Sigmund Freud, Josef Popper-Lynkeus und der luzide Traum Materialien |
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Die psychoanalytische Theorie behauptet
keineswegs, daß es prinzipiell kein Träumen ohne Traumentstellung und
ohne Traumzensur gäbe. Nur müßten dafür ganz bestimmte
Bedingungen erfüllt sein. Auf die Möglichkeit des nichtentstellten Träumens
(das luzide Träumen) hatte Sigmund Freud 1932 in "Meine Berührung
mit Josef Popper-Lynkeus" hingewiesen. Aber bereits 1909 hatte Sigmund
Freud in der zweiten Auflage der «Traumdeutung» den luziden Traum erwähnt:
«Bei
weitem erfreulicher war mir der Zufall, an unerwarteter Stelle eine Auffassung
des Traumes zu finden, die sich mit dem Kern der meinigen völlig deckt ...
Ich muß also in ihr die einzige in der Literatur nachweisbare Übereinstimmung
eines unabhängigen Denkers mit dem Wesen meiner Traumlehre begrüßen.
Das Buch, in dem sich die von mir ins Auge gefaßte Stelle über das Träumen
findet, ist 1900 in zweiter Auflage unter dem Titel "Phantasien eines
Realisten" von Lynkeus veröffentlicht worden» (Freud
GW II/III:99). «Da ich die Zurückführung der
Traumentstellung auf die Zensur als den Kern meiner Traumauffassung bezeichnen
darf, schalte ich hier das letzte Stück jener Erzählung "Träumen
wie Wachen" aus den "Phantasien eines Realisten" von Lynkeus
(...) ein, in dem ich diesen Hauptcharakter meiner Lehre wiederfinde»
(ibid. S. 314 Anm.1).
Hier das ganze Kapitel aus Joseph Popper-Lynkeus «Phantasien eines Realisten» (Dresden und Leipzig: Carl Reißner, 1899, neue, verbesserte Auflage 1909: 148-163) (Düsseldorf: Erb, [1899, 1909] 1980).
Träumen wie Wachen
«Es hat wohl bisher nur einen einzigen Menschen gegeben - und von diesem soll hier erzählt werden -, der von sich sagen konnte: er habe in seinem ganzen Leben niemals einen Unsinn geträumt.
Dieser Mann, der, als Junggeselle, ein sehr bescheidenes Dasein führte, hatte sich durch nichts in der Welt einen Namen gemacht; sein Andenken wäre ganz verschollen, und niemand würde wissen, dass dieser Mensch existiert habe -wenn nicht hier von jener merkwürdigen Eigenschaft, niemals einen Unsinn zu träumen, erzählt würde. Und es wäre doch ewig schade, wenn die Menschen nicht erfahren sollten, dass so etwas möglich sei, und dass eine solche Person wirklich einmal gelebt habt.
Ihm träumte niemals, wie das Anderen so oft geschieht, dass er an mehreren Orten zugleich sei; oder dass ein längst Verstorbener noch lebe und dergleichen. Er träumte zwar, wie auch wir das zuweilen tun, er könne fliegen, oder er begegne Geschöpfen, die im Wachen niemals existieren; aber alle derlei Dinge standen mit der wachen Welt nicht so im Widerspruch, dass man hätte mit Bestimmtheit sagen können, sie seien unmöglich oder an und für sich absurd.
Übrigens war jener Mann auf diese seine Eigenschaft nicht wenig stolz und zugleich durch sie so beglückt, dass er glaubte, nur ihr seine immerwährende Heiterkeit zu verdanken. Darin irrte er nun, denn seine Heiterkeit und sein Glücksgefühl stammten aus einer tieferen Quelle, aus der selben Quelle, der er, wie man sehen wird, seine merkwürdige Eigenschaft, nie einen Unsinn zu träumen, zu verdanken hatte.
[150] Er pflegte oft mit Freunden über die Sache zu sprechen. 'Mein ganzes Wesen,' sagte er dann, mit strahlendem Blick, 'mein ganzes Dasein ist klar. In meinem Denken wie in meinen Gefühlen herrscht Ordnung und Harmonie, auch kämpfen die beiden nie miteinander und ich bin unausgesetzt bemüht, diese Übereinstimmung zu sichern. Mein Geist ist zwar keiner von den großen, aber ich kann es wohl sagen: Er wurde noch nie durch eine Absurdität verunreinigt, nicht im Wachen und nicht im Schlafen. Mein Denken und mein Träumen sind Zweige eines Stammes, und stützen einander in der artigsten Weise. Ich bin Eins, ungeteilt; die Anderen sind geteilt, und ihre zwei Teile: Wachen und Träumen führen beinahe immerfort Krieg miteinander. Andere rechnen ihr Leben eigentlich nur nach ihren wachen Stunden, das sind also ungefähr vierzehn, höchstens sechzehn Stunden von vierundzwanzig; ich kann die vollen vierundzwanzig Stunden zu meinem Leben rechnen. Und immer friedlich! Keine Stunde des Schlafes löscht irgend eine des Wachens aus oder umgekehrt. Was aber ganz besonders angenehm ist: lch genieße eine wunderherrliche Abwechslung in meinem Dasein; denn ich führe gleichsam mein Leben während des Wachens in ungebundener Rede, und beim Träumen in gebundener ....'
Und da Jemand diese letzten Worte nicht sogleich verstand, fuhr jener fort: 'Ich meine: Ich lebe in Prosa und in Poesie; Wachen und Träumen sagen mir oft das Gleiche, aber in verschiedener Form, in anderer Darstellung, oder, wie man das sonst nennen will; Sie wissen wohl jetzt, was ich meine. ... Und Sie ahnen wohl nicht, wie hübsch das Alles ist !
Eines Abends ging dieser Mann, munter wie immer, zu Bette.
'Morgen früh,' sagte er zu seinem Diener, 'bin ich wieder zurück; gegen sechs Uhr Morgens kannst du mich erwarten,' ungefähr in dem Tone, als ob er eine Reise antreten würde. Hierauf klopfte er sich die Polster zu- [151] recht, legte sich behaglich hinein, und dachte: 'Nun bin ich wirklich neugierig, ob ich heute Neues erfahren werde !'
Wenige Minuten danach sah er sich in einer ganz fremden Gegend. Er stand mitten in einem frisch gepflügten Ackerfelde; die Landschaft war weithin ganz eben, nur am fernen Horizont erhoben sich niedrige Hügel und waren freundliche Dörfer zu sehen; über dem Ganzen ging eben die Sonne auf.
Neben ihm stand ein sehr schöner Mensch mit einer süßlichen Miene und langweiligem blonden langen Haar, das ihm bis über die Schultern herniederwallte, und aus den Schultern ragten ihm zwei große weiße Flügel hervor. Der Träumer erkannte in ihm sofort den selben Herrn, der ihn schon in der vorigen Nacht auf einer weiten Reise begleitet und ihm dabei allerlei Merkwürdigkeiten gezeigt hatte, und rief sogleich, als er seiner ansichtig wurde, ihm zu: 'Aha, wieder der Genius!'
Dieser Reisebegleiter hatte gestern einen ganz besonderen Wert darauf gelegt, durch jene Merkwürdigkeiten auf den Mann einen großen Eindruck zu machen und ihn zu lebhaften Ausdrücken des Staunens zu bringen. Aber alle die Dinge, die er ihm zeigen konnte, waren nicht im Stande, den Mann in jene überschwängliche Begeisterung zu bringen, die der Genius erwartete und wünschte. So oft er ihm etwas vermeintlich ganz Besonderes zeigte, blinzelte er gleich nach dem Manne hin, um zu entdecken, dass er bereits in helle Begeisterung geraten sei: und da dies nie der Fall war, versuchte er, ein wenig nachzuhelfen und fragte ihn dann: 'Und was sagst du dazu? Und was zu Diesem? Und was zu Jenem?'
Aber immer kam die Antwort: 'Herrlich!' und gleich darauf: 'Es erinnert mich an Das und Das!' Darüber wurde der Genius ärgerlich, und es kam zwischen den Beiden zu einem erregten Disput.
[152] Der Genius schalt den Mann undankbar. Dieser wieder entgegnete in ziemlich ungeduldigem Ton: 'So ein anspruchsvoller Reisemarschall, wie dieser geflügelte hier, ist mir doch noch niemals vorgekommen ! Hast Du denn alle diese schönen Sachen gemacht? Du zeigst sie mir ja nur! Ich bin Dir auch dafür gerne dankbar; aber, wie ich die Dinge ansehen und beurteilen soll, das ist doch meine Sache, und nicht die Deine !'
Darauf entfernte sich der Genius mit sehr verdrießlicher Miene und beschloss, in der nächsten Nacht wieder zu kommen und es mit verstärkten Mitteln von Neuem zu versuchen; und das war eben der Grund, warum in der heutigen Nacht dieser Genius wieder bei dem Manne war, als er frühmorgens mitten in einem Ackerfelde stand.
'Diese Ackerfurchen finde ich sehr tief, viel tiefer. als sonst,' sagte der Träumer. 'So ist es auch !' erwiderte der Genius. 'Jetzt sieh doch aber, was da heran kommt.' Und während er das sagte, kam ein Vogel hergehüpft, nicht besonders schön oder glänzend von Gefieder, sondern gleichmäßig grau von Farbe und genau so wie eine Feldlerche gebaut, jedoch von außerordentlichem Umfang; er war nämlich so groß, wie der größte Adler.
Der Vogel kam immer näher und setzte sich dann in eine Ackerfurche.
'Eigentlich eine riesige Lerche,' sagte der Mann zu seinem Führer, ' - vorausgesetzt, dass dieser Vogel singen kann.'
Der Genius lächelte zu diesen Worten, und in demselben Augenblick begann das Tier einige Schritte zu laufen, wobei es sich etwas schwerfällig hielt und den Eindruck eines rechten alten Pedanten von Vogel machte; dann flog er auf, immer höher und höher, und nun sang er von oben herab ein Lied von solcher Schönheit und mit solcher Kraft, dass es schien, die ganze Landschaft würde in Musik getaucht.
[153] Der ganze Erdboden, die Täler und die fernen Berge zitterten vor Freude, so durchdringend schmetterte die Riesenlerche ihr Lied vom Firmament herab; und der Genius, den Mann in Entzücken gewahrend, sprach schnell zu ihm: .,Nun? Hast du je eine solche Vereinigung von Schönheit und Kraft, von Lieblichkeit und Größe gesehen?'
Darauf antwortete der Mann: 'Herrlich! Herrlich! - Wir haben aber auch den Johann Sebastian Bach ... ' Dabei erwachte er, und setzte, sich aufrichtend und nach seinen Kleidern greifend, fort: 'Und' er hat's vielleicht noch besser gemacht !'Nachdem diese Angelegenheit in solcher Weise erledigt war, ging er des Morgens an seine gewohnte Beschäftigung und verbrachte den ganzen Tag in der heitersten Stimmung.
'Ich habe heute Nacht eine wundervolle Musik gehört,' war seine Antwort auf die Fragen nach der Ursache seiner besonderen Heiterkeit, 'und sie klingt in mir noch immer nach.'
Am Abend jedoch kam ein alter Freund zu ihm zu Besuch, und der teilte ihm mit sehr betrübter Miene mit, dass einer ihrer Bekannten, ein seelenguter und harmloser Mensch, von einem Anderen, der stets die Maske des lustigen Bruders vorgenommen hatte, in rücksichtslosester Weise betrogen, und überdies nachher noch von ihm ausgelacht und verspottet worden sei. Durch diese Nachricht verlor der Mann seine ganze Heiterkeit.
'Hat man unseren Freund denn nicht vor jenem Bösewicht warnen können?' fragte er.
'Es konnte Niemand bei jenem Menschen etwas Schlimmes voraussetzen; er hat eben verstanden, uns alle zu täuschen,' erwiderte der Freund.
'Und noch auslachen! Auslachen!' sprach der Mann vor sich hin, 'Das ist für mich nicht zum Begreifen, und [154] drückt mich tief nieder. Das ist ja noch viel schlimmer als der Betrug selbst; das ist die zwecklose, die richtige, echte Bösartigkeit. Ich habe noch nie ein furchtbareres Bild gesehen, als die Vorstellung eines lachenden Bösewichts; sie lässt mich gar nicht los !'
Und mit düsteren Gedanken ging er in dieser Nacht zu Bette.
Es war ein edler Mann, der um die Abendzeit, in Gedanken versunken, die Landstrasse einher ging.
Er war noch nicht weit außerhalb der Stadt; es dunkelte bereits, und er gelangte an den Rand eines Waldes. Da sprang ein Mann hervor, ohne Kopfbedeckung und in Hemdärmeln, eine Lanze in der Hand.
Er war von kleiner, untersetzter Statur, hatte einen großen Kopf, dichtes, schon ergrautes und ganz zerrauftes Haar; sein Mund war überaus breit, die Lippen dick und durchaus wulstig, und seine kleinen grauen Augen sahen aus, als ob sie gemütlich lächelten.
Mit einem Satze war er an der Seite des Spaziergängers und stieß die Lanze nach ihm; dieser aber hatte sich rasch genug gewendet und zog einen Dolch hervor. Der Andere wich nun ebenfalls rasch aus und trachtete, den Mann immerfort starr anblickend, mit der Lanzenspitze hinter dessen Rücken zu kommen.
Sie drehten sich nun umeinander - der Mann mit dem Dolche im Mittelpunkt - und der Andere lief unausgesetzt, die Lanzenspitze nach seinem Genick hin richtend, um ihn herum; konnte aber nicht zum Stoß gelangen, weil Jener sich gleichzeitig um sich selbst drehend, immer weiter lief.
Der Mann aus dem Walde begann zu lächeln, der Speichel trat aus seinem Munde, und er rief mit heiserer Stimme: 'No, was denn?' und immer wieder: 'No, was denn?' und immer wieder: 'No, was denn?'
[155] Der Mann im Zentrum, der bei seinen Bewegungen bald ermüdete, horchte nun auf diese Ausrufe, und sah mit immer größerer Aufmerksamkeit auf die sonderbare Gestalt, die da, wie ein Hund um seinen Herrn, um ihn hertanzte.
Während er ihn zu betrachten fortfuhr, brachte dieser, immer noch um ihn herumlaufend, und unter allerlei komischen Bewegungen seines Oberkörpers, in einem gewissen Moment die Lanzenspitze ganz nahe an Jenes Nacken, ohne dass dieser darauf achtete. 'No, was ist denn ?' rief der Kleine wieder und lächelte hiezu mit dem ganzen Gesicht; dabei fühlte dann der Spaziergänger hinter seinem Rockkragen ein Hin- und Herreiben des Lanzeneisens, und es war ihm das gar nicht unangenehm.
Da hieb ihn der Kleine, der ihm immer in die Augen sah, und lächelnd den Speichel aus seinem breiten Munde stieß, so wurde der Mann im Zentrum immer heiterer gestimmt, hörte allmählich auf, seinen Platz zu wechseln, und begann endlich, den Dolch hoch in der Rechten haltend, laut zu lachen.
Während er den Mann aus dem Walde in dieser Weise mit einer Art von Neugierde anblickte, entstand eine kleine Pause, und dann stieß dieser plötzlich die Lanzenspitze mit größter Wucht in das Genick des Anderen, ließ sie einen Augenblick drin, wobei er sie noch mit beiden Händen festhielt, sah hiebei ruhig und wie forschend dem Gestochenen in's Gesicht, und zog dann die Lanze aus dem Nacken; ein dicker Blutstrahl schoss aus der Wunde, und der Spaziergänger fiel mit einem dumpfen Schrei tot zu Boden hin. 'Eh!' rief der Kleine aus und streckte die Zunge nach dem Toten heraus.
Während er dessen Taschen zu durchsuchen begann, kam atemlos ein Mann aus dem Halbdunkel der Landstrasse hinzu, der die Szene schon aus der Ferne mit größtem Entsetzen beobachtet hatte; und, unfähig zu sprechen, stand er plötzlich vor dem Mörder.
[156] 'Ich weiß nicht, was er von mir hat haben wollen!' rief in weinerlichem Tone der Mörder aus, als er den Fremden neben sich bemerkte. Aber dieser, der den ganzen Vorgang mitangesehen hatte und vor Aufregung nicht im Stande gewesen war, durch Zurufe den Mörder abzuschrecken, konnte auch jetzt noch kein Wort hervorbringen; so sehr hatte der unendliche Gram über den Hohn in diesen Worten und im Tone des Mörders ihm die Kraft zu sprechen geraubt.
Und als ihm immer deutlicher in's Bewusstsein drang, was eigentlich hier vorgegangen war: dass ein Mensch ein anderes menschliches Individuum nicht nur vernichten, sondern es dabei mit behaglichem Humor einer listigen und witzigen Berechnung unterwerfen, und dann noch über dessen Tod scherzen konnte - da vermochte er dieses Schreckliche nicht zu überleben. Das Herz zersprang ihm. und er fiel neben dem Toten leblos nieder.
Hier erwachte der Träumer aus tiefster Beklemmung und lautem Stöhnen; denn er selbst war jener Dritte gewesen, der zu den Beiden auf der Landstrasse hinzugetreten war.
'Was würde mein Freund erst dazu sagen?' sprach er zu sich selbst, 'hier hätte auch eine Warnung nichts genützt, denn die Gefahr war von allem Anfang an doch deutlich genug zu sehen!'
Und als nächster Tage sein Freund wieder bei ihm war, sagte er zu ihm: 'Ich dachte an jenem Abend sehr lebhaft an deine Mitteilung; an jene Geschichte von dem Betrüger, der die Maske des lustigen Bruders vornahm. Die Folge für mich war ein Traum von einem Mörder, der mit einer Lanze kitzelt.'
'Was ist das für ein sonderbarer Fall, wo ein Mensch gar mit seinem Mordwerkzeuge kitzelt?'
Darauf erzählte ihm jener seinen Traum; und dann fragte er ihn:
'Was sagst du zu jenem schrecklichen Mann mit der Lanze ?'
[157] Der Freund erwiderte nichts, aber eine tiefe Blässe überzog sein Gesicht.
'Du bist bleich geworden, und mir ist's ähnlich ergangen,' sagte der Mann, 'die Sache muss also wohl eine wahrhaftige sein, obwohl sie sich nie zugetragen hat und vielleicht auch nie zutragen wird. Wir fühlen eben, dass wir in die geheimsten Winkel des menschlichen Herzens geblickt haben.'
Eine Zeit lang saß der Freund noch immer schweigend da, so sehr hatte ihn das furchtbare Bild jenes Traumes überwältigt; dann begann er:
'Sage doch nicht, dass wir in das menschliche Herz geblickt haben; so schrecklich sind wir doch nicht, dass wir das als etwa Allgemeines ansehen müssten. Sage vielmehr: Wir haben gesehen, was Alles bei Menschen möglich ist! - Schlimm genug!'
Und nach einer Weile fuhr er fort: 'Dieser dein Traum hat nicht nur für dich, sondern, wie du aus meinen Reden erkennst, auch für mich einen klaren Sinn; seine innerste Bedeutung ist mir ebenso klar wie dir, und sie wird gewiss jedem Anderen, der Menschenachtung und Menschenliebe im Herzen hat, ebenfalls klar sein. Würden wir Alle stets so träumen wie du heute, so wären wir dir gleich; aber bei dir haben alle Träume einen guten Sinn, bei uns Anderen sehr oft das Gegenteil. So erging es vor Kurzem mir selbst wieder; ich kann den Eindruck eines Traumes nicht los werden, und er kann doch ganz gewiss keinen rechten Sinn haben.'
'Und was träumtest du?'
'Mir träumte,' begann der Freund, 'meine schon vor zehn Jahren verstorbene Mutter lebe noch, aber verstecke sich vor mir; sie war böse auf mich, und wollte mir so viel als möglich ausweichen.
Ich wußte, dass sie nicht nur vergrämt, sondern auch krank sei; und ich suchte sie daher, bis ich vor Erschöpfung nicht mehr weiter konnte, bei allen bekannten Fa- [158] milien, in allen Gasthöfen, sogar auf allen Strassen - fand sie aber nicht.
Oft war sie kurze Zeit vorher weggegangen, ohne anderen Grund, als darum, weil sie vermutet oder gehört hatte, ich werde sie daselbst aufsuchen.
Du kannst dir wohl denken, wie mir zu Mute war! Ich sah immer diese gute, alte, gekränkte Frau vor mir, die sonst so gerne in meiner Nähe blieb, unter fremden Leuten umherirren, - du weißt ja, dass mein Vater schon früher, als die Mutter starb - ein ärmliches Leben führen - und ihre zarte Seele voll tiefsten Grames!
Und, was mir ebenso schrecklich war: ich wußte gar nicht, was sie eigentlich im Sinne hatte, was ich ihr getan, dass sie sich über mich so gekränkt zeigte ! Ich hätte mich gerne vor ihr niedergeworfen, sie im Vorhinein um Verzeihung gebeten und dann erst gefragt, worin denn meine Schuld bestehe; aber zu einer solchen Aussprache kam es gar nicht, weil sie mir so beharrlich auswich, dass ich sie niemals finden konnte!
Endlich erfuhr ich durch meine Aufpasser, sie wohne seit Kurzem in dem und dem Gasthofe. Schnell eilte ich hin und als ich zum Tor kam, huschte sie eben in das Haus und ganz knapp an mir vorbei; mein Herz stand still, ich sah sie an wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt und konnte kein Wort hervorbringen. Sie aber schoss an mir vorüber, sah mit zurückgewandtem Kopfe einen Augenblick nach mir hin, und warf mir einen so gekränkten Blick zu, dass ich glaubte, mein Herz müsse zerspringen, und ich erwachte !
Erschöpft kehrte ich ins Bewusstsein zurück, aber jenen Blick meiner armen Mutter werde ich, solange ich lebe, nicht vergessen. Er begleitet mich unaufhörlich, er stört mich in meinen Beschäftigungen, er verbietet mir aufs Strengste, irgend einem Vergnügen nachzugehen, ja er hindert mich, auch nur einen einzigen Augenblick fröhlich zu sein und verbannt jedes Lächeln aus meinem Angesicht !'
[159] Es entstand eine kleine Pause, während welcher der Zuhörende nachdenklich zu Boden sah, und dann sprach er: 'Auch mir ward sehr wehe, mein Freund, da ich deinen Traum vernahm. Eine Mutter, die ihrem eigenen Kinde ausweicht, weil sie sich von ihm gekränkt fühlt, das ist etwas so Furchtbares, dass ich glaube, in solchem Falle habe immer die Mutter Recht !'
'Wie sprichst du da?' erwiderte heftig der Freund. 'Meine Mutter war gewiss eine der besten Mütter der Welt; aber auch ich, das darf ich wohl sagen und du kennst mich ja auch schon lange genug - war ich nicht voll Liebe und Pietät gegen sie ? Nicht leicht wird Jemand gefunden werden, der seine Eltern mehr liebte und ehrte als ich ! Der Traum erschüttert mich, aber ich sage doch, er kann keinen Sinn haben. Ich teile eben das Los aller Menschen, dich ausgenommen, auch Widersinniges zu träumen.'
'Höre, Freund, dein Traum wird doch wohl einen Sinn haben! Gewiss hast du deine Mutter geehrt und geliebt, ich kannte ja dein ideales Verhältnis als Kind zu deinen Eltern. Aber . . . es muss doch im Laufe der Jahre vorgekommen sein, dass du sie hie und da kränktest; dass du in der Aufregung des Augenblicks ihr nicht mit der gewohnten Zartheit begegnet bist; ja, dass du mit ihr in barscherem Tone oder gröberem Ausdruck sprachst, als es sonst deine gute Gewohnheit war. Und das kränkte deine Mutter! Aber sie sagte dir nichts, um dich nicht zu betrüben.'
'Und weiter ?' fragte der Freund mit wehmütiger Neugierde.
'Und nun, mein Teurer, kommst du selbst an die Reihe! Du in deiner natürlichen Güte, konntest nicht gleichgültig darüber hinweggehen ! Kaum waren deine Worte verhallt, so hörtest du sie nochmals in deinem Innern; du fühltest, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, was du da getan hattest.
[160] Dann gingst du aber doch sofort an deine Geschäfte und ersticktest oder vergaßest die Vorwürfe, die aus deiner Tiefe emporgetaucht waren.
Aber, mein Freund, das Gewissen verdaut sehr langsam, vielleicht nie ! Da hilft kein Verschlucken; etwas sitzt, in sich zusammengekauert, in dir, wartet, und irgend einmal meldet es sich, ganz unverhofft, bei dir an ....
Ja, ich sehe es deutlich, deine Mutter war zuweilen auf dich böse, du hast sie mitunter wirklich gekränkt, und jetzt, nach so langer Zeit, da du im Wachen stets zu sehr zerstreut und abgelenkt warst, erscheint dir deine Tat als Traumbild. Du hast eben doch manchmal gegen die Pietät verstoßen ! Das ist der wahre Sinn deines Traumes.'
Während dieser Rede sah der Freund immer melancholischer zu Boden, Tränen kamen ihm in die Augen, und mit leiser Stimme sprach er: 'Es muss wohl so sein, wie du sagtest! Tief fühle ich den Schmerz, und mit Wehmut denke ich daran, dass ich meinen Fehler nie mehr werde gut machen können.'
Und nach einer Pause fuhr er fort: 'Und du ? Du sagtest mir einst, derlei Träume kämen dir nie, und wir Alle bewundern dich auch deswegen. Wie glücklich bist du ? Wie kommt es aber, dass du solche Mahnungen nie erfährst ?'
'Ich handelte und handle stets nach einer guten Regel,' antwortete der Mann, 'wenn ich mit Menschen umgehe, die mir nahe stehen; und diese Regel schützt mich vor trüben Mahnungen, im Wachen wie im Träumen.'
'Und willst du deinem Freunde diese gute Regel vorenthalten ?'
'Im Gegenteile! wende sie nur an, und du wirst gut daran tun. Höre denn. Wenn irgend ein Anlass zum Tadel des Anderen oder zum Streit sich erhebt, so denke ich sogleich folgenden Gedanken: Wie furchtbar wehe würde mir zu Mute sein, wenn dieser geliebte Mensch, mit dem ich jetzt wegen eines geringfügigen Anlasses unzufrieden [161] sein möchte, nicht mehr auf der Welt wäre! Wie sehr würde ich ihn dann selbst mit allen seinen Fehlern und Schwächen zurücksehnen, die doch alle zu seinem Wesen mitgehörten! Und wie gerne wollte ich ihm Alles vergeben, was er je Hartes an mir verübt, wenn ich ihn nur ins Leben zurückrufen könnte, wenn er mir wieder gegenüber säße, wenn er wieder wie sonst mit mir sprechen könnte !
So wie mir dieser Gedanke kommt, ändert sich sofort mein Wesen, mein lebhaftes Temperament verkriecht sich in einen Winkel, meine Aufregung legt sich, es entwickelt sich in mir die Äußerste Geduld mit Allem, was mir vorher missfiel und mich ärgerte; und selbst wenn ich noch immer im vollen Rechte zu sein glaube und den Anderen im Unrecht, so bin ich doch mit geringer Mühe im Stande, Unrecht stillschweigend zu ertragen, und Fehler oder Schwächen mit voller Nachsicht zu betrachten. Und ich kann sagen, es hat mich die Befolgung dieser Regel noch nie gereut, so sehr ich mitunter anfangs in Wallung und nahe daran war, schroff zu werden.
Ich kenne keine bessere Richtschnur für den Umgang mit geliebten Menschen. Für ferner Stehende sie ebenfalls anzuwenden, wäre eine große und schöne Aufgabe; aber sie dürfte zu schwer fallen. Das könnte wohl nur ein Heiliger, ein Einsiedler leisten, der aus dem Leben hinausgetreten ist; allein dann hätte es wieder weniger Wert, denn wer nicht als Mensch unter Menschen lebt, verdient weder Lob noch Tadel, und steht uns in allem viel zu ferne.'
'Nun fange ich an,' sagte hierauf der Freund, 'dein Wesen, dein Wachen wie dein Träumen zu begreifen. Dein Geist ist nicht wesentlich anders geartet als der unsere, und deine herrliche Eigenschaft, zu träumen wie zu wachen, beruht auf deinen Tugenden: auf deiner Güte, deiner Gerechtigkeit, deiner Wahrheitsliebe; es ist die moralische [162] Klarheit deiner Natur, die mir Alles an dir verständlich macht.'
'Gewiss, wenn ich es recht bedenke,' erwiderte der Andere, 'so glaube ich beinahe, alle Menschen seien so wie ich beschaffen, und gar Niemand träume jemals Unsinn! Aber Wenige wissen, ihre Träume zu deuten.
Ein Traum, an den man sich so deutlich erinnert, dass man ihn nacherzählen kann, der also kein Fiebertraum ist, hat immer Sinn. Und es kann auch gar nicht anders sein ! Denn was miteinander im Widerspruch steht, könnte sich ja nicht zu einem Ganzen gruppieren. Dass Zeit und Raum oft durcheinander gerüttelt werden, benimmt dem wahren Gehalt des Traumes gar nichts, denn sie beide sind meist ohne Bedeutung für seinen wesentlichen Inhalt. Wir machen es ja oft im Wachen auch so; denke an das Märchen, an so viele kühne und sinnvolle Phantasiegebilde, zu denen nur ein Unverständiger sagen würde: 'Das ist widersinnig! denn das ist nicht möglich !''
'Wenn man nur die Träume immer richtig zu deuten wüßte, so wie du das eben mit dem meinen getan hast!' sagte der Freund.
'Das ist gewiss keine leichte Aufgabe, aber es müsste bei einiger Aufmerksamkeit dem Träumenden selbst wohl immer gelingen. - Warum es meistens nicht gelingt? Es scheint bei Euch etwas Verstecktes in den Träumen zu liegen, etwas Unkeusches eigener Art, eine gewisse Heimlichkeit in Eurem Wesen, die schwer auszudenken ist; und darum scheint Euer Träumen so oft ohne Sinn, sogar ein Widersinn zu sein. Es ist aber im tiefsten Grunde durchaus nicht so; ja, es kann gar nicht so sein, denn es ist immer derselbe Mensch, ob er wacht oder träumt.'
'Daraus sehe ich nur noch deutlicher, wie ich schon früher es aussprach,' sagte der Freund, 'dass nur ein vollkommen friedliches Wesen wie das Deine, nur ein so sanftes Gemüt und nur ein so reiner und offenherziger [163] Sinn, wie es eben dir nur eignet, der wahre Grund deiner edlen Begabung sind, im Traume das Wachen harmonisch zu ergänzen.
In der Harmonie deines ganzen Wesens gleichst du ja einem Kinde, und Träumen wie Wachen begleiten dich wie zwei treue Hunde durch das Leben. Wer kann dir aber in jenen Eigenschaften auch nur nahe kommen?'»
Im Artikel «Meine Berührung mit Josef Popper-Lynkeus» (GW XVI: 261-266) aus dem Jahre 1932 schreibt Sigmund Freud:
«Es war im Winter 1899, daß mein Buch "Die Traumdeutung", ins neue Jahrhundert vordatiert, endlich vor mir lag. Dieses Werk war das Ergebnis einer vier- bis fünfjährigen Arbeit, auf nicht gewöhnliche Art entstanden. ... Am Ende wurde es ein Stück meiner Technik, daß ich die Kranken aufforderte, mir kritiklos mitzuteilen, was immer durch ihren Sinn ging, auch solche Einfälle, deren Berechtigung sie nicht verstanden, deren Mitteilung ihnen peinlich war. Wenn sie meinem Verlangen nachgaben, erzählten sie mir auch ihre Träume, als ob diese von derselben Art wären, wie ihre anderen Gedanken. Es war ein deutlicher Wink, diese Träume zu werten wie andere verständliche Produktionen. Aber sie waren nicht verständlich, sondern fremdartig, verworren, absurd, wie eben Träume sind und weshalb sie von der Wissenschaft als sinn- und zwecklose Zuckungen am Seelenorgan verurteilt wurden. Wenn meine Patienten recht hatten, die ja nur den Jahrtausende alten Glauben der unwissenschaftlichen Menschheit zu wiederholen schienen, so stand ich vor der Aufgabe einer "Traumdeutung", die vor der Kritik der Wissenschaft bestehen konnte.
Zunächst verstand ich natürlich von den Träumen meiner Patienten nicht mehr als die Träumer selbst. Indem ich aber auf diese Träume und besonders auf meine eigenen das Verfahren anwendete, dessen ich mich schon beim Studium anderer abnormer psychischer Bildungen bedient hatte, gelang es mir, die meisten der Fragen zu beantworten, die eine Traumdeutung aufwerfen konnte. Es gab da viel zu fragen: wovon träumt man? warum träumt man überhaupt? woher rühren all die merkwürdigen Eigenheiten, die den Traum vom wachen Denken unterscheiden? und dergleichen mehr. Einige der Antworten waren leicht zu geben, erwiesen sich auch als Bestätigung von früher geäußerten Ansichten, andere erforderten durchaus neue Annahmen über den Aufbau und die Arbeitsweise unseres seelischen Apparats. Man träumte von dem, was die Seele während des wachen Tages bewegt hatte; man träumte, um die Regungen, die den Schlaf stören wollten, zu besänftigen und den Schlaf fortsetzen zu können. Aber warum konnte der Traum so fremdartig erscheinen, so verworren unsinnig, so offenbar gegensätzlich gegen den Inhalt des wachen Denkens, wenn er sich doch mit dem nämlichen Stoff' beschäftigte? Sicherlich war der Traum nur der Ersatz einer vernünftigen Gedankentätigkeit und ließ sich deuten, d. h. in eine solche übersetzen, aber was nach Erklärung verlangte, war die Tatsache der Entstellung, die Traumarbeit an dem vernünftigen und verständlichen Material vorgenommen hatte.
Die Traumentstellung war das tiefste und schwierigste Problem des Traumlebens. Und zu ihrer Aufklärung ergab sich folgendes, was den Traum in eine Reihe stellte mit anderen psychopathologischen Bildungen, ihn gleichsam als die normale Psychose des Menschen entlarvte. Unsere Seele, jenes kostbare Instrument, mittels dessen wir uns im Leben behaupten, ist nämlich keine in sich friedlich geschlossene Einheit, sondern eher einem modernen Staat vergleichbar, in dem eine genuß- und zerstörungssüchtige Masse durch die Gewalt einer besonnenen Oberschicht niedergehalten werden muß. Alles, was sich in unserem Seelenleben tummelt und was sich in unseren Gedanken Ausdruck schafft, ist Abkömmling und Vertretung der mannigfachen Triebe, die uns in unserer leiblichen Konstitution gegeben sind; aber nicht alle diese Triebe sind gleich lenkbar und erziehbar, sich den Anforderungen der Außenwelt und der menschlichen Gemeinschaft zu fügen. Manche von ihnen haben ihren ursprünglich unbändigen Charakter bewahrt; wenn wir sie gewähren ließen, würden sie uns unfehlbar ins Verderben stürzen. Wir haben darum, durch Schaden klug gemacht, in unserer Seele Organisationen entwickelt, die sich der direkten Triebäußerung als Hemmungen entgegenstellen. Was als Wunschregung aus den Quellen der Triebkräfte auftaucht, muß sich die Prüfung durch unsere obersten seelischen Instanzen gefallen lassen und wird, wenn es nicht besteht, verworfen und vom Einfluß auf unsere Motilität, also von der Ausführung abgehalten. Ja, oft genug wird diesen Wünschen selbst der Zutritt zum Bewußtsein verweigert, dem regelmäßig selbst die Existenz der gefährlichen Triebquellen fremd ist. Wir sagen dann, diese Regungen seien für das Bewußtsein verdrängt und nur im Unbewußten vorhanden. Gelingt es dem Verdrängten, irgendwo durchzudringen, zum Bewußtsein oder zur Motilität oder zu beiden, dann sind wir eben nicht mehr normal. Dann entwickeln wir die ganze Reihe neurotischer und psychotischer Symptome. Das Aufrechthalten der notwendig gewordenen Hemmungen und Verdrängungen kostet unser Seelenleben einen großen Kräfteaufwand, von dem es sich gerne ausruht. Der nächtliche Schlafzustand scheint dafür eine gute Gelegenheit zu sein, weil er ja die Einstellung unserer motorischen Leistungen mit sich bringt. Die Situation erscheint ungefährlich, also ermäßigen wir die Strenge unserer inneren Polizeigewalten. Wir ziehen sie nicht ganz ein, denn man kann es nicht wissen, das Unbewußte schläft vielleicht niemals. Und nun tut der Nachlaß des auf ihm lastenden Drucks seine Wirkung. Aus dem verdrängten Unbewußten erheben sich Wünsche, die im Schlaf wenigstens den Zugang zum Bewußtsein frei finden würden. Wenn wir sie erfahren könnten, würden wir entsetzt sein über ihren Inhalt, ihre Maßlosigkeit, ja ihre bloße Möglichkeit. Doch das geschieht nur selten, worauf' wir dann eiligst unter Angst erwachen. In der Regel erfährt unser Bewußtsein den Traum nicht so, wie er wirklich gelautet hat. Die hemmenden Mächte, die Traumzensur, wie wir sie nennen wollen, werden zwar nicht voll wach, aber sie haben auch nicht ganz geschlafen. Sie haben den Traum beeinflußt, während er um seinen Ausdruck in Worten und Bildern rang, haben das Anstößigste beseitigt, anderes bis zur Unkenntlichkeit abgeändert, echte Zusammenhänge aufgelöst, falsche Verknüpfungen eingeführt, bis aus der ehrlichen, aber brutalen Wunschphantasie des Traumes der manifeste, von uns erinnerte Traum geworden ist, mehr oder weniger verworren, fast immer fremdartig und unverständlich. Der Traum, die Traumentstellung, ist also der Ausdruck eines Kompromisses, das Zeugnis des Konflikts zwischen den miteinander unverträglichen Regungen und Bestrebungen unseres Seelenlebens. Und vergessen wir es nicht, derselbe Vorgang, das nämliche Kräftespiel, das uns den Traum des normalen Schläfers erklärt, gibt uns den Schlüssel zum Verständnis aller neurotischen und psychotischen Phänomene.
Ich bitte um Entschuldigung dafür, daß ich bisher so viel von mir und meiner Arbeit an den Traumproblemen gehandelt habe; es war notwendige Voraussetzung des Folgenden. Meine Erklärung der Traumentstellung schien mir neu zu sein, ich hatte nirgends etwas ähnliches gefunden. Jahre später (ich kann nicht mehr sagen, wann) gerieten "Die Phantasien eines Realisten" von Josef Popper-Lynkeus in meine Hand. Eine der darin enthaltenen Geschichten hieß "Träumen wie Wachen", sie mußte mein stärkstes Interesse erwecken. Ein Mann war in ihr beschrieben, der von sich rühmen konnte, daß er nie etwas Unsinniges geträumt hatte. Seine Träume mochten phantastisch sein wie die Märchen, aber sie standen mit der wachen Welt nicht so in Widerspruch, daß man mit Bestimmtheit hätte sagen können, "sie seien unmöglich oder an und für sich absurd". Das hieß in meine Ausdrucksweise übersetzt, bei diesem Manne kam keine Traumentstellung zustande, und wenn man den Grund ihres Ausbleibens erfuhr, hatte man auch den Grund ihrer Entstehung erkannt. Popper gibt seinem Manne volle Einsicht in die Begründung seiner Eigentümlichkeit. Er läßt ihn sagen: "In meinem Denken wie in meinen Gefühlen herrscht Ordnung und Harmonie, auch kämpfen die beiden nie miteinander ... Ich bin eins, ungeteilt, die Anderen sind geteilt und ihre zwei Teile: Wachen und Träumen führen beinahe immerfort Krieg miteinander". Und weiter über die Deutung der Träume: "Das ist gewiß keine leichte Aufgabe, aber es müßte bei einiger Aufmerksamkeit dem Träumenden selbst wohl immer gelingen. Warum es meistens nicht gelingt? Es scheint bei Euch etwas Verstecktes in den Träumen zu liegen, etwas Unkeusches eigener Art, eine gewisse Heimlichkeit in Eurem Wesen, die schwer auszudrücken ist; und darum scheint Euer Träumen so oft ohne Sinn, sogar ein Widersinn zu sein. Es ist aber im tiefsten Grund durchaus nicht so; ja es kann gar nicht so sein, denn es ist immer derselbe Mensch, ob er wacht oder träumt".
Dies war aber unter Verzicht auf psychologische Terminologie dieselbe Erklärung der Traumentstellung, die ich aus meinen Arbeiten über den Traum entnommen hatte. Die Entstellung war ein Kompromiß, etwas seiner Natur nach Unaufrichtiges, das Ergebnis eines Konflikts zwischen Denken und Fühlen, oder, wie ich gesagt hatte, zwischen Bewußtem und Verdrängtem. Wo ein solcher Konflikt nicht bestand, nicht verdrängt zu werden brauchte, konnten die Träume auch nicht fremdartig und unsinnig werden. In dem Mann, der nicht anders träumte als er im Wachen dachte, hatte Popper jene innere Harmonie walten lassen, die in einem Staatskörper herzustellen sein Ziel als Sozialreformer war. Und wenn die Wissenschaft uns sagt, daß ein solcher Mensch, ganz ohne Arg und Falsch und ohne alle Verdrängungen, nicht vorkommt oder nicht lebensfähig ist, so ließ sich doch erraten, daß, soweit eine Annäherung an diesen Idealzustand möglich ist, sie in Poppers eigener Person ihre Verwirklichung gefunden hatte.
Von dem Zusammentreffen mit seiner Weisheit überwältigt, begann ich nun alle seine Schriften zu lesen, die über Voltaire, über Religion, Krieg, Allgemeine Nährpflicht u. a., bis sich das Bild des schlichten großen Mannes, der ein Denker und Kritiker, zugleich ein gütiger Menschenfreund und Reformer war, klar vor meinem Blick aufbaute. Ich sann viel über die Rechte des Individuums, für die er eintrat, und die ich so gerne mit vertreten hätte, störte mich nicht die Erwägung, daß weder das Verhalten der Natur noch die Zielsetzungen der menschlichen Gesellschaft ihren Anspruch voll rechtfertigen. Eine besondere Sympathie zog mich zu ihm hin, da offenbar auch er die Bitterkeit des jüdischen Lebens und die Hohlheit der gegenwärtigen Kulturideale schmerzlich empfunden. Doch habe ich ihn selbst nie gesehen. Er wußte von mir durch gemeinsame Bekannte und einmal hatte ich einen Brief von ihm zu beantworten, der eine Auskunft verlangte. Aber ich habe ihn nicht aufgesucht. Meine Neuerungen in der Psychologie hatten mich den Zeitgenossen, besonders den älteren unter ihnen, entfremdet; oft genug, wenn ich mich einem Manne näherte, den ich aus der Entfernung geehrt hatte, fand ich mich wie abgewiesen durch seine Verständnislosigkeit für das, was mir zum Lebensinhalt geworden war. Josef Popper kam doch von der Physik, er war ein Freund von Ernst Mach gewesen; ich wollte mir den erfreulichen Eindruck unserer Übereinstimmung über das Problem der Traumentstellung nicht stören lassen. So kam es, daß ich den Besuch bei ihm aufschob, bis es zu spät wurde und ich nur noch in unserem Rathauspark seine Büste begrüßen konnte.»
(Die Kenntnis dieses Artikels verdanke ich einem freundlichen Hinweis von Christoph Roos!)
Der Hinweis, daß es durchaus möglich
sei, ohne Traumentstellung zu träumen, ist bedenkenswert. Wenn es nicht zur
Traumzensur kommt, sei auch im Alltag nicht verdrängt worden! Damit schloß
Freud sich der Erklärung von Popper-Lynkeus an. Freud bedauerte es, dessen
Ansichten über die Rechte des Individuums nicht mit vertreten zu können,
weil seiner Auffassung nach «weder das Verhalten der Natur noch die
Zielsetzungen der menschlichen Gesellschaft ihren Anspruch voll rechtfertigen»
(Freud GW XVI: 265).
Die «Zielsetzungen
der menschlichen Gesellschaft» führen tatsächlich zur
Traumentstellung, das habe ich in den Zeiten höchster Beanspruchung an der
Universität am eigenen Leibe erfahren. Es fragt sich nur, welche
Konsequenzen aus dieser Einsicht zu ziehen sind, zumal es sich nicht übersehen
läßt, daß ohne Einbezug des Alltags keine Traumkohärenz möglich
ist. Wird diese Tatsache berücksichtigt, steht man vor der Entscheidung,
welcher Art des Träumens der Vorzug zu geben ist. Ob man sich für das
kohärente und damit auch das luzide Träumen entscheidet, hängt
davon ab, welcher Stellenwert den individuellen Bedürfnissen und
Erfahrungen gegenüber den gesellschaftlichen Forderungen zugesprochen wird.
Konvertierung zu HTML Juni 1999
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Zurfluh