Hans Peter Duerr Können Hexen fliegen? in: Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie Jg. 20 Nr. 2 1978:75-91 [] , in: Unter dem Pflaster liegt der Strand Bd.3 Berlin: Karin Kramer, 1976:55-82 {} (Ohne Anmerkungen und Literaturhinweise; ergänzend kommentiert von Werner Zurfluh) |
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Übersicht
Der Autor stellt die Frage,
ob ein Wissenschaftler Erfahrungen machen kann, deren adäquate Beschreibung
den Rahmen seiner Wissenschafts- und Umgangssprache sprengt, z. B. wenn er
versucht, zum Sabbat zu fliegen, sich in einen Werwolf zu verwandeln oder mit
Blumen zu sprechen. Und selbst wenn es ihm gelingen sollte, solche Erfahrungen -
etwa mit Hilfe von Metaphern oder auf zen-buddhistische Weise mittels Paradoxa -
annäherungsweise zu charakterisieren, wie verhält er sich, wenn es
mehrere Weisen gibt, diese Erfahrungen zu beschreiben, diese Beschreibungen sich
aber untereinander widersprechen? Der Autor ist der Auffassung, daß
Wissenschaftler, etwa Ethno-logen, Psychiater oder Parapsychologen, leicht in
ein Dilemma geraten können, in dem unsere Le-bensform keine glatten
Entscheidungen vorgesehen hat, und sie zu jenem Schwert greifen müssen, das
Alexander der Große in Gordion verwendet haben soll, wollen sie nicht,
falls sie das nötige Gleichgewicht aufbringen, wie die pyrrhonischen
Skeptiker auf dem Knoten tanzen.
wz: Alle Erfahrungen, die nachfolgend von H.P. Duerr beschrieben werden, können auch OHNE Drogen stattfinden. Bezüglich ihrer Beschreibung bestehen allerdings dieselben Probleme. Wenn es beispielsweise um die Schilderung eines luziden Traumes oder einer ausserkörperlichen Erfahrung geht, dürfte allemal der Rahmen gängiger Wissenschaftssprachen gesprengt werden. Nun wird in den Märchen, insbesondere den Zaubermärchen, seit jeher von jenen Dingen erzählt, mit denen sich die Wissenschaftssprache derart schwer tun. Wird Objektivität anstelle der (subjektiven) Erfahrungsgewissheit gesetzt, wird der Mensch gewungen, theoriekonform zu beschreiben und innnerhalb bestimmter Grenzen zu verbleiben, die von einem Paradigma vorgegeben werden.
Genuine innere Erfahrungen können mittels Amplifikationen an allgemein menschliche Erfahrungen angeschlossen werden. Die auf diese Weise sichtbar werdenden Parallelen verhindern ein Abgleiten in die scheinbare Einzigartigeit bzw. die Inflation. Das schlichte Erzählen (mythologein) erzeugt Gemeinschaftlichkeit, das krampfhafte Erklären hingegen erzwingt Konformität mit einem vorgegebenen System.
{56} Der Erinnerung an Prof. Ferdinand Herrmann
Der zur Familie der Nachtschattengewächse
gehörende Stechapfel Datura meteloides enthält einige
hochwirksame Alkaloide, vor allem Hyoscyamin, Atropin und Scopolamin. Hexen,
Schamanen und Zauberer verwenden ihn bei Einweihungsriten, wenn sie mit den
Geistern und Dämonen in Verbindung treten wollen oder wenn sie
beabsichtigen, eine verirrte Seele aus der Unterwelt zurückzuholen. Die
mexikanischen Indianer nennen ihn heute yerba del diablo, Teufelskraut,
und gebrauchen damit denselben Begriff wie die christlichen Dämonologen der
Renaissance. Während man früher die Auffassung vertrat, die Hexen der
Zigeuner hätten ihn nach Europa gebracht, glaubt man mittlerweile, er sei
von Entdeckungsreisenden aus Amerika importiert worden. Die Hexen des
Mittelalters benutzten vor- [76] züglich das
Schwarze Bilsenkraut, die Tollkirsche (Belladonna), den Blauen Sturmhut und
alkaloidhaltigen Krötenschleim zur Herstellung ihrer Salben für den
Flug zum nächtlichen Sabbat. Vom Sturmhut, der Aconitin, das stärkste
Gift der Pflanzenwelt, enthält, hieß es schon in der Antike, er sei
aus dem Geifer des Cerberus entstandrn, der die Tore zur Unterwelt bewacht.
Jean
de Nynauld beschreibt in seinem 1596 in Löwen erschienenen Buch De la
Lykanthropie, transformation et extase des sorciers drei Arten solcher
Salben. Die erste läßt einen glauben - nachdem man den Körper
bis zum Rotwerden eingerieben hat -, daß man in die Lüfte gehoben
worden sei (die mittelalterlichen Mystiker sprachen in einem solchen Falle von "Levitation"),
durch die zweite Salbe führt der Teufel die Hexen über Berg und Tal
zum Sabbat, und durch die dritte erfolgt die Umwandlung des Zauberers in einen
Werwolf, aber auch in Tiere von geringerer Gefährlichkeit wie Katzen und
Elstern. Vielleicht verwendeten die germanischen Berserker den Fliegenpilz (Amanita
muscaria), der nach Vermutungen einiger Forscher auch von den Mänaden
im Schwarme des Dionysos oder von den Mysten der Eleusinischen Mysterien
eingenommen wurde, um sich mit Demeter zu identifizieren, die nach dem Trank des
kykeon die Reise in den Hades angetreten hatte, um ihre geraubte Tochter
wiederzufinden.
Die amerikanische Ethnologin Barbara Myerhoff, der ein
mara'akame, ein Schamane der Huicholes, Ramon Medina Silva, hikuri
(Peyotl) zu essen gab, erzählt, daß sie sich bald darauf auf einem
riesigen Baum wiederfand, «dessen Wurzeln bis tief unter die Erde reichten
und dessen Äste jenseits der Sichtweite in den Himmel ragten. Dies war der
Lebensbaum, die {58} axis mundi
oder der Weltenpfahl, der die Schichten des Kosmos durchdringt, die Erde mit der
Unterwelt und dem Himmel verbindet und von dem aus die Schamanen zu ihren
magischen Flügen aufsteigen.» Plötzlich erblickte sie einen roten
Farbtupfer, der im Dunkel des Waldes umherhuschte. Der Tupfer kam näher,
und sie sah, daß es ein vibrierender Vogel war, der auf einem Felsen vor
ihr landete. «Es war Ramon, als Psychopomp, als papagenoartiger Halbmensch,
als magischer Vogel, vor Aufregung sprudelnd. Er führte mich zur nächsten
Episode, in der ein orakel und gnomenhaftes Wesen von makabrer Klebrigkeit
auftauchte. Ich stellte ihm die Frage, jene, welche mir die ganzen Monate nicht
aus dem Kopf wollte. 'Was bedeuten die Mythen?' Es gab mir mit
schleimiger Stimme, die mit einer tödlichen Unheimlichkeit verschmolz und
meine Ernsthaftigkeit verspottete, die Antwort: 'Die Mythen bedeuten - nichts.
Sie bedeuten sich selber...'»
Der - laut Newsweek -
peruaniscbe Völkerkundler Carlos Castaneda, der eigentlich nur Material für
eine ethnopharmakologische Dissertation suchte und auf diese Weise in immer nähere
Berührung mit einem Zauberer, einem brujo der Yaqui kam, schildert
seine Erlebnisse, nachdem er sich erstmalig mit dem Teufelskraut eingerieben
hatte:
[77] «Don Juan
starrte mich an. Ich ging einen Schritt auf ihn zu. Meine Beine waren gummiartig
und lang, extrem lang. Ich machte noch einen Schritt. Meine Kniegelenke fühlten
sich elastisch an wie eine Sprungstange. sie rüttelten und vibrierten und
zogen sich federnd zusammen. ich bewegte mich vorwärts. Die Bewegung meines
Körpers war langsam und bebend, sie war mehr wie ein Zittern nach vorne hin
und in die Höhe. Ich blickte hinunter und sah Don Juan unter mir, weit
unter mir sitzen. Der Schwung trug mich noch einen Schritt vorwärts, und
dann setzte ich ab. Ich erinnere mich, daß ich noch einmal runterkam, dann
stieß ich mich mit beiden Fußen ah, sprang rückwärts und
glitt auf meinen Rücken. Ich sah den dunklen Himmel über mir und wie
ich die Wolken hinter mir ließ. Ich rückte meinen Körper so
zurecht, daß ich hinuntersehen konnte. Ich blickte auf das schwarze Massiv
der Berge. Meine Geschwindigkeit war außerordentlich. Meine Arme lagen
fest an meinem Körper, und mit dem Kopf gab ich die Richtung an. Wenn ich
ihn zurückdrehte, bewegte ich mich in vertikalen Kreisen. Die Richtung änderte
ich, indem ich den Kopf zur Seite drehte. Ich erlebte solch eine Freiheit und
Schnelligkeit wie nie zuvor. Die wundervolle Dunkelheit erfüllte mich mit
Trauer, vielleicht mit Sehnsucht. Es war, wie wenn ich einen Ort gefunden hätte,
wo ich hingehörte - die Dunkelheit der Nacht. Ich versuchte um mich zu
blicken, aber alles, was ich wahrnahm, war, daß die Nacht klar war, und
doch war sie voller Macht. Plötzlich wußte ich, daß es Zeit
wurde, wieder hinunterzufliegen, es war, als ob ich einem Befehl ge-
{59} horchen mußte. Und ich
schwebte hinab wie eine Feder in Bewegungen nach jeder Seite.»
Der
Göttinger Volkskundler Will-Erich Peuckert, der zusammen mit einem Freund
nach einem Rezept aus Giambattista della Portas Magia naturalis eine
Hexensalbe aus Bilsenkraut, Stechapfel, Sturmhut, Tollkirsche und Mohn
hergestellt und eingerieben hatte, berichtet: «Vor meinen Augen tanzten zunächst
grauenhaft verzerrte menschliche Gesichter. Dann plötzlich hatte ich das
Gefühl, als flöge ich meilenweit durch die Luft. Der Flug wurde
wiederholt durch tiefe Stürze unterbrochen. In der Schlußphase schließlich
das Bild eines orgiastischen Festes mit grotesken sinnlichen Ausschweifungen.»
Auch
ein anderer deutscher Volkskundler, der sich eine ähnliche Hexensalbe zunächst
in der Herzgegend, dann auf der ganzen Brust eingeschmiert hatte, erzählt:
«Ich
schwebte mit großer Geschwindigkeit aufwärts. Es wurde hell, und
durch einen rosa Schleier erkannte ich verschwommen, daß ich über der
Stadt schwebte. Die Gestalten. die mich schon im Zimmer bedrückt hatten,
begleiteten mich auf diesem Flug durch die Wolken. Immer mehr kamen hinzu und
fingen an, um mich herum Reigen zu tanzen. Die Zeit kroch im Schneckentempo
dahin, und jede Minute währte eine Ewigkeit.»
[78] Und schließlich berichtet ein
amerikanischer Ethnologe: «Plötzlich stand ich vor einem großen
Spiegel, und als ich hineinschaute, starrte mich ein riesiger Jaguar an.
Gleichzeitig spürte ich den Jaguarkörper... Ich war IN diesem Körper
und ich fühlte ihn, so, wie ich meinen eigenen nie gespürt hatte. Und
obgleich ich anscheinend ganz jaguarhaft' geworden war, behielt ich noch
irgendein infinitesimales menschliches Bewußtsein.» Einige Stunden später,
als er sich wieder in einen Menschen zurückverwandelt hatte, schrieb er auf
ein Blatt Papier: «Hätte ich für jemanden, der mich gesehen hätte,
wie ein Jaguar ausgesehen? Irgendwie denke ich: ja. Aber ich fühle mich
jetzt verpflichtet, hinzuzufügen, ich hätte nur ausgesehen wie ein
dummer Ethnologe, den Halluzinogene aus seinem Gehirn geschossen hatten und der
wie ein Irrer auf dem Boden herumkrabbelte und idiotische Laute von sich gab.»
wz: Das Problem in diesem und in all den anderen Fällen besteht darin, sich mittels einer kritischen Zustandskontrolle seines Zustandes vollumfänglich bewusst zu werden, denn das Ich bleibt mit sich selbst identisch und kann nur sagen: "Ich bin der, der ich (immer) bin!" Es wäre ein fataler Irrtum, von einem "abaissement du niveau mental" oder von einem "veränderten Bewusstseinszustand" zu sprechen, denn die Kontinuität des Ich-Bewusstseins ist vorhanden und bleibt bestehen. Allerdings hat sich das Umfeld und auch die Körperlichkeit verändert! Dies kann dem Ich allerdings erst in dem Moment mit aller Deutlichkeit bewusst werden, wenn es darauf achtet bzw. gelernt hat, seine Gewohnheiten und damit auch sein Umfeld zu hinterfragen. Vor allem ist es notwendig, die Identifikation mit DEM Verständnis von Wirklichkeit aufzugeben, das vom Alltag her (meist 'automatisch') übernommen worden ist.
Die Frage, die sich einem Teil dieser Wissenschaftler unmittelbar nach ihren Erlebnissen aufdrängte und die sie in einer gewissen Verlegenheit zurückließ, war: Flogen oder verwandelten sie sich wirklich, oder bildeten sie sich lediglich ein, daß sie flogen oder sich verwandelten, oder hatten sie {60} unter dem Einfluß des Teufelskrauts und der anderen Drogen nur eine Halluzination, oder aber taten sie etwas, das sich einer Beschreibung mit Hilfe unserer Umgangs und Wissenschaftssprache schlicht entzieht? Müssen wir hier, in Analogie zu Wittgensteins «Und wenn ein Löwe spräche, wir könnten ihn nicht verstehen» sagen: «Und wenn ein Zauberer sich in eine Krähe verwandelte und flöge, wir könnten ihn nicht sehen»? «Setze also», schreibt Christoph Martin Wieland, «Zeus erschiene dir unter der Gestalt eines Stiers oder Schwans, so würdest du nicht IHN, sondern einen Stier oder Schwan sehen. Eben dasselbe würde geschehen, wenn Zeus oder Aphrodite sich dir unter menschlicher Gestalt zeigten: du würdest Menschen sehen, nicht Götter.» Begriffe «wie die des «sprechenden Löwen», des «verwandelten Zauberers» oder des sinnesfreudigen Zeus wären danach isolierte Elemente, also solche, die nicht «eingebaut» wären in einer Lebensform, die diesen Elementen erst einen Sinn gäbe . «Ich habe mich in eine Krähe verwandelt» - das wäre die Schraube eines Mechanismus, die sich drehte, ohne irgendeinen anderen Teil des Mechanismus mitzudrehen. Wir hätten bestenfalls die Illusion eines Sinnes, weil wir nicht überblickten, wie solche Sätze verwendet würden, wie sie in eine Lebensform «eingriffen», in anderen Worten, welchen Unterschied es machte, ob man derartige Sätze äußerte oder nicht. So wie sie dastehen, wären sie auf alle Fälle noch «otios», vergleichbar gewissen Sätzen der metaphysischen oder theologischen Tradition. Und auf die Frage: Engel - gibt's die? - ließe sich nur antworten: wen?
wz: Falls erkannt wird, dass die BK 'invariant' ist, aber die Umgebungsvariablen sich andauernd ändern, wandelt sich die 'eindimensionale Transformationsgleichung', die sich in der Frage "Flogen oder verwandelten sie sich wirklich, oder bildeten sie sich dies lediglich ein ..." äussert, in eine multidimensionale Form. Ein fliegender Zauberer kann nämlich von einem anderen Zauberer problemlos gesehen werden, wenn dieser andere sich in demselben Zustand befindet oder gelernt hat, über den Rand der Alltagswirklichkeit hinauszusehen - und in mehreren Wirklichkeitsebenen zugleich zu leben vermag. Dies wäre dann eine Form der 'Bilokation' über mehrere Ebenen hinweg. Die Grenzen werden sozusagen durchsichtig.
Daß es einen solchen Gebrauch geben
kann, hätte Wittgenstein wohl nie bestritten. Was er
hingegen in Frage stellt, das ist der Sinn einer Übertragung, einer Übersetzung,
der Verpflanzung fremder Sinnelemente in unseren eigenen (wz: eindimensionalen) Lebenszusam-
[79] menhang. Der englische Ethnologe
Radcliffe-Brown pflegte von den viktorianischen Ethnologen zu sagen, sie seien
nach der Maxime vorgegangen: «Wenn ich ein Pferd wäre,
dann würde mir das Gras nicht schmecken.»
Verstehen wäre
danach etwas ganz anderes als Übersetzen, es wäre nicht die Zurückführung
des Fremden auf ein Bekanntes, keine anamnesis, vielmehr das Ergebnis
der lnitiation in eine fremde (wz:
multidimensionale) Lebensform.
Eine solche lnitiation
beabsichtigten etwa die indianischen Zauberer mit Castaneda und Barbara
Myerhoff. Sie versuchten weniger, den Ethnologen neue, unerhörte Ereignisse
zu zeigen, vielmehr sie von einer bestimmten Betrachtungs- und Wahrnehmungsweise
abzubringen. Das Teufelskraut hatte dabei vor allem die Aufgabe - und einige
Ideologen wie beispielsweise Tlimothy Leary scheinen das niemals verstanden zu
haben - die Seele frei von Vorurteilen und damit bereit zu machen für
das SEHEN. (wz: Das
'Sehen' geht weit über die gewohnte Alltagswahrnehmung hinaus und
schliesst andere Ebenen (z.B. anderweltliche) mit ein.). Das
Teufelskraut ist nur ein Weg, EIN Weg unter vielen. Ein Weg in
den lnitiationstod. (wz: Das im Netz der
bekannten (Alltags-) Welt gefangene Ego stirbt, das alte Ich erleidet
den Tod.). Doch der Tod hat keine Geheimnisse. Im Siebenten
Siegel Ingmar Bergmans heißt es: «Der Tod ist unwissend.»
Auf die Frage Castanedas, warum er ihm denn gerade solche «power plants»
gegeben habe, antwortete der Indianer: «Weil Du blöd bist!»
{61} Und, so verhielt er sich nicht wie ein
Philosophie-Professor, sondern eher wie die Zen-Buddhisten, die ihren Jüngern
auf die Frage nach dem Wesen der «nicht-entzweiten Wirklichkeit» die
Nase herumdrehen oder sie ins Wasser stoßen.
«Ich wollte ihn
noch etwas fragen. Ich wußte, daß er ausweichen würde, darum
wartete ich, bis er das Thema anschnitt. Ich wartete den ganzen Tag. Bevor ich
an diesem Abend wegfuhr, mußte ich ihn schließlich fragen: «Bin
ich wirklich geflogen, Don Juan?»
«Das hast Du mir doch gesagt,
oder nicht?»
«Natürlich, Don Juan. Ich meine, ist mein Körper geflogen?
Bin ich wie ein Vogel davongeflogen?»
«Du stellst mir immer Fragen, die ich nicht beantworten kann. Du bist
geflogen. Dafür ist ja der zweite Teil des Teufelskrauts da. Wenn Du öfter
davon nimmst wirst Du das Fliegen ganz beherrschen. Es ist keine so einfache
Sache. Ein Mensch FLIEGT mit Hilfe des zweiten Teils des Teufelskrauts. Das ist
alles, was ich Dir sagen kann. Was Du wissen willst, hat keinen Sinn. Vögel
fliegen wie Vögel, und ein Mensch, der Teufelskraut genommen hat, fliegt
auch so (el enyerbado vuela asi).»
«Wie die Vögel fliegen? (Asi como los pajaros?)»
«Nein, er fliegt wie ein Mensch, der das Kraut genommen hat (no, asi
como los enyerbados).»
«Dann bin ich nicht wirklich geflogen, Don Juan. Ich bin in meiner
Vorstellung geflogen, nur in Gedanken. Wo war mein Körper?»
«In den Büschen», erwiderte er scharf, aber gleich begann er
wieder zu lachen. «Die [80] Sache
mir Dir ist, daß Du die Dinge nur auf eine Art verstehst. Du glaubst
nicht, daß ein Mensch fliegt. Und doch kann ein brujo in
Sekundenschnelle tausend Meilen zurücklegen, um zu sehen, was vor sich
geht. Er kann seinen Feinden auf große Entfernung einen Schlag versetzen.
Nun, fliegt er also, oder fliegt er nicht?»
«Wirklich, Don Juan,
Du und ich, wir sehen die Dinge verschieden. Angenommen, um nur ein Beispiel zu
nennen, einer, mit dem ich studiere, wäre hier bei mir gewesen, als ich das
Teufelskraut nahm. Wäre es ihm möglich gewesen, mich fliegen zu sehen?»
«Da
bist Du wieder mit Deinen Fragen, was würde geschehen wenn... Es hat keinen
Sinn, so zu reden. Wenn Dein Freund oder irgend jemand anderes den zweiten Teil
des Krautes nimmt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu fliegen. Wenn er
Dich also nur beobachtet hätte, so hätte er Dich vielleicht fliegen
sehen oder auch nicht. Das hängt von ihm selber ab.»
«Aber
ich meine, Don Juan, wenn Du und ich einen Vogel fliegen sehen, dann sind wir
uns darüber einig, daß er fliegt. Aber wenn zwei meiner Freunde mich
hätten fliegen sehen, wie {62} ich
es heute nacht tat, hätten sie dann beide geglaubt, daß ich geflogen
bin?»
«Ja, vielleicht. Du glaubst, daß Vögel fliegen,
weil Du gesehen hast, wie sie fliegen. Fliegen ist eine bekannte Sache bei Vögeln.
Aber Du stimmst nicht anderen Dingen zu, die Vögel tun, weil Du sie niemals
bei Vögeln gesehen hast. Wenn Deine Freunde von Menschen wüßten,
die mit dem Teufelskraut fliegen, dann wären sie sich einig.»
«Ich
will's noch anders ausdrücken, Don Juan. Ich wollte sagen, wenn ich mich
mit einer schweren Kette an einem Felsen festgemacht hätte, wäre ich
dann genauso geflogen, weil mein Körper nichts mit meinem Fliegen zu tun
hatte?»
Don Juan sah mich kopfschüttelnd an. «Wenn Du Dich an
einen Felsen kettest», sagte er, «dann, so fürchte ich, wirst Du
mit einem Felsen an seiner schweren Kette fliegen müssen.»
wz: Wird der materiellen Wirklichkeit Ausschliesslichkeit zugesprochen, muss alles und jedes in das 'physisch-physikalische' System reinpassen. Dies führt zu Erklärungsversuchen, bei denen sowohl jede Art von Erfahrungsgewissheit wie auch die Multidimensionalität prinzipiell ausgeschlossen wird. Geschieht dies nicht, müsste das herrschende Weltbild zusammenbrechen und ein Paradigmenwechsel würde erzwungen. Castaneda versucht - wie viele andere auch -, Multidimensionalität auf Eindimensionalität zu reduzieren.
Das Problem Castanedas ist also: Wie soll er das
Erlebnis, das er hatte, interpretieren? Einerseits scheint klar zu sein, daß
er nicht geflogen ist in der Weise, wie das die Vögel tun, vielmehr asi
como los enyerbados, so, wie eben einer fliegt, der sich mit Teufelskraut
eingerieben hat . Doch damit ist nicht viel gesagt. Denn was sollen wir in
diesem Falle unter «fliegen» verstehen? Für die meisten
Wissenschaftler, die unserer Zivilisation angehören, wäre es sicher
ein leichtes, hierauf zu antworten. Für sie ist ein Voodoo-Priester nicht
von einem fremden Geist besessen, vielmehr leidet er unter einer «Persönlichkeitsdissoziation»,
oder er stellt einen interessanten Fall von «multipler Persönlichkeit»
dar, wie ihn der Psychopathologe Morton Prince beschrieben hat. In diesem Sinne
behauptet etwa ein bedeutender Vertreter der Ethnopsychiatrie, Georges Devereux:
«Primitive religion and in general [81]
quaint' primitive areas are organized schizophrenia.» Danach hätten
die zitierten Ethnologen und Volkskundler nur die Vorstellung gehabt, sie flögen,
Opfer von Halluzinationen, die sie als solche nicht durchschauten. Zu einer
derartigen Auffassung gelangten bereits in der Renaissance einige Erforscher des
Hexenwesens, vor allem Giambattista della Porta Neapolitanis. Hatte noch im
Jahre 1508 der bekannte Fastenprediger Johann Geiler von Kaisersberg gepredigt:
«Das
ist eine gewisse regel in der matery / das der teuffel kan ein ding von einem
ort in das ander tragen / das leiplich ist (per mutum localem) / durch die
angeschöpffte stercke / die er hat von got dem allmechtigen. Daher kummet
es / das ein böser geist kan einen grossen felsen ertragen als ein fögelin.
Deher kummet es / wan ein hex uff ein gabel sitzt und saibet die selbig und
spricht die wort / die sie sprechen so! / so fert sie dan dahin / wa si numen
will ...»,
so berichtet Porta in seiner Magia naturalis:
{63}«Als ich nun solchen dingen mit
gantzem fleiß ein scharpffes nachgedencken hat (denn daß ich eben
die warheit bekenn vo verjähe / so hab ich selbst in der sach gezweifelt)
ist mir eine alte Vettel an die hand gestossen (dere nemlich eine / welche in
Lateinischer Zungen einem Nachtuogel nach / dieweil sie / als man vermeint / den
jungen kindern nächtlicher weise das Blut außsaugen / Stryges genent
werden) die hat mir freywilliglichen zugesagt vnnd versprochen / sie wölle
mir in eyl vber meine frage guten bescheid bringen / Heisset derbalben mich vn
alle di so bey mir waren / hinauß gehen. Nach dem sie nun außgezoge
/ hat sie sich gantz vnd gar / ich weiß nicht mit was Salbe / geschmieret
/ welches vns den durch ein spaltlein der Thüren wol ist zusehen gewest.
Also ist sie auß krefftiger wirckung der schlaffendmachenden Salben zu
boden gefallen / vnnd in einen tieffen schlaff versuncken. Wir aber sind
zugefahren / die Thür geöffnet / vnd jr die haut ziemlich erbehrt.
Aber so bert hat sie geschlaffen / daß sie es nit vmb ein haar empfunden
hette. Nach solchem sind wir widerumb hinauß gewichen / der sachen weiters
außwarten wölle. So bald nun der salbung krafft nachgelassen / ist
sie eins mals erwachet / vnd viel seltzamer stemponeyen / wie sie vbcr Berg vnd
thal gefahren sey / erzehlet. Wir venneineten es / sie wolt recht haben / wir
wiesen jhr die streich / aber es war verlorn / in summa / es war bey jhr all
vnser fünncmen vnd handeln / nicht anderst / denn als der in einen kalten
Ofen blast.»
Wie will man freilich a priori ausschließen, daß
ein Erlebnis wie das Castanedas, innerhalb einer anderen Lebensform, etwa der
indianischen Zauberer, sibirischer Schamanen oder mittelalterlicher Hexen, einen
ganz anderen «Stellenwert», also eine ganz andere Bedeutung hat? Eine
Bedeutung, die zu verstehen darauf hinausliefe, eine langwierige, dramatische
und vor allem gefährliche Initiation durchzumachen, aus der ein abendländischer
Ethnologe wohl kaum mehr als derselbe zurückkehren dürfte? Man sollte
hier vielleicht nicht so weit gehen eine prinzipielle
[82] Inkommensurabilität der
Beschreibungen zu behaupten, die der Indianer einerseits, der Ethnologe
andererseits geben. Denn eine solche RADIKALE Unvergleichbarkeit hätte zur
Folge, daß gar nicht mehr gesagt werden könnte, man habe ganz
verschiedene Beschreibungen derselben Sache, desselben Erlebnisses vor sich,
also in unserem Falle dessen, was in der einen Sichtweise eine bestimmte
Erfahrung der Wirklichkeit, in der anderen eine von der Psychologie zu erklärende
Halluzination darstellt. Den verschiedenen Lebensformen entsprächen im
wortwörtlichen Sinne verschiedene Wirklichkeiten, die sich in jenen «zeigten»,
um diesen Wittgensteinschen Begriff zu verwenden. Bestimmte zudem jedes Weltbild
vollständig die Erfahrung, dann spräche jedes Weltbild letzten Endes
nur über sich selber und wä- {64}
re, wie Adorno von der «Identitätsmetaphysik» sagte, ein «einziges
riesiges analytisches Urteil». Tat tvam asi.
Viel eher scheint
hier das Wittgensteinsche Bild des Fadens angebracht zu sein: Wie sich die
Fasern eines Fadens überlappen, ohne daß sich ein Faden durch den
Faden zöge, der die einzelnen Fasern miteinander verbände, so überlappen
sich wohl die verschiedenen Lebensformen, ohne daß es eine Meta-Lebensform
geben müßte, die den letzten Grund der einzelnen Weltbilder abgäbe.
Um
die Unterschiede zwischen Welterfahrungen deutlich zu machen, hatte sich bereits
der amerikanische Philosoph und Flieger Norwood Russell Hanson des
Wittgensteinschen «Entenhasen», des «gestaltswitchs»
bedient. Auf den ersten Blick sehen wir, vielleicht wenn wir gerade Ostern
haben, einen Hasen, auf den zweiten eine Ente. Die Zeichnung hat sich nicht geändert.
Geändert hat sich, was wir sehen. Und nun können wir schlecht sagen:
Aber IN WIRKLICHKEIT ist es ein Hase, die Ente ist nur eine Illusion. Gibt es
eine Antwort auf die Frage: «Aber was ist es nun wirklich?» Nun, so könnte
man erwidern, es ist etwas, das wir als Hasen und als Ente sehen können.
Aber natürlich sahen wir zunächst einen Hasen und dann eine Ente oder
umgekehrt. ALS Hasen oder ALS eine Ente sehen wir es eventuell erst dann, wenn
wir beide Aspekte gesehen haben. Wenn wir andere Menschen sehen, dann sehen wir
keine Körper ALS Menschen, vielmehr sehen wir Menschen. In Wirklichkeit ist
dies eben ein - Entenhase.
Sahen Tycho de Brahe und Kopernikus, als sie
auf die Sonne blickten, etwas Verschiedenes, weil sie verschiedene
wissenschaftliche Ansichten über diesen Hirnmelskörper hatten? In
anderen Worten: Bezogen sich Tycho und Kopernikus auf zwei verschiedene Gegenstände?
Es schiene etwas weit hergeholt, wollte man diese Frage bejahen. Sagten wir von
jemandem, der auf die Sonne blickt und dabei nicht WEISS, daß er auf die
SONNE blickt, er sehe deshalb nicht die Sonne, so hätte es kaum einen
Sinn, auf die Sonne zu deuten, um dem Betreffenden zu erklären, daß
dies die Sonne mit den und den Eigenschaften sei.
Es ist klar, daß
ein Laie für gewöhnlich nicht weiß, daß er einen so und so
bestimm- [83] ten Vorgang in einem
physikalischen Laboratorium sieht. Aber wir - oder genauer gesagt der Physiker -
wissen bzw. weiß es. Mag sich auch die Wahrnehmung des Laien von der
Wahrnehmung des Physikers unterscheiden - ein solcher Unterschied ist ja die
Bedingung einer wissenschaftlichen Reduktion - so werden wir trotzdem
sagen, daß beide denselben Vorgang sehen.
wz: Dabei ist zu bedenken, dass ein solcher "Vorgang" nur als Idee existiert - und zwar von dem Augenblick an, in dem sich alle an einer Beschreibung beteiligten Personen auf eine bestimmte 'verabsolutierende Extrapolation' bzw. eine 'einschränkende Sichtweise' einigen können. So sind beispielsweise fluktuierende Randbedingungen und sich andauernd wandelnde Grössenverhältnisse - und auch Ebenenüberlappungen - auszuschliessen. - Letztlich geht es darum, den KONTEXT zu erfragen und nicht ein "Ding an sich".
{65} Nun
mag man dies für das historische Beispiel aus unserem eigenen Kulturkreis
zugestehen und davon reden, daß beide denselben Gegenstand sehen. Aber
was, so ließe sich fragen, entspricht der Sonne im Falle unseres Beispiels
des Fluges und der Halluzination des Fluges?
Eines scheint wiederum
deutlich zu sein: Fragt der indianische Zauberer den Ethnologen während der
Initiation, was er erlebt habe, so weiß er, daß sich Castaneda auf
etwas bezieht, das er, Castaneda, für eine Halluzination und er selber für
Wirklichkeit hält. (wz: Castaneda hat
GELERNT, dass gewisse Erlebnisse als HALLUZINATORISCH zu betrachten sind.)
Aufgrund
welcher Kriterien aber können wir entscheiden, wer recht hat? Denn - so
wird man sagen - ein Erlebnis kann zwar in dieser und in jener Weise beschrieben
werden, aber es kann nicht zugleich eine Halluzination und eine
Wirklichkeitserfahrung sein, wenn der Begriff «Halluzination» im
Gegensatz zum Begriff der «Wirklichkeitserfahrung» definiert ist! Zu
Beginn der dreißiger Jahre hatte der polnische Logiker K. Ajdukiewicz eine
These wiederholt, die schon Salomon Maimon im 18. Jahrhundert gegen das
Unternehmen einer «transzendentalen Deduktion» vorgebracht hatte, daß
nämlich «alle Urteile, die wir annehmen und die unser ganzes Weltbild
ausmachen, durch die Erfahrungsdaten noch nicht eindeutig bestimmt (seien),
sondern von der Wahl der Begriffsapparatur ab(hingen)». Anders ausgedrückt:
Unsere Auffassungen von der Wirklichkeit sind durch die Wirklichkeit «unterdeterminiert»
- die Erfahrung sagt nicht von sich selber, WAS sie sei, ein Erlebnis sagt nicht
über sich selber aus, daß es eine Halluzination oder keine sei. Die
Erfahrung kann also danach selber nicht als Richterin auftreten. Aber stoßen
wir hier nicht auf ein falsches Modell der Beziehung von Sprache und
Wirklichkeit - als ob die Wirklichkeit eine chaotische Masse wäre, die von
der Sprache erst gestanzt werden müsse? WIE die Wirklichkeit ist, können
wir vielleicht sagen, zeigt sich in unserer Lebensform. Erfahrung ist Erfahrung
in IHR. In ihr ist Tag, und jenseits von ihr ist Nacht. Aber es gibt auch einen
Bereich der Dämmerung, es gibt die Grenze, den Zaun, den Hag. Hagasuzza hieß
im Mittelalter die Hexe: die, die auf dem Zaun reitet.
Was die
Erfahrungen von Zauberern und Hexen angeht, so wird der verwegenere Teil der
Ethnologen und Volkskundler, der bei den Hexen in die Lehre geht, kaum jenen
Kritikern Feyerabends recht geben können, die der Auffassung sind, der
Hexenglaube sei doch wohl deshalb verschwunden, weil solche «Flüge»,
«Tierverwandlungen» usw. eben nicht zu den «stabilen»
Erfahrungen gehörten, sondern [84]
"Gebilde, wenn nicht des Wahns, so doch der 'Theorie'» seien. Wenn
einen auch die Behauptung Feyerabends, es habe im Mittelalter Menschen gegeben,
die «die subjektiv und obektiv beglaubigte Fähigkeit besaßen,
sich in Tiere zu verwandeln» auf dem Trockenen läßt, weil er
nicht auf die Frage eingeht, was denn unter dem Begriff «Verwandlung»
zu verstehen (oder zumindest: NICHT zu verstehen) ist, so scheint es auf alle Fälle
richtig zu sein, daß es die Hexen mit «stabilen» Phänomenen
zu tun hatten.
Setzen wir in unserem Falle voraus, daß der
Zauberer und der {67} Ethnologe eine
residuale Erfahrung und «some residual DESCRIPTIVE language»
gemeinsam haben - der Ethnologe also nicht die «logische Grammatik»
von Begriffen verwechselt wie jener, der glaubte, die Begriffe «Hähnchengrill»
und «Fegefeuer» bezögen sich auf vergleichbare Gegenstände
- so läßt sich aufgrund dieser ERFAHRUNG SELBER keine
Entscheidung darüber treffen, welche Beschreibung nun die wahre sei.
Vielleicht liegt dann ein Fall vor, den in der Antike die pyrrhonischen
Skeptiker sahen, die allerdings den Fehler begingen, ihn zu verallgemeinern und
zu sagen, daß bei JEDEM Urteil genausoviel dafür wie dagegen
spreche.
Austin hat einmal darauf hingewiesen, daß es auch in der
Umgangssprache bisweilen solche Fälle der Unentscheidbarkeit gibt. So gebe
es beispielsweise Gründe, die Erinnerung, aber auch die körperliche
Kontinuität als Kriterium der persönlichen Identität
anzuerkennen. Und so könnten sich ohne weiteres Grenzfälle - etwa
Kafkas Gregor Samsa - ergeben, in denen es unmöglich wäre, sich
eindeutig dafür zu entscheiden, ob dies nun derselbe oder schon ein anderer
sei. Das Wichtige daran ist wiederum, daß diese Unentscheidbarkeit nicht
durch eine Unkenntnis der relevanten Tatsachen zustande kommt. «Nur in
normalen Fällen», schreibt Wittgenstein, «ist der Gebrauch der
Worte uns klar vorgezeichnet; wir wissen, haben keinen Zweifel, was wir in
diesem oder jenem Fall zu sagen haben. Je abnormaler der Fall, desto
zweifelhafter wird es, was wir hier nun sagen sollen.» Vielleicht meinen
die amerikanischen Philosophen Quine und Kuhn etwas ähnliches, wenn sie
sagen, daß im Falle verschiedener Weltbilder die Wahrheitsfrage mitunter
nicht entschieden werden könne, und manchem Ethnologen mag es mitunter so
gehen wie demjenigen, der sich auf seinem ersten LSD-Trip die Frage stellt, ob
er nun auf dem Trip oder zum erstenmal in seinem Leben vom Trip runtergekommen
sei.
«'Nein!' schrie Shwarzhaar auf, 'mein Kopf ist wie eine
Schale, die überläuft. Laß uns das Ziel erreichen, ehe mich die
Angst erwürgt!' 'Ziel?' lachte da der oberste Herrscher, 'hier gibt es kein
Ziel, weder einen Anfang noch ein Ende. Aber in Deinem Mund steckt noch ein Stück
vom Schwanz der Gefiederten Schlange der Zeit!' 'Was soll ich mit diesem
Schwanzende tun?' fieberte Schwarzhaar. 'Stoß es aus!' 'Das ist meine
Zunge!' wehrte sich Schwarzhaar. 'Darum!' sagte der Herrscher, 'sie formt Worte,
die hier nichts mehr gelten und Dir Angst bereiten!'» (wz: Die gewohnten (Alltags-) Vorstellungen werden
projiziert.)
[85]
Angenommen wir akzeptierten diese Schlußfolgerung - wäre dies nicht
eine Art ethnologischer oder philosophischer Sündenfall? Denn, so hat man
geltend gemacht, zum Kriterium für Erkenntnis tauge nur etwas, von dem man
nicht zumal meinen könne, «es stehe frei, sich je nach Handlungszielen
dafür oder auch dagegen zu entscheiden». Von Erkenntnis könne man
nur dort reden, wo man sich «der Freiheit, es für so oder an-
{68} ders beschaffen zu halten, beraubt»
sehe.
Ich möchte sagen: ja, das ist der Sündenfall. Der
russische Anarchist Michail Bakunin sagte freilich einmal, der Sündenfall
sei ja gar nicht so schlimm. Im Gegenteil, er sei die Geburtsstunde der
Menschheit. In anderen Worten: warum sollte unsere Erkenntnis so keimfrei sein?
Können wir uns nicht leicht vorstellen, daß wir etwas für eine
wohlbegründete Erkenntnis halten, OBGLEICH wir die Grenzen dieser
Erkenntnis abschätzen können? Das muß nicht gleichbedeutend
damit sein, daß wir, wie es die alten Ägypter taten, auf einer Reise
sofort die Götter der fremden Stadt anbeten. Doch wir sollten uns einer
solchen Möglichkeit auch nicht von vornherein begeben. (wz: Die BK (Ich-Bewusstseinskotinuität) ermöglicht
sowohl die Anpassung an ein System als auch die Relativierung irgend einer
Wirklichkeit.)
Aber gibt es keine logische Grammatik, die
die Grenzen festlegt, innerhalb DEREN nur sinnvollerweise behauptet und
bezweifelt werden kann? «Die Farben Grün und Blau können nicht
gleichzeitig an derselben Stelle sein.» Dies ist ein Mustersatz für
Unbezweifelbarkeit in der philosophischen Tradition bis Wittgenstein. «Ich
kann mir das Gegenteil nicht vorstellen», schreibt Wittgenstein, «heißt
hier natürlich nicht: meine Vorstellungskraft reicht nicht hin. Vielmehr
wehren wir uns mit diesen Worten gegen etwas, was uns durch seine Form einen
Erfahrungssatz vortäuscht, aber in Wirklichkeit ein grammatischer Satz
ist... » Aber ist diese Grammatik vergleichbar einem Flußlauf, der
sich tief in Granit eingefressen hat, so daß die Landschaft ertrinken würde,
sollte der Granit einst brechen? Eine solche Katastrophe befürchtete
Wittgenstein zeit seines Lebens, und die Schatten des Wahnsinns trieben ihn zur
Philosophie. «Man könnte einem», schreibt er, «der gegen die
zweifelsfreien Sätze Einwände machen wollte, einfach sagen 'Ach
Unsinn!' Also nicht ihm antworten, sondern ihn zurechtweisen.» Nun ist
freilich jener Farbsatz, den Wittgenstein als Beispiel anführt, nicht
apriori WAHR, sondern a posteriori FALSCH, wie psychologische, also empirische
Forschungen nachweisen. Unter gewissen Bedingungen schlafen zwar nicht gerade
colourless green ideas furiously, aber wir können Grün und Blau zum
selben Zeitpunkt an derselben Stelle sehen, auch wenn es uns schwerfallen mag,
dies vorzustellen. Zwar bleibt es sicherlich immer noch irreführend, eine
logische Grammatik mit einer wissenschaftlichen Theorie zu vergleichen. Aber es
zeigt sich, daß eine solche Grammatik an Erfahrungen, die wir machen,
scheitern kann. Und an dieser Stelle zeigt sich auch das, was der indianische
Zauberer bezüglich Wittgenstein zu Castaneda sagte: «Er hat sich den
Strick zu eng um den Hals gelegt, nun kann er nirgends mehr hin.» In
anderen Worten:
[86]Ziehen wir
die Maschen der Gramnatik zu eng, denken wir zuwenig lässig, zu «straight»,
glätten wir die ausgefransten Stellen unserer Lebensform, «auf daß
nur keiner», wie Homer sagt. «vom Lotos essend vergäße der
Heimat», dann hören wir nicht einmal mehr die Stimme, die uns sagt: «Der
große Pan ist tot.»
Intellektuelle, die sich trotz ihres
Studiums eine bewegte Phantasie bewahrt haben, mögen vielleicht der Meinung
sein, daß sich Lebensformen leicht wandeln können oder daß es
sich in verschiedenen Lebensformen leicht wandeln läßt, und einige
denken sich möglicherweise, sie könnten so leicht eine Hexe werden,
wie sie früher einmal Marxist geworden sind. «An absolute
presupposition», stellte indessen einmal Collingwood fest, «is not a
'dodge', and people who 'start' a new one do not start it because they 'like' to
start it ... Such a change ... cannot be a matter of choice. Nor is there
anything superficial or frivolous about it. lt is the most radical change a man
can undergo, and entails the abandonment of all his most firmly estabhished
habits and standards for thought and action.» Wie später die
analytischen Theologen und Philosophen nennt Collingwood als ein Beispiel für
eine solche «absolute presupposition» den christlichen Glauben an
Gott, der nicht der Glaube an irgendeine beobachtbare oder der Beobachtung
entzogene Wesenheit sei, sondern eine Weise, in der religiöse Menschen die
Welt sehen. «He will probably blow up right in your face ...» ist nach
Collingwood die Reaktion der meisten, deren «absolute presuppositions»,
deren logische «Grammatik», um mit Wittgenstein zu reden, in Frage
gestellt werden.
«'Wie beschützt Mescalito die Menschen?'
fragte Castaneda den Zauberer.
'Er gibt Rat. Er beantwortet alle Fragen,
die Du ihm stellen magst.'
'Dann ist Mescalito also real? Ich meine, er ist
etwas, was man sehen kann?' Er schien durch meine Frage vor den Kopf gestoßen
zu sein. Mit bestürztem Ausdruck sah er mich an. 'Was ich sagen wollte,
ist, daß Mescalito...'
'Ich habe wohl gehört, was Du gesagt hast. Hast Du ihn gestern abend
nicht gesehen?'
Ich war versucht, ihm zu sagen, daß ich nur einen Hund gese-
{69} hen hatte, aber ich bemerkte sein
verblüfftes Gesicht. 'Dann glaubst Du also, daß das, was ich gestern
abend sah, ER war?'
Don Juan blickte mich mit Geringschätzung an. Er gluckste in sich
hinein, schüttelte den Kopf, als ob er's nicht glauben könne, und fügte
in einem herausfordernden Ton hinzu: 'A poco crees que era tu - mama?' ('Sag
mir bloß nicht, Du glaubst, es war Deine Mama!')»
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Duerr
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