sie in Wirklichkeit auf einem
Tanzfest weilt und nur den Leib abgestreift und daheim gelassen hat. Oder es
wird sogar erzählt, daß die Hexe im Gefängnis einer Beobachtung
unterworfen wird, daß sie sich mit ihrer Salbe einreiben darf, daß
sie einschläft, daß sie auf ihrem Bette sich umherwirft, aufschnellt,
jauchzt - und nach dem Erwachen von der Lustbarkeit am fremden Orte zu erzählen
weiß.
Mit derartigen Berichten überschreitet man noch nicht
die Grenze zwischen denen, die von rein subjektiv zu deutenden Schlaf- und
Ausfahrtserlebnissen erzählen, und solchen, die von objektivem
'Schlafwirken' am anderen Orte [105] Zeugnis ablegen
sollen. Zwar gibt es nur allzuviele Nachrichten von den Frauen oder Männern,
die ein Zeuge auf dem Festplatz identifiziert haben will, aber die gleichzeitige
Beobachtung von Schlaf daheim und Tanz am entfernten Kultort ist schon der Natur
der Sache nach nur selten zu erwarten (wz: Bilokation).
Einzigartig in dieser Hinsicht ist eine niederländische Sage, die
von einem Mädchen erzählt, das später in der Kirche exorzisiert
worden ist, dessen seltsame Zustände und Gewohnheiten man mithin auf
Besessenheit zurückgeführt hat.
Sie war eine vorzügliche Sängerin und Tänzerin, und ihre Freundinnen waren daher sehr verwundert, daß sie sich am Kirmestage, statt mit ihnen tanzen zu gehen, daheim schlafen legte. Darüber brauchten sie sich freilich nicht mehr zu wundern, als sie zum Tanzsaale kamen; denn dort fanden sie schon «die Schläferin ... in vollem Springen. Und sie tanzte nicht nur in Einer Schenke, sondern in allen zugleich, wo nur Musik war.»
Wichtiger für unsere Thematik als das
vervielfältigte Erscheinen der Schlafenden am anderen Orte ist für
unsere Frage nach dem fernwirkenden Märchenschläfer die Vorstellung
von tatsächlich eingetretenen Veränderungen an der 'im Schlafe'
erreichten Stätte. Von einer lange bleibenden Spur solcher Seelentänze
erzählen die Sagen von den Hexen oder Elfenringen, also von ausdrücklich
als vegetationslos gekennzeichneten regelmäßigen Kreisen am
sagenhaften Orte. Man könnte dazu auch die Sagen von Wahrnehmungen zählen,
die nächtliche Wanderer an der Hexenstätte machten, die dort große
Gesellschaften erblickten, sie durch ein einziges Heilswort zum augenblicklichen
Verschwinden brachten und manchmal von dieser Begegnung den Gegenstand
unverwandelt davonbrachten, den sie zufällig in der Hand hielten.
Von
anderer Art ist eine Nachricht, die Erasmus Franzisci in seinem Höllischen
Proteus nach der Aussage eines vornehmen Mannes wiedergibt. Auch dort handelt es
sich um ein von Gerichts wegen vorgenommenes Experiment, bei dem die Hexe sich
ebenfalls in Zeugengegenwart gesalbt hat, in tiefen Schlaf verfallen und nach
drei Stunden plötzlich wieder erwacht ist. Die Frau behauptete, in etlicher
Meilen Entfernung als Wolf ein Schaf und eine Kuh gerissen zu haben, eine
Aussage, die an Ort und Stelle als wahr erwiesen werden konnte.
Es
bleibt für unseren Gedankengang gleichgültig, daß ein derartiger
Bericht von einer angeblichen Tatsache mit vielerlei Fragezeichen zu versehen
ist. Für unser Verständnis des Märchenschlafes hat als einzig
ausschlaggebend dies zu gelten, daß gemäß den älteren Überzeugungen
und Überlieferungen Schlaf durchaus nicht mit Untätigkeit und
Wirkungslosigkeit gleichgesetzt wird, sondern daß gerade dem Schlafenden
gelegentlich ein nachhaltigeres Wirken zugeschrieben wird als dem Wachenden. Ein
oft angeführtes Beispiel für eine derartige [106]
Begebenhelt ist in der Tradition des alteuropäischen Nordens der letzte
Kampf in der Hrolfssaga Kraka.
Es handelt sich da um einen Heldenkönig der dänischen Sage, der einen Kreis machtvoller Streiter um sich geschart hat und der bei einem Fest, das er gibt, von seiner zauberkundigen Schwester und seinem verräterischen Schwager überfallen wird. Der König und seine Helden erwehren sich mannhaft der Übermacht, und es scheint so, als würden sie der Angreifer Herr werden. Merkwürdig ist, daß an dem Abwehrkampf gerade der Vorstreiter des Königs nicht teilnimmt, Bodhvar Bjarki; er sitzt vielmehr untätig, wie es scheint, in der Halle - bis sein liebster Kampfgenosse ihn mit starken Worten auffordert, an dem Notgefecht teilzunehmen. Von da an aber, als er nun wirklich hinausgeht, beginnt sein König zu verlieren. Bisher hatte nämlich ein mächtiger Bär vor dem König gekämpft und hatte mit seinen Pranken mehr Gegner erlegt als fünf Schwertgenossen des Königs zusammen. Auch hatte dem Bären keine Waffe etwas anhaben können, und die feindliche Königin hatte vergeblich in ihrem Lager auf dem Zauberstuhl gesessen, um ihrem Bruder mit schwarzen Künsten beizukommen. Jetzt aber bricht aus ihrem Heere ein mächtiger Eber hervor, groß wie ein Stier, wolfsgrau, aus jeder Borste Pfeile schleudernd, das Heergefolge des Dänenkönigs in Haufen niederwerfend, und es dauert nicht mehr lange, da sind die Fechter in der Schildburg um den König, er selbst und alle seine Krieger gefallen.
Wenn nun auch nicht ausdrücklich gesagt
wird, daß Bodhvar geschlafen hat, so befand er sich doch in einem
lethargischen, schlafähnlichen Zustand, der auch dem entspricht, was die
Sagen vom Zustand der ausgefahrenen Hexen erzählen, und es bedarf sehr
starker Worte seines Kampfgenossen - bis zur Drohung hin, ihm die Halle überm
Kopfe anzuzünden, - um ihn aufzurütteln und zu leiblichem Dabeisein
und Eingreifen zu bringen.
Wie hier Bär und Eber
widereinanderstehen, der Eber aber überhaupt erst in Erscheinung treten
kann, nachdem der Bär 'erwacht' ist, so kämpfen nach einer Stelle der
isländischen Landnamabok zwei einzelne Rivalen in Tiergestalt
gegeneinander. Die Stelle ist besonders bedeutsam dadurch, daß sie den
Streit nicht etwa völlig in die Innerlichkeit verlegt, sondern von körperlichen
und dinglichen Veränderungen im Sinnenraume berichtet.
Es heißt, daß in der alten Zeit, lange vor der Verchristlichung, ein Mann in Hvol lebte, der Werwolfskräfte besaß, und ein anderer ebenso begabter in Dufthaksholt. Diese beiden «stritten sich wegen der Weide. Ein Hellseher sah eines Abends um Sonnenuntergang, wie ein mächtiger Bär von Hvol und ein Stier von Dufthaksholt kam, und sie trafen sich bei den Storolfsvellir; sie gingen einander wütend an, und der Bär war der Stärkere. Am Morgen sah man eine Kuhle, wo sie gekämpft hatten, [107] als wenn die Erde umgewälzt wäre ... Die beiden waren schwer wund und lagen zu Bett.»
Wir begnügen uns mit diesen Beispielen aus
der Welt des alten Nordens. Sie lehren uns zum mindesten dreierlei. Erstens
zeigen sie, daß der Märchenschlaf durchaus nicht mit dem gewöhnlichen
Nachtschlaf identisch sein muß, sondern daß er jenen wunderbaren
Zuständen ähneln oder gleichen könnte, von denen auch die Sagas
erzählen. Zweitens geht aus den Berichten unter dieser Voraussetzung
hervor, daß die Wunder des Märchens nicht mit den Wundern des gewöhnlichen
Nachttraumes verglichen werden dürfen, sondern daß sie mit größerer
Wahrscheinlichkeit vergleichbar sind mit den Ausnahmezuständen jener
Berichte - mit Zuständen also, die wir hypnoid nennen können,
somnambulisch oder trancehaft; die auch aus dem Schamanentum vertraut sind und
die in ganz und gar folgerechter Weise in leibhafte Ereignisse eingereiht sind -
wie ja auch der Ablauf der Märchenhandlung trotz wunderbarer Abschnitte
ganz und gar folgerichtig ist, in einer Weise, die dem Ablauf typischer Träume
durchaus widerstreitet. Wir fügen drittens die allgemeine Vermutung hinzu,
daß ein Großteil der Märchenwunder überhaupt wurzelt in
jener dunklen Sphäre, deren Erforschung heute der Parapsychologie
zugewiesen wird.
Wir hätten nun zu fragen, ob das Märchen
selbst Aussagen macht, die in die Richtung unserer Deutung weisen. Die erste
Antwort darauf ist selbstverständlich, daß dies nicht der Fall ist. Wäre
es anders, so würde ja das Märchen selbst schon die Erklärung bloßlegen,
die wir abzuleiten uns bemühen. Die zweite Antwort ist die, daß in
manchen Fällen das Märchen in der Tat die somnambulischen Zusammenhänge
andeutet. Das ist nicht zu verwundern, da ja die Erzähler sich oftmals auch
in der Welt der Sagen auskannten - und bisweilen auch der somnambulischen oder
schamanistischen Erlebnisse - und sich mehr oder weniger leicht darauf besannen,
daß sie es hüben und drüben mit verwandten Erscheinungen zu tun
hatten.
In einem litauischen Märchen hat der Königssohn den zwölf toddrohenden Helden im dritten Königreich die allerschönste Braut entrissen, er entreitet mit ihr, und jene wissen nicht, in welcher Richtung. Darum holen sich die zwölf Brüder Rat bei ihrer Mutter. Diese, eine Hexe, sagt: "Wartet, Kinder, ich will etwas schlafen gehen." - Sie schlief ein wenig, stand auf und sagte: "Ach Kinderchen, beeilt euch nicht, ich will euch noch Hörnchen für unterwegs backen. Ihr holt sie ein und nehmt sie [108] ihm weg!". Also ein Ferngesicht und ein Vorgesicht. - Ganz dementsprechend versuchen in einer Eskimo-Erzählung die Dorfgenossen einer Frau, die auf einer Eisscholle abgetrieben ist, von ihr zu träumen, um ihren Verbleib auszuforschen.
Bisweilen besitzen die Erzähler genaue Kenntnis von den außerordentlichen Schlafzuständen - oder ihre Vorläufer besaßen sie doch -, und sie führen dann selbst die Proben an, die man seit der Zeit des animalischen Magnetismus auch ärztlicherseits auf die Echtheit des somnambulischen oder hypnoiden Zustandes gemacht hat. Die Schmerzlosigkeit ist ein Symptom des echten Hochschlafes, und so haben die damaligen Ärzte die magnetisch Schlafenden mit Nadeln gestochen und mit glühender Kohle gebrannt und festgestellt, daß sie weder Äußerungen des Schmerzes noch Anzeichen seiner Unterdrückung beobachten konnten. Im Märchen gibt es Prüfungen auf Tiefschlaf auch ohne solche Proben.
In einem niedersächsischen Märchen des Typs 400 legt einer der Geister dem Schlaf vortäuschenden Erlöser vor der Zerstückelung «das Ohr auf sein Gesicht, um sich davon zu überzeugen, ob er auch schliefe.» Andererseits wird in einem hessischen Märchen dieses Typs gesagt, daß der Held sich die Qualen ruhig gefallen läßt, «und das wurde ihm nicht schwer, denn er fühlte nichts davon.» In einem dänischen Märchen des Typs 306, von den zertanzten Schuhen, probiert die das Mädchen in die Unterwelt führende Geistin, ob der Bursche auch «richtig schläft, und sie nahm eine goldene Nadel und stach sie ihm in die Ferse.» Im tschechischen Tanzmärchen brennt die Nachtfahrerin den «Schlafhans», der in anderen Fassungen auch «Siebenschläfer» genannt wird, mit einer Kerze an den Fußsohlen. In einem holsteinischen Märchen des Typs 400 gehört das Nadelstechen zu den Erlöserqualen selber, aber der junge Mann hält aus und läßt keinen Laut hören. Im Typus 425A gehört zur Wiedervereinigung des Paares die Voraussetzung, daß die junge Frau in den Schlaf ihres selbstvergessenen Ehemannes hinein ihre beschwörenden Worte spricht. Ihre Widersacherin selbst versenkt ihn mit einem Trunk in Schlaf. Im norwegischen Märchen traut sie ihm dennoch nicht und sticht ihn zweimal mit einer Stopfnadel in den Arm, doch er, trotz des Schmerzes, rührt, sich nicht. In der ganz entsprechenden Situation eines irischen Märchens glaubt die Hexe nicht, daß der Mann wirklich schläft. «Sie nahm eine Kerze, hielt sie ihm an die Fußsohlen und verbrannte sie bis auf den Knochen. Er aber rührte sich nicht.»
In allen diesen Beispielen wird der Schlaf
vorgetäuscht, es wird von keiner Trance erzählt, sondern so, als
erfolge die Probe entweder auf den einfachen Nachtschlaf oder auf den narkotisch
bewirkten Schlaf. Daß man mit Nadelstichen die Probe auf Nachtschlaf
machen könne, ist nun freilich sehr unwahr- [109]
scheinlich, und der ganzen Situation nach haben wir es hier auch gar nicht mit
dem bloß vorgetäuschten Schlaf oder dem Betäubungsschlaf zu tun,
sondern mit dem hypnoiden Schlaf, der überhaupt erst das Zerstückeltwerden
möglich macht - oder die schamanische Verfolgung der entrückten
Jenseitstänzerin - oder die Wiedererweckung des vollen Bewußtseins
vermöge direkter Einflußnahme des vollbewußten Weibes auf das
abgespaltene Bewußtsein des Mannes. Dieser eigentliche Gehalt der
betreffenden Märchen war es, der die Nadel- und die Kerzenprobe in die Erzählung
einbrachte.
Sehen wir uns nach weiteren Beispielen um, in denen die Erzähler
eine Einsicht in die schläferischen Gründe des Geschehens verraten.
In einer Sammlung irischer Volksmärchen findet sich eine Erzählung vom «Berg der lichten Frauen», in der dargetan wird, wie das Hinüberwechseln in die Welt der Feen «im Schlafe» vor sich geht.
wz: Wechsel der Wirklichkeitsebene des (bewußten) Erlebens; Ebenenwechsel; von der Alltags- in die Anderwelt hinüberwechseln; problematisch (und damit zu einem 'Psychiatriefall') wird dies nur, wenn es nicht gelingt, eine Zustandskontrolle durchzuführen bzw. wenn nicht erkannt wird, dass ein Wechsel stattgefunden hat.
In einer Entrückungsgeschichte aus einer anderen Sammlung begibt sich die Mutter nach Aussage der Kinder «wie eine Schlafwandlerin» dorthinüber. Gelingt es aber dem Vater, vermöge eines Kunstgriffes sein Weib jener Welt zu entreißen, so hält er sie als eine Ohnmächtige in den Armen, und erst allmählich kehrt sie in den Alltag des Familienlebens zurück. Hiermit ist unmittelbar zu vergleichen eine koryakische Erzählung von der Entrückung Grasweibs, der Frau Ememquts, die nach der Wiederbringung noch eine Zeitlang wie eine «Besessene» war und erst allmählich wieder zu Verstande kommt.
Den vom Übersetzer gewählten Ausdruck «besessen»
dürfen wir in dieser Nachricht allerdings nicht wörtlich nehmen, da
dieser Terminus kaum die präzise Bedeutung des koryakischen Wortes
innerhalb der dort heimischen Psychologie wiedergibt. Offenbar wäre unser
Wort «geistesabwesend» besser angebracht, wie denn auch das Weib noch
eine Weile in die «Wildnis» zurückverlangt, also einen Hang zu «Absenzen»
zeigt.
Noch deutlicher als in den irischen Frzählungen tut sich
das somnambulische Tor zur Märchenwelt in zahlreichen Überlieferungen
Chinas auf, in einer Kultur, heißt das, die Züge der schamanistisch
erlebten Welt bis in die Spätzeit bewahrt hat. Daher bietet die Literatur
dort vielerlei Beispiele für den «schlafenden» Übergang in
die Welt der Geister, Feen und Götter.
In einem Märchen aus der Sammlung Richard Wilhelms handelt es sich um eine Drachenprinzessin, die menschlicher Kampfeshilfe bedarf. Bevor sie, um dieses Gesuch zu Gehör zu bringen, im Yamen des örtlichen Magistrats selbst auftritt, fühlt sich der Amtsrat schläfrig, nimmt die Dienstmütze ab und legt sich aufs Kissen. Nach der Verhandlung und dem Hilfeversprechen erwacht der Beamte. Eine zweite flüchtige Begegnung findet an einem dunklen Morgen statt, bei der eine undeutliche Gestalt vor dem Vorhang zu stehen scheint. Eine [110] Gefechtsmeldung erhält der Amtsrat von einem seiner Soldaten, der eines Tages bewußtlos umfällt und erst am nächsten Morgen wieder zu sich kommt. Der Feldherr, den er der Prinzessin zur Verfügung gestellt hat, liegt während der Dauer der Drachenkämpfe wie tot da, aber verwesungsfrei und mit ein wenig Wärme in der Herzgrube. Nachher beginnt er röchelnd zu atmen, kehrt ins Leben zurück und gibt einen ausführlichen Bericht von der Schlacht, die er im Drachen- und Seelenlande geschlagen hat. Am Ende begibt er sich, gemäß dem Begehren der Prinzessin, für immer nach drüben und stirbt dieser Welt ab.
Die Schilderung von derlei märchenhaften Übergängen kehrt in der chinesischen Literatur häufig wieder. Eine typische Episode ist die folgende.
Einem Gott ist im Feuer ein wundersames Stück Bambus geopfert worden, das sich besonders gut für eine Flöte eignet, und er läßt daher durch zwei seiner Offiziere einen menschlichen Schnitzer dazu berufen. Der sitzt zu der Zeit vor seinem Haus bei der Arbeit, folgt aber sogleich mit seinem Werkzeug der Aufforderung der Boten, zu ihrem «hohen Herrn» zu kommen. Nicht lange, so erblickt er ragende Hallen, und ihm wird gesagt, daß er in der «Unterwelt» sei. Er entledigt sich seiner Aufgabe, wird heimlich Zeuge wichtiger jenseitiger Schicksalsverfügungen, erbittet sich als Lohn nichts weiter, als daß seine Schwester Gattin des Schicksalsbegünstigten werde, und wird dann wieder auf den Rückweg geleitet. Man gelangt an einen steilen Absturz, die Begleiter geben vor, ihrem Schutzbefohlenen etwas zeigen zu wollen, stoßen ihn aber «von der Steilwand in den Abgrund. Zu Tode erschrocken riß der Flötenschnitzer die Augen auf und fand sich nirgendwo anders als auf seiner Lagerstatt wieder». Von seiner Frau erfährt er, daß er vor zwei Tagen beim Schnitzen plötzlich tot umgefallen und von ihr, weil sie an seinem Herzen noch ein wenig Leben gespürt, aufs Lager gebettet worden sei.
In dieser Schilderung sind besonders charakteristisch der Stoß und der Sturz von drüben, denen das Erwachen hier folgt. Das Motiv kehrt auch in anderen märchenhaften Erzählungen Chinas wieder, in besonders charakteristisch ausgestalteter Weise in der folgenden Szene des Hsi Yu Chi.
Dieser «Bericht von der Westfahrt», ein vielfarbiger Märchenroman, erzählt von der Reise des Mönches Tripitaka und seines Dieners, des göttlichen Affen, nach Indien. In der fraglichen Episode muß sich ein Kaiser vor dem Unterweltsrichter wegen der Anklage eines Regendrachen verantworten, er stirbt, wird freigesprochen und darf zurückkehren, was ihm vor allem ermöglicht wird mit Hilfe einer geschickten Fälschung der Schicksalsakten durch einen früheren Minister seiner Dynastie, der jetzt Archivar beim Totengericht ist. Die Rück- [111] kehr geht so vonstatten, daß er von einem Totenhauptmann zu Pferde an den Fluß geleitet wird, der südlich seiner Hauptstadt fließt. «Im Wasser bemerkte er zwei miteinander spielende goldene Karpfen, die bald aus den Wellen heraus, bald wieder hineinsprangen. Von ihrem Anblick entzückt, hielt der Kaiser sein Pferd an und betrachtete sie aufmerksam». Der Hauptmann fordert ihn auf, sich zu eilen, doch «der Kaiser fuhr fort, auf den Fluß zu starren. Da stieß Chu mit einem lauten Schrei Roß und Reiter ins Wasser.» Im Palast umstehen Hofstaat und Familie den schon geschlossenen Sarg mit der Leiche. Doch plötzlich ertönen daraus Schreie: «Er hat mich ertränkt, er hat mich ertränkt!» Der Sarg wird geöffnet, und der Kaiser gewinnt nach einer kurzen Zeit der Verwirrung sein klares Bewußtsein wieder.
wz: Manchmal ist es - gerade wegen der Bewußtseinsklarheit - außerordentlich schwierig, sich nach einem abrupten Ebenen- und Szenenwechsel wieder voll auf den Alltag einzustellen und blitzartig neu zu orientieren.
Besonders beachtenswert ist an dieser Szene die Faszination durch das Spiel der Karpfen an dem Grenzübergang. Ihr entspricht in der anderen Episode das Vorgeben der Geleiter, dem Flötenschnitzer etwas zeigen zu wollen.
Solche Weise des Erzählens, die
entschiedene Kennzeichnung des Überganges ist kulturgebunden und findet
sich in unseren Märchen nur ausnahmsweise. Die Nennung des Tores, die
konkrete Bezeichnung der Schwelle widerstreitet dem Stil und dem Wesen unserer
Art märchenhaften Erzählens, müßten wir doch sonst auch
weitaus häufiger auf Darstellungen stoßen, wie sie eben aus irischen
und chinesischen Sammlungen angeführt wurden. Die Schilderung des Hinüber
und Herüber ist in unseren Märchen entweder völlig verräumlicht,
eine Reise mit Fluß- oder Gebirgsschwelle, mit Felsenkluft oder Schloßmauer,
ohne die Andeutung eines Wechsels zwischen Leiberwelt und Seeleninseits - oder
es tritt an solchen Stellen als ein nicht einfach aufzulösendes Sigel das
Schlafmotiv auf. Doch ist die Aufdeckung seiner Funktion innerhalb der Erzählung
nicht märchenhaft, entspricht nicht unserem Märchenstil, sondern sie
gehört in den Bereich der Sage. Dafür spricht in unseren Beispielen
auch mit Entschiedenheit die Lokalisierung des Geschehens.
Die erste
der irischen Entrückungssagen knüpft von vornherein an eine Stätte
des Spuks, an einen von Geistern bewohnten Hügel an; die zweite
identifiziert nach der Beendigung des Entrückungszustandes das Märchenschloß
mit einem Spukort. Auch das erste der chinesischen Beispiele will von den
Drachen zweier bestimmter Seen in der Landschaft erzählen, das kaiserliche
Erlebnis ist in eine Geschichtsepoche Chinas verwoben. Uns ist die Aufnahme
solcher Geschichten in die Märchensammlungen willkommen; sie helfen uns,
das Wesen des Märchens zu erhellen. Doch wäre es ein Irrtum, sie
selbst für ganz typische Märchen zu halten. Die eigentliche Märchenerzählung
läßt die Handlung ablaufen gerade ohne die Schwelle zu vermerken; ja,
wir dürfen wohl sagen, daß es die innere Verlaufs- [112]
bahn gleichmäßig in die Außenwelt hineinreichen läßt,
daß es auf Grund der These erzählt, es sei die immerwährende
umfassende Welt gerade die innere, die des Hellschlafes, von dem das bewußte
Wachen nur ein Teilaspekt sei. Umgekehrt berichtet die Wundersage von
Ereignissen in der Körperwelt, die in dieser Welt weder eine zureichende
Ursache haben noch in einem durchgängigen Sinnzusammenhang stehen, deren
wahlverwandte und Bedeutung schenkende Verbindungen mithin unabsehlich in eine
fremde Welt hinaus verlaufen.
Es ist nun höchst bedeutsam, daß
diese märchenhafte Weltordnung und der Standort des Märchenerzählens
durch die Bewußtseinszustände, die mit dem Somnambulismus zusammen
auftreten, bestätigt werden. Nach den Erkenntnissen, die schon zur Zeit des
animalischen Magnetismus gewonnen wurden und die seither durch die
Hypnoseforschung bestätigt worden sind, schließt das Tagesbewußtsein
der zu somnambulischen Zuständen neigenden Person dasjenige Bewußtsein
aus, das den somnambulen Zustand erhellt - mit anderen Worten, es besitzt keine
Erinnerung daran. Aber das somnambulische Bewußtsein selbst, innerhalb
seines Zustandes, umfaßt das Tagesbewußtsein mit, seine Erinnerungen
an dessen Inhalte sind sogar vollkommener, als sie in diesem selbst erscheinen.
Mit Recht wurde daher der somnambulische sogenannte Schlafzustand als ein Bewußtsein
aufgefaßt, das dem gewöhnlichen Tagesbewußtsein überlegen
ist, und wenn er mit einem Schlafbegriff bezeichnet wurde, weil in der Tat das
Leibesbewußtsein, das heißt, die Sensibilität und die mit ihr
verknüpfte Bewußtheit schlafen, so wurde doch mit Recht und aus eben
diesem Grunde ein Wort gewählt wie Hell- oder Hochschlaf.
Im
Hinblick auf die Art märchenhafter Darstellung dürfen wir demnach
sagen, daß das Märchen als Fundament das umfassende Bewußtsein
des Hellschlafes einsetzt und auf dieser durchlaufenden Bahn das Geschehende
bruchlos entwirft. Mit diesen Worten bringen wir auch die substantielle Ursache
zum Ausdruck für jene formale Eigentümlichkeit des Märchens, die
Max Lüthi als seine Eindimensionalität bezeichnet hat. Die Sage
ihrerseits benutzt das Tagesbewußtsein als Fundament, und daher erleidet
ihre Darstellung stets einen Bruch - an den beiden Punkten nämlich, wo die
Bahn des Hellschlafes betreten oder verlassen wird. Den Gegensatz zwischen Märchen
und Sage dürfen wir daher geradezu als weltanschaulich bedingt bezeichnen -
im eigentlichen Sinne eines fundamentalen Unterschiedes der Standorte, aus denen
die Welt angeschaut wird. Allerdings macht dieser Unterschied der
Weltanschauungen noch nicht den ganzen Unterschied zwischen Märchen und
Sage aus; denn dem [113] altüberlieferten Zaubermärchen
unterliegt noch eine bestimmte Gestaltungsabsicht, die auf seine Gehalte und
seine Gestaltungen eingewirkt hat, die ritualistische nämlich. Doch ist auf
diese in dem gegenwärtigen Zusammenhang, im Hinblick auf das Schlafmotiv,
nicht näher einzugehen.
Der Märchenerzähler heutzutage
fußt nicht einmal mehr in dem Standort der Sage. Er kann im allgemeinen
zwischen der Märchenwelt und der Alltagswelt seiner Zuhörer nicht mehr
vermitteln, sondern darf sich damit begnügen, das Märchen als ein
Phantasma wiederzugeben. Doch haben die Träger der Überlieferung, seit
der Zeit, da das Märchen noch in seiner ursprünglichen Funktion
verstanden wurde, des öfteren den Versuch unternommen, für den
sinnvollen Einklang, in dem die Episoden des Märchens ursprünglich
zueinander standen, eine zeitgemäßere neue oder doch wenigstens
gelinde gewandelte Verflechtung zu erfinden. Wer, ausgerüstet mit der
Einsicht in die ursprüngliche Wirklichkeit der Märchenwelt, die
verschiedensten Fassungen eines Märchentyps untersuchte, würde
mancherlei Hilfskonstruktion auffinden, mit der die alte Verzahnung des
Geschehens der erzählerischen Gegenwart logisch eingepaßt wurde. Aus
der Verschiedenheit dieser Versuche würden sich Hinweise auf die ehemalige
sinnvolle Fügung ergeben. Ein drastisches Beispiel der Art folgt weiter
unten, nämlich der Wandel in der Bewertung der weiblichen Hauptgestalt im
Typus 400B, einer Geistin, die sich so verhält, wie es ihrem Wesen gemäß
ist, die aber vom rein dieseitigen Standpunkt als ein bösartiges,
ungetreues Weib erscheint.
Hier sei nun ein andersartiger
Vermittlungsversuch beigetragen, der von der Insel Lesbos stammt. Er ist hier um
so mehr am Platz, als er den Erwerb von Amuletten, die zur Verwandlung in
Tiergestalt verhelfen, in einen schläferischen Zusammenhang zu bringen
sucht: Traum und doch nicht Traum. Es handelt sich um ein Märchen von der
Grundgestalt des verschlafenen Stelldicheins, AT 400A, mit einem Abschluß,
der den drei entrückten Prinzessinnen entspricht, AT 301, und einem
Mittelgliede aus dem Typus 302, in dem der Held die Hilfe der Tiere erlangt. Die
seltsame Szene beginnt so:
«Als er nun so dalag, um sich auszuruhen, überkam ihn der Schlaf, und er sah einen furchtbaren Traum.» Doch dabei bleibt es nicht: «Vor Schreck wurde er wieder wach.» (wz: Hiermit ist ein Erwachen zur BK (Kontinuität der Ich-Bewußtheit) gemeint.) Er erblickt nun die drei Tiere, Löwe, Adler, Ameise, bei der für sie unteilbaren Beute, einem verendeten Hirsch, und wird um die Zuteilung gebeten: «Der Königssohn glaubte, er träume noch. Dann aber steht er auf, nimmt sein Schwert» und besorgt die Teilung. Die Tiere beweisen ihm darauf ihre Dankbarkeit durch die Gabe der Verwandlungsfähigkeit. «Der Königssohn glaubte noch immer, er wäre im Traum ... Er steht aber auf» und beginnt nun die Verwandlungen zu erproben, am Ende mit der [114] großartigen, die Welten verklammernden Folgerung: «Jetzt ... gibt es für mich weder einen Steilhang mehr noch einen Abgrund.»
Es seien nun noch einige zufällige Beglaubigungen der oben vorgetragenen Einsichten angeführt. Wir haben schon gesehen, wie im chinesischen Erzählgut, das auf einem reichen schamanistischen Untergrund ruht, die somnambulische Schwelle und der hypnoide Charakter der märchenhaften Erzählung leichter zum Ausdruck gebracht wird als bei uns. Bisweilen gibt es jedoch auch bei uns eigentümliche Entgleisungen aus der Normalform unseres Erzählens, bei denen ans Licht kommt, was für Gedanken sich ein Erzähler über die seelischen Untergründe des Geschehens gemacht hat - oder daß er nach anderen Ausdrucksmitteln dafür gesucht hat. Derlei spärliche Vorkommnisse stellen, wie sich versteht, keine Beweise dar für die besondere seelische Artung märchenhafter Abläufe; sie belegen nur die Vorstellungen einzelner.
Erwähnt sei zunächst ein bulgarisches Märchen, das von der Suche nach dem Goldvogel erzählt, und zwar in der Form, die mit der ersten Aufgabe noch weitere verkettet, so daß der Held schließlich außer dem Vogel noch das Wunderpferd und die Prinzessin erworben hat (AT 550). Die Fassung enthält kleine Abweichungen vom Typ, und so setzt sie auch für das helfende Tier, den Fuchs oder Wolf, also für das schamanistische Reittier, einen alten Mann ein, der den Weg kennt. Das Merkwürdige an dieser Fassung ist nun, daß der Alte den Königssohn jedesmal, wenn er schläft, weite Strecken trägt auf das Ziel zu. Der Erzähler kann den Alten, nachdem er einmal statt der Tiere in die Erzählung hineingeraten ist, nicht zum Reittier machen für den Jungen; dennoch muß dieses Wesen weiterhin den Knaben in die märchenweiten Fernen transportieren, und es schleppt ihn sinngemäß, wenn er schläft.
Ein ähnliches Getragenwerden des Schlafenden begegnet auch in einem slowenischen Märchen, und zwar bezeichnenderweise in dem verwandten Typus 551, wo der Apfel des Lebens, um den es hier geht, in einem Zaubergarten voll betäubender Düfte gepflückt wird. Ihnen erliegen die älteren Brüder und werden verwandelt, der jüngste gelangt im Kampf mit der Schlafsucht grad noch aus dem Garten, schläft aber draußen ein und wird von dem helfenden Geist, einer Bettlergestalt, im Fluge vor das väterliche Schloß getragen.
In den Märchen von der Suche nach der entrückten Gattin, AT 400, weist oft der Wind dem wachenden Helden den Weg ans Ziel. Doch in einer hessischen Fassung wird er schlafend von den Winden getragen: Nachdem sie im Haus der Winde «alle gegessen und getrunken hatten, kam es wie (!) ein tiefer Schlaf über ihn, und als er wieder erwachte, lag er neben seinem Pferd im hohen Gras, und vor ihm glänzte und leuchtete eine stolze Stadt...»
Zu erwähnen ist auch der von den [115] Phaiaken in vogelgeschwinder Seefahrt schlafend heimgeführte Odysseus, den sie, schlummergebannt, mit all seinen Schätzen niederlegen in einem Heiligtume der Heimatinsel.
Eine andere bemerkenswerte untypische Eigenheit
begegnet uns in einem irischen Märchen; dort ist zwar nicht ausdrücklich
vom Schlaf die Rede, wohl aber von Tag und Nacht und von der merkwürdigen
Art, in der sich diese im Bewußtseinszustand des Helden unterscheiden. Es
handelt sich um das Märchen, in dem die Frau ihren erlösungsbedürftigen
Gatten dadurch verliert, daß sie sein Tierfell verbrennt. Die endgültige
Erlösung gelingt ihr, indem sie ihm folgt bis in den Zauberbereich, in dem
er der Gewalt einer Hexe unterliegt (AT 425A). Die Entrückung erfolgt hier
nicht blitzartig, und die Gattin muß nicht eine weltumspannende
Suchwanderung auf sich nehmen, ein Motivzusammenhang, der häufiger
vorkommt. Sondern in diesem Sondertyp läuft die junge Frau durch die
Landschaft hinter dem davoneilenden Gatten her, und sie ereilt ihn jeweils bei
Sonnenuntergang in einem kleinen Hause. In dieser Fassung erhält sie dort
sogar von ihm selbst jene Kostbarkeiten, mit denen sie der falschen Braut die
drei Nächte abkauft, in denen sie die endgültige Vereinigung herbeiführt.
Dieser Zug ist untypisch, da das junge Weib in jenen Häusern sonst von
deren Bewohnern mit diesen Gaben bedacht wird. Untypisch ist auch, daß der
Mann seiner Frau Einblick gewährt in seine Gemütsverfassung: von
Sonnenuntergang bis Aufgang besitzt er nämlich sein volles Gedächtnis,
sobald jedoch die Sonne aufgeht, verliert er sein Gedächtnis, alle
Erinnerung an Weib und Kinder. Er wandert, vom Zauber befangen, ohne sich
umzublicken, dem Hexenwalde zu, wo er alles vergessen wird, was je zwischen
ihnen gewesen ist. - Es ist merkwürdig und bezeichnend, wie in dieser Märchenfassung
das Tagesbewußtsein eingeengt ist, doch das Nachtbewußtsein alles
umfaßt.
Nächstdem sei ein Indianermärchen angeführt,
daß bei mehreren Stämmen der nordamerikanischen Westküste
aufgezeichnet worden ist, das Märchen von Tsagatilao. Es handelt sich dort
um ein Mädchen, das sich bei den Bären unbeliebt gemacht hat, von
ihnen gefangen gehalten wird und dem es gelingt, bei einem Gott Zuflucht zu
finden, dessen Gattin sie wird. In der Tsimshian-Fassung bleibt die
Eindimensionalität gewahrt. Aber bei den Tlingit ist in die Erzählung
plötzlich eine Reflexion eingesprengt auf den Bewußtseinszustand der
jungen Frau; es wird dort gesagt, daß der Gott der Häuptling des
Meeres sei und im unterirdischen Bereiche lebe, «aber die junge Frau
glaubte, sie wäre in einem Hause, denn sie war wie von Sinnen.» («This
man lived under ground, but the girl thought, she was in a house, because she
was as if out of her head.»)
[116] Endlich
gelangt sie, mit dem drüben geborenen Sohne zusammen, wieder in die
Menschenwelt zurück. Der Sohn besucht später noch einmal seinen Vater,
und dieser Besuch wird als eine somnambulische Entrückung im Boot mitten
auf dem Wasser geschildert. Beim Hinübergehen verliert er das Bewußtsein,
bei der Rückkehr ist es ihm, als öffne sich für ihn eine Tür.
Diese
Motive des Tlingit-Märchens unterscheiden sich kaum von den irischen und
chinesischen Entrückungsmotiven; sie haben aber dies Eigentümliche, daß
es daneben die eindimensional erzählte Tsimshian-Fassung gibt, so daß
wir aus der Tlingit-Fassung überraschenderweise erfahren, wie sich ein
indianischer Erzähler die Wirklichkeit märchenhafter Geschehnisse
vorstellt. Die Tsimshian sind sprachlich isoliert; ihre Nachbarn, die Tlingit,
gehören sprachlich mit den Haida zusammen, die ebenfalls das Tsagatilao-Märchen
besitzen; beide zählen zu der weitverbreiteten Gruppe der Athapasken. Ich
habe den Eindruck, daß dieses Märchen ursprünglich den Tsimshian
zugehört, daß also die zweidimensional aufgefächerte Erzählung
sekundär ist.
Angaben über den Geisteszustand, in dem Märchenhaftes
erlebt wird, kommen auch bei anderen Völkern vor, so in einer von Knud
Rasmussen aufgezeichneten Erzählung der Alaska-Eskimo. In dem Märchenwerk
Hedwig von Beits wird auch dieser Bericht psychologisch untersucht und gedeutet,
und es scheint so, als rechtfertige hier die Erzählung selbst ein solches
Verfahren. Das Mädchen, um das es sich handelt, wird ähnlich wie in
jenem Tlingit-Märchen geschildert. Auch sie ist entrückt, ihr Wachbewußtsein
ist getrübt, und sie steht unter dem Einfluß des Mondgeistes, der ja
auch bei uns für somnambulische Zustände verantwortlich gemacht wird. «Das
junge Mädchen, das vor dem Mann geflohen war, den sie liebte, dachte nicht
mehr an viele Dinge. Bisweilen glaubte sie, daß sie schon tot wäre;
aber sie hörte, was die anderen (dort drüben) sagten, und sie sah die
anderen um das Haus herumgehen ...» Später schaut sie von dem
himmlischen Entrückungsort hinab über die Länder der Erde,
erblickt auch ein großes Dorf, das sie kennt, und sieht, wie dort Opfer an
den Neumond gebracht werden. Aber für sie war alles «wie ein Traum;
sie konnte nicht begreifen, wie sie selbst mitten in all das hineingekommen war,
was sie so gut aus der Erzählung alter Menschen kannte.» - Die
hysteroid-somnambulische Form des Erlebens wird durch diese wenigen
eingesprengten Sätze sehr deutlich bezeichnet, und die Handlung endet auch
wirklich, wie wir noch anfügen wollen, in einer seelischen Katastrophe des
Mädchens; so ist der Schluß unzweifelhaft aufzufassen, und so wird er
auch bei von Beit verstanden. Der Rückweg gelingt nicht, und die junge Frau
verwandelt sich bei dem Versuch heimzukehren, in eine Spinne.
[117] Hiermit schließen wir unsere Belegreihe
(wz: bezüglich der außerkörperlichen Erfahrung
(OOBE) und der Ich-Bewußstseinskontinuität (BK) in den Märchen)
ab und heben nur noch einmal hervor, daß sich unter den beigebrachten
Beispielen kein eigentliches intaktes Märchen befindet - was wir allerdings
auch nicht erwarten durften. Die zuerst angeführten irischen und
chinesischen Erzählungen enthalten sagenhafte Anklänge, das
bulgarische, das slowenische, das irische Märchen weichen von ihrem Typus
gerade in den hervorgehobenen Motiven ab, der Erzähler des Tlingit-Märchens
«erklärt», was er anscheinend von einem fremden Stamme übernommen
hat, und die Eskimo-Erzählung entspricht auch sonst dem brüchigen
Ablauf einer seelischen Störung. Indessen, wenn es sich auch formal bei
diesen Stücken nicht um echte und ungestörte Märchen handelt, so
stehen doch diese untypischen oder gar krankheitsnahen Schilderungen im
genauesten Zusammenhang mit den echten Erlebnissen, die dem «gesunden Märchen»
zugrunde liegen, wenn wir uns in der Kürze einmal so ausdrücken dürfen,
und gerade aus diesen irregulären Verlaufsformen erhalten wir anschauliche
Beispiele für den Seelenzustand, in dem gemäß unserer Ansicht
die Wirklichkeit des echten Märchens wurzelt.
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